Holy shit!
Dass es bei der heutigen Veranstaltung im kleinen Saal des Quedlinburger Theaters interessant werden würde, das war keine Überraschung, aber dass es so abgeht…
Der Reihe nach: Die Landeszentrale für politische Bildung hatte eingeladen. Der Publizist Andreas Speit stellte sein Buch „Völkische Landnahme – Alte Sippen, junge Siedler, rechte Ökos“ vor. Die Plätze im Saal mussten noch erweitert werden, kein Wunder, haben wir das Problem ja vor der Haustür.
Eine gute halbe Stunde vor Beginn war schon gut die Hälfte der Plätze besetzt. Und einer davon tatsächlich vom „Volkslehrer“, der bis zum Ende des Vortrags als einziger seinen Atemschutz aufbehielt. Erkannt wurde er natürlich trotzdem sofort. Die Kamera hatte er unter dem Sitz verstaut, auf seinem übergeschlagenen Bein lagen Block und Kuli bereit. Es galt wohl, sich die wunden Punkte zu notieren, um dann gleich als erster Fragensteller den Diskurs zu verschwurbeln.
Bereits zu Beginn macht Herr Speit mehr als deutlich, dass es bei dieser Informations-veranstaltung eben nicht um eine politisierende Pauschalisierung alternativer Lebensge-meinschaften gehen soll. Den Blick und das Gehör seines Publikums richtet er auf die Gefährdungen, die von einzelnen Personen innerhalb dieser ausgeht. Vor allem dann, wie er überdeutlich darlegt, wenn es zu einer Vernetzung (auch ins rechtsextreme Milieu) dieser Personen kommt, und wenn diese dann auf der politischen Ebene wirken wollen (in Stadt- und Gemeinderäten zum Beispiel), wo sie dann als antidemokratische Kräfte natürlich nur das Ziel verfolgen, genau diese Demokratie von innen heraus zu schwächen. Auskennern ist natürlich vieles davon bekannt, es gibt einiges stilles Kopfnicken. Aber auch bereits auffälliges Getuschel, im ganzen Raum verteilt.
Nach einer guten Dreiviertelstunde wird dann die Gesprächs- und Fragerunde eröffnet. Auftritt Nicolai Nerling, der Arm wird immerhin noch anstandshalber gehoben, die Moderatorin nimmt das Angebot zur Selbstentblödung nicht ohne ein wenig Schaden-freude an (vermute ich). Worin genau der Autor denn nun die Gefahr sehe, vor der er am Anfang ja gewarnt habe, Herr Nerling selbst habe davon im Vortrag gar nichts gehört. Herr Speit antwortet ohne mit der Wimper zu zucken, dass ihm, Herrn Nerling, als Holocaustleugner, da natürlich nichts auffalle, sei ihm wohl bewusst. Vereinzeltes Kichern. Dennoch erklärt er noch einmal geduldig, was ich weiter oben beschrieben habe. Nerlings Nachfrage, im Grunde noch mal die selbe, versandet schnell, denn es gibt schon die nächsten Wortmeldungen.
Eine junge Frau erhebt sich in der Mitte des Publikums. Auf die Rückseite ihres hellgrauen T-Shirts ist ein Teil des Rütlischwurs aus Schillers Tell gedruckt: „Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern. (…) Wir wollen frei sein wie die Väter waren. (…) Wir wollen trauen in den höchsten Gott.“ Es ist mehr als bezeichnend, dass die Hälfte des Zitates fehlt… Und die junge Frau hat natürlich keine Frage. Sie findet es nämlich einfach nur schlimm(!), wie hier pauschal Menschen verurteilt würden, und sogar diffamiert! Sie werde Anzeige wegen Volksverhetzung erstatten! Sie hat sogar den ganzen Paragraphen mit!! Und sie liest ihn auch noch komplett vor!!! Dem Großteil der Anwesenden steigt die Schamesröte bis über die Ohren. Aber nicht genug. Es kommt, was einige befürchtet hatten: Weitere Menschen in allen Ecken des Saales erheben sich (insgesamt vielleicht fünf oder sechs von knapp fünfzig). „Die Gedanken sind frei“. A capella. Live. Jetzt habe ich wirklich alles erlebt. Viele rutschen in ihre Sitze, halten sich die Hand vor‘s Gesicht, einige können sich ein ungläubiges Lachen nicht verkneifen; bei mir ist es alles gleichzeitig.
