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Brave New World (S4:Midseason Review)

von | 2021 | 10. Januar | Die Kurzgeschichten, Die Serie, Staffel 4 - The times they are a changing, Thalenser Kurzgeschichten

„You live you learn
You love you learn
You cry you learn
You lose you learn
You bleed you learn
You scream you learn“

 

Der Brillenträger hatte seine Hausaufgaben soweit gemacht. Alles noch liegengebliebene war fast wegkorrigiert, die nächsten Klausuren fast vorbereitet, und genug Stoff zum Diskutieren und Lernen hatten die letzten Wochen ja wohl mehr als bereitgestellt. Morgen hätte es also gerne wieder losgehen können. Sein Montag hatte in diesem Jahr immer mit dem Deutsch Leistungskurs begonnen. Lesen und Schreiben am Morgen vertreibt Kater und Sorgen. Und Kaffee natürlich.
Über die gefühlte Planlosigkeit aller Verantwortlichen wollte und konnte er sich nicht mehr aufregen, das würde nichts verbessern, niemandem wäre damit geholfen, ihm schon gar nicht, und wirkliche bessere Ideen hatte er auch bloß nicht. Also konnte er die Neue Normalität nur hinnehmen und das beste draus machen. Hinnehmen, dass sich niemand so wirklich sicher sein konnte, ob das alles richtig sein sollte, wie es jetzt nun mal laufen musste. Denn wie alle anderen hatte er im letzten Frühling erlebt, dass es eben nicht so ganz einfach ist, mal so mir nichts dir nichts auf eine komplett gegenteilige Version von Schule umzustellen. Denn wenn Schule jemals einen Sinn hatte, dann doch den, dass man gemeinsam mit anderen lernt. Und eben nicht jeder allein an seinem Schreib- oder Küchentisch vor einem mehr oder weniger großen schwarzen Spiegel. Dazu braucht man keine Schule. Das ginge schon länger auch ohne, also wenn es nur ums Lernen ginge. Das Internet war zum Brechen voll mit Lernenswertem, auf alle erdenklichen Arten didaktisch und unterhaltsam aufbereitet, und für jeden Lerntypen war was dabei. Aber darum geht es bei Schule ja nur teilweise.
Am Abend vor dem eigentlich ersten Schultag, im zweiten Jahr der Pandemie, konnte der Brillenträger also auch nicht umhin, 20 Jahre zurückzudenken, nein, inzwischen sogar schon 21. Wie viel unbeschwerter doch alles gewesen war. Ob er sich richtig erinnerte, oder ob sich einfach nur das wichtigste, das was er gelernt hatte, in diesem Tag versammelte, konnte und wollte er nicht mehr mit Sicherheit sagen.

Anfang Januar 2000 saß das Abitur bereits mit im Biohörsaal und schaute jedem still über die verspannte Schulter. Im Sommer schon wäre all das hier Vergangenheit. Dann würden sie auseinander gehen, zum Zivildienst, zum Studium, zum Bund, zur Ausbildung, um dann dort mit anderen weiter zu lernen, und, wie jeder wusste, zu leben, denn dafür saßen sie ja wohl schließlich jeden Tag hier. Der Brillenträger war froh schon zu wissen, wie es für ihn danach weitergehen würde, und seitdem er wusste, dass es in Halle für das Lehramt Deutsch keine Zulassungsbeschränkung gab, konnte er sich entspannen, ein ganz normales Abitur würde reichen. Aber deswegen brauchte er ja nicht gleich ganz abzuschalten. Heute stand die Wiederholung und Vertiefung der Genetik an, Klausurvorbereitung. Doppelhelix, Meiose, Mitose, RNA und DNA, Chromosome. Schon krass, wie (fast) alles, das uns ausmacht, decodierbar ist. Und dann ja auch noch neu- oder umprogammierbar. Der Leistungskurs diskutierte dabei auch die ethischen Dimensionen, beim Nutzen für die Nahrungsoptimierung, bei pränatalen Diagnosen, beim Forschen an Stammzellen.
Dass damit bereits in 20 Jahren schon Impfstoffe in fast null komma nichts aus dem Boden gestampft werden könnten, darüber wurde aber noch nicht einmal spekuliert.

Als es zum Ende klingelte, war man sich schnell darüber einig, noch vor dem Mittag eine rauchen zu gehen, die Schlange vor der Aula war noch zu lang. Außerdem hatte er heute morgen zwei Freistunden gehabt, und der Tag ging noch bis um halb drei. Er kam dann zum Deutsch Leistungskurs eine Minute zu spät, was die Lehrerin nur mit einem scharfen und gespielt gelangweilten Blick über ihre Brille kommentierte. Pflichtbewusst legte er sein Buch auf den Tisch. Beschwichtigt wandte sich die Lehrerin wieder den anderen zu. An der Tafel stand in geschwungener Handschrift schon wieder etwas von Klausurvorbereitung. In den Weihnachtsferien sollten alle diesen Schinken zu Ende gelesen haben, diese Dystopie, die mit den Alpha-plus, Beta-, Gamma und Epsilon-minus Menschen. In der die Sexualität von Kindern gefördert wird, und die Erwachsenen nichts anderes machen als zu konsumieren, Sex zu haben und Drogen zu nehmen. Und in dem dieser schräge Vogel das alles infrage stellt. Von diesem Aldous, Aldous, … der Brillenträger schaute kurz auf das vor ihm liegende Buch, … Aldous, … ach ja: Huxtable. Mehr oder weniger passend dazu hatte der Brillenträger auf seinen Deutschhefter einen damals beliebten Liedtext gemalt: „Schöne neue Welt Unsere Feinde sind wir selbst So sterben Träume“, was die Lehrerin interessiert aber kommentarlos zur Kenntnis genommen hatte.
Aus der Klausurvorbereitung wurde dann ein kleiner Aufsatz zu der Frage, in wieweit sich der Roman mit „1984“ von George Orwell vergleichen lasse, und natürlich, was man daraus lernen könne. Er hatte das zwar, nach dem Referat, kurz mal angelesen, aber der ganze Kram mit den Alternativen Fakten war einfach zu abgedreht und düster. Der mächtigste Mann der Welt ist ein demagogischer Lügner, ständig herrscht irgendein Ausnahmezustand, die Demokratie ist schon lange untergegangen, die Wahrheit bis zur Unkenntlichkeit verkrüppelt, das Leben anscheinend nur noch trostloses Funktionieren im System. – Zu unrealistisch. Und zu deprimierend. Dann doch lieber eugenische Gedankenexperimente und eine Highle Welt, das war schon leichter vorstellbar. Immerhin war es schon vier Jahre her, dass das Schaf Dolly geklont wurde, die Computer wurