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Megalomaniac (S4:Ep4)

von | 2020 | 29. November | Die Serie, Staffel 4 - The times they are a changing

Mannomann,
was geht‘s mir gold!,
hier in Sachsen-Anhalt,
dazu noch im Landkreis Harz,
wo „Corona“ immer noch etwas ist,
das irgendwie nur andere betrifft
(Seit Mittwoch leuchten wir
auf der Pandemiekarte
fast schon hellgrün!).
Da will man ja bald
von einer „Festung“
sprechen wollen,
aber der Name ist schon weg.
Till Reiners hatte nach
dem Brechen der ersten Welle
im Mai geschrieben,
dass Deutschland
in der Pandemie
gerade mal wieder so derbe abliefere,
dass er glatt Bock bekommen würde,
Polen zu überfallen.
Ich würde mich da erst mal
genügsamer geben,
und denke Luxemburg, Lichtenstein
und die Cayman-Inseln
könnten für‘s Erste reichen.

Ehrlich, ich fühl mich so gut,
ich könnte glatt ständig
das ganze Internet vollschreiben,
eine Punchline nach der anderen flexen,
und immer Recht haben.
Alle würden das lesen,
alle würden meiner Meinung sein,
alles würde gut,
Literatur- und Friedensnobelpreis
würde ich selbstverständlich ablehnen.
Warum?
Weil ich es kann!
Man, sogar die Lakers
werden nächstes Jahr unschlagbar sein!
Und selbst der Papst
lädt Basketballer zur Audienz.
Den richtigen Beruf hab ich auch,
die Weihnachtsferien sind länger.
Noch mehr Zeit,
für noch mehr
Größenwahn.

Und mal ehrlich,
das bisschen Pandemie,
was ist das schon?
Wir haben doch
das beste Gesundheitssystem,
hier sind noch Betten frei!
Nicht so wie bei den Dullies
in den anderen Ländern!
Wir schaffen das!,
denn diesmal geht‘s ja auch
um uns selbst, ne?
Gut, für die Risikogruppen
wird der Winter
bestimmt richtig sche*ße,
so what?
Ich gehe jetzt sogar joggen!
Und vielleicht schreib ich
sogar darüber auch noch ein Buch:
„Mein Lauf“
wäre ein schmissiger Titel, oder?

Und jetzt mal
zum fehlenden Kontext:
Diesen Quatsch schreibe ich
im selben Moment,
in dem die weltweiten Pandemiezahlen
ungefähr so aussehen,
wie wir sie uns im Frühling
noch nicht ausmalen wollten:

Bald 65.000.000 Infektionen weltweit,
mindestens 500.000 neue
jeden Tag.
Jeden Tag 8.000 Tote,
in Deutschland inzwischen
ein Plateau von fast 500 Opfern täglich.
Plus Dunkelziffer.

Wenn das mal nicht
die richtige Zeit
für so richtige Macher ist.
Leute die sich was trauen,
die sich entscheiden,
die mit dem Gegenwind leben,
weil sie sich sicher sind,
auf der richtigen Seite
der Geschichte zu stehen.

Denen die anderen vertrauen,
zu denen die jüngeren aufschauen,
oder denen die unsicheren
folgen können,
für die mansplaining und Breitbeinigkeit
unreflektierte Grundhaltung sind.

Aber irgendwie kriegt es
fast niemand von denen hin,
die jetzt gerade in genau
diesen Positionen sind.
Einer nach dem anderen
verreißt es gerade gewaltig.
Anfang der Woche,
als kleines erstes Beispiel,
der momentan hoffnungsvollste Nachfolger
im höchsten Regierungsamt,
Armin Laschet.
Was für ein peinlichst populistischer Vergleich
war das denn bitte?
Was sollte das sein?
Boomerironie?
Ein Rücktrittsangebot?
Den Menschen,
die sich noch
an Weihnachten 1946 – 1989
erinnern können,
fallen sicher einige Gelegenheiten ein,
die weitaus härter waren,
als in einem der wohlhabendsten
Länder der Welt und Geschichte
mit seiner Familie feiern zu können.
Aber außer ein bisschen Shitstorm
passiert heute niemandem mehr etwas,
dazu ist die Situation zu dynamisch.