Und jetzt? Die Sänger gehen einfach. Nix Diskussion oder gar Diskurs. Ich bin hin- und hergerissen zwischen Erleichterung und Enttäuschung. Herr Nerling etwa nochmal? Nein. Der nächste bitte. Ein Zeuge. Wieder keine Frage, sondern eine Anklage gegenüber der Mitautorin des vorgestellten Buches. Sie habe im letzten Jahr beim Juulfest* in Wienrode, zusammen mit der Antifa, die übrigens 20 Euro pro Einsatzstunde bekämen (ich denke mir das gerade ausdrücklich nicht aus), die Anwesenden fotografiert und am nächsten Tag auf ihrem Blog etwas von „Naziweihnachtsmarkt“ geschrieben. Wo bleibe denn da der Dialog, oder die journalistische Verantwortung? Dass im Vorfeld dieses Marktes bereits Autoreifen von Dorfbewohnern zerstochen worden waren, die sich gegen die Siedler ausgesprochen hatten, davon weiß er bestimmt nichts. Aber er weiß, wie die besagten Fotos dann mit dem Gemeinderat des Dorfes analysiert wurden, und Namen und Adressen ausgetauscht wurden. Auf die Nachfrage, woher er diese Information denn habe, antwortet er, die habe er eben zugespielt bekommen. Wieder vereinzeltes Kichern.
Die Nummer mit dem Antifageld erklärt Herr Speit aber gerne noch mal. Dabei verwendet er die Wörter Satire oder Honeypot nicht. Ich jedenfalls traue dem Zeugen zu, dass er damit wirklich nichts anzufangen wüsste. So, jetzt vielleicht Herr Nerling? Nein. Für etwas Whataboutism muss auch noch Zeit sein. Von noch weiter rechts kommt die Frage, was denn eigentlich mit den Linksextremen sei, die prügeln sich ja mit Polizisten, und … Unter das Kichern mischt sich erstes, ironisches Gähnen. Die Diskussion beginnt zu zerfasern, glücklicherweise ist die eingangs angepeilte Zeit fast rum. Jetzt dann doch noch mal Herr Nerling, bitte. Er bietet eine Podiumsdiskussion an, er würde das organisieren. Die Moderatorin stellt das Angebot noch kurz zurück, ob denn jetzt noch Fragen seien. Nein? Dann an sie, Herr Nerling: Da in der Vergangenheit bereits zu oft unter Beweis gestellt wurde, dass das nichts bringe, und es jetzt auch niemandem helfen würde, zu erklären, warum das nichts bringe, wird festgestellt, dass es mit ihnen keine Podiumsdiskussion geben wird. Punkt. So und nur so redet man mit Rechten.
Und als ob das noch nicht alles Farce genug gewesen wäre, gab es noch eine Coda vor dem Theater. Die Sänger waren gar nicht gegangen. Sie warteten bester Laune vor dem Marschlinger Hof. Nicolai packte die Kamera aus, man kannte sich, oder lernte sich gerade kennen. Und man sang zusammen, irgendwas mit Heimat, mehrstimmig. Friedrich Schiller hätte seinen Kotzeimer gebraucht.
Ich denke, der ehemalige Kollege hat dabei auch länger als nötig in meine Richtung gefilmt, aber hey, von seiner Bubble bis zu meiner ist der Weg doch weit genug, um wenigstens heute Nacht noch ruhig schlafen zu können. Und sorry nochmal, der Liveticker wäre irgendwie drüber gewesen, ich denke so habt ihr auch einen ganz guten Eindruck bekommen. Vielleicht ein wenig zugespitzt, aber was bin ich denn? Journalist? Das hier ist ja (noch) nicht mal ein Blog. Die Gedanken sind frei (ohne Anführungszeichen).
*Das Wort habe ich hier verwendet. Der Beiträger sprach lediglich von „Weihnachtsfest“, bei dem sich „präsentiert“ werden sollte.
Nachtrag:
Keine zwei Tage später veröffentlicht Nikolai sein Video zu dem Abend. Darin wird das besprochene Buch verbrannt, zu den Klängen des erwähnten Heimatliedes. Keine Pointe.
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