Jetzt noch anfangen,
das Personal auszutauschen,
scheint sinnlos.
Und vielleicht steht uns ja
im nächsten Jahr
die Zeit der großen Abtritte bevor,
wenn sämtliche old white men
endlich, einer nach dem anderen
die Weltbühne verlassen.
Vielleicht hatten
die fallenden Statuten
im Frühling und Sommer
doch mehr zu bedeuten
als blinden Bildersturm.

Denn während Trump und sein Team
inzwischen im achten Höllenkreis
der Selbstentblödung angekommen sind,
und die gesamten USA
den 20. Januar 2021
herbeisehnen,
knackt es auch bereits
an anderen Stellen.
Ganz aktuell in Frankreich,
wo einer der ganz
irren Megalomanen
der letzten Jahre
einer Freiheitsstrafe
von bis zu zehn Jahren entgegensieht:
Napoleonfan Nikolas Sarkozy
muss sich endlich wegen Korruption
(Bestechung der Staatsanwaltschaft)
verantworten.
Der italienische Vorzeigenazi
Matteo Salvini wird inzwischen
von Gericht zu Gericht gezerrt.
Steven Bannon,
Möchtegernerfinder der Gegenaufklärung
sammelt schon mal für seine Kaution.
Rudy Giuliani,
amtierender Anwalt des Bösen,
schmilzt im Scheinwerferlicht
der Öffentlichkeit.
Und der Chef einer norddeutschen Polizei,
Lorenz Caffier,
tritt nach dem aufgeflogenen
Waffenkauf bei Nordkreuz
beschämt zurück.

Nicht nur diese Entwicklungen,
sondern auch der Durchbruch
des Neuentwurfs
machen Hoffnung darauf,

dass wir doch noch mal
Zeiten erleben werden,
in denen es nicht
die mit den Megakomplexen sind,
die über andere entscheiden.
Denn es gibt Gegenbeispiele:
Die beiden am meisten gelobten
Staatsoberhäupter der Gegenwart
heißen Jacinda Ardern und Angela Merkel.
Der Unterschied ist augenfällig.
Und hinter ihnen warten ganze Generationen
auf die Zukunft:

Kamala Harris,
Alexandria Ocasio Cortez,
Jessica Rosenthal,
Greta Thunberg.
Noch stehen aber viele vor ihnen,
die neben ihrer Skrupelosigkeit,
Gier und Selbstherrlichkeit
vor allem auch
Männer sind.

So,
und wenn ihr dachtet,
Holocaustrelativierung
ist inzwischen die Sache
von Mädchen und jungen Frauen,
dann aufgepasst:
Zwei Dinge sind gestern passiert,
die so irre sind,
dass sie nur von Männern kommen können.
Im Europaparlament
hat der ungarische Regierungssprecher
die Eskalationsschraube auf Anschlag
gedreht, als er behauptete,
dass die EU die Gaskammer
von George Soros wäre,
während auf einer Querdenkerdemo
an der deutsch-polnischen Grenze
ein Redner vorschlug,
doch am 27. Januar
einen Schweigemarsch
in Auschwitz durchzuführen.
Ja, so hab ich auch geguckt…
Doch zumindest an der Oder
hat ausgerechnet
der Hallenser T-Shirtnazi Sven Liebich
in passendester Symbolik
beweisen wollen,
wer die stählernsten Eier hat.
(Da mir Schadenfreude peinlich ist,
poste ich das entsprechende Video nicht,
aber einige dürften es bereits gesehen haben.)
Und wenn wir hier einmal dabei sind,
dann gucken wir uns doch die Liste
der Mitglieder
im Verein Megalomaniacs
noch ein wenig länger an,
wer will, achtet mal drauf,
wie viele Frauen da dabei sind.
Macht es euch nicht zu bequem,
es wird ungemütlich.
Beginnen wir in Südamerika,
jeder Kontinent hat sein Paradebeispiel.

Dort ist es der brasilianische Präsident,
der völlig zu Recht als Tropen-Trump
in die Geschichte eingehen wird,
nur ein bisschen jünger.
Ansonsten ist er die exakte Kopie:
Regenwald brennt?
Egal.
Pandemie?
Egal.
Sich mit allen und jedem anlegen.
Mit Sicherheit.
Schwarze Bürgerrechtsbewegungen diffamieren?
Nach den Vorfällen in Porto Allegre
auch auf dem Programm.
Sexismus?
Religiöses Getue?
Kotzbrockenfaktor 10?
Check.
Bei der nächsten Wahl verlieren,
aber trotzdem Präsident bleiben wollen?
Sehr wahrscheinlich.

Im Nahen Osten das Ganze
dann schon differenzierter
und genauso nahe am Abgrund:
Der syrische Diktator Assad
steht bald wegen
Kriegsverbrechen vor Gericht.
Die Patriarchen in Israel,
bei deren neuen Freunden
und in Saudi-Arabien
kunkeln heimlich mit dem
scheidenden US-Außenminister Pompeo rum,
nur zwei Tage später
wird im Iran ein Atomwissenschaftler
auf offener Straße exekutiert.
Die nächste, diesmal noch gefährlichere Stufe
zum dortigen Großkrieg ist erklommen.
Netanjahu schafft es vielleicht nur deswegen,
die Korruptionsurteile rauszuzögern.

In Süd-Ost Asien wütet
inzwischen schon seit Jahren
der phillipinische Diktator Duterte,
Massenmord an der eigenen Bevölkerung.
In Thailand wackelt dagegen
einer der letzten echten Monarchen der Welt,
obwohl, ganz König,
regiert er sein Land
ja schon seit langer Zeit
von Bayern aus.

Und, schon keine Lust mehr?
Egal, weiter geht‘s,
das Ganze geht auch abseits
von politischen Machtpositionen.
Die totalen Gewinner
der aktuellen Multikrise
heißen Jeff Bezos,
Elon Musk und Mark Zuckerberg.
Platz 1, 2 und 3
der Liste der reichsten Menschen der Welt.
Mal was abgeben?
Fehlanzeige.
Oder Clemens Tönnies.
Viel mehr Skandal ging nicht mehr,
interessiert nicht mehr,
die Würste müssen auf den Tisch.
Und wo wir grad wieder
in Deutschland angekommen sind,
noch ein paar Beispiele
aus der Naziecke:
Auf dem AfD-Parteitag
zerlegen sich
Meuthen und Höcke
gerade gegenseitig,
für letzteren wird es demnächst
noch unschöner:
Seine Immunität soll aufgehoben werden,
das wird also noch lustig.
Noch einige Etagen tiefer,
geht es auch dem Volkslehrer
bald richtig an den Kragen.
Sein Stunt in Dachau
hat ebenfalls gerichtliche Folgen.

So.
Was haben die nun alle gemein?
Eben, eine urmännliche Eigenschaft:
Nämlich niemals aufzugeben,
immer standhaft zu sein,
Fehler nicht zuzugeben.
Lieber lachend in die Kreissäge laufen,
als einfach abzutreten.
Klar wissen die meisten,
dass sie schlechte Menschen sind,
oder wenigstens,
dass sie viel bessere sein könnten.
Aber diese Schwäche ist das letzte,
das sie eingestehen würden,
denn dann hätten ja doch
alle anderen immer recht gehabt.
Was deswegen geschehen sollte?

Keine Sorge,
ich kümmere mich darum,
wer wenn nicht ich,
wo wenn nicht hier?
Da kann der Polizistensohn
in naher Zukunft
alle Nazis mit Pensionsanspruch
(und Andreas Scheuer)
mit seinem Rap zerf*cken
wie er lustig ist,
ich setz‘ hier einfach alle ab,
zwinge jeden zum Rücktritt,
klage alle andauernd an,
bis die Guillotinen
wieder rausgeholt werden.
Natürlich nur hier,
und natürlich nur fiktiv,
aber immerhin!
Denn glücklicherweise gehöre ich
zu der Generation von Männern,
die in der Schule halbwegs aufgepasst haben,
und für die das hier zu ihren Hymnen gehört:

„Hey megalomaniac!
You’re no Jesus!
Yeah, you’re no fucking Elvis!
Special,
as you know yourself
Baby,
just step down,
step down!“

(Incubus. 2004.)

Gut, ich schlag
die Beine dann mal wieder übereinander,
freue mir einen Ast darüber,
dass #DieDoppeltenZwanziger
soeben die 200-Seiten-Mauer
durchbrochen haben
und schaue mal,
ob ich meine Demut
unter Couch irgendwo wiederfinde.

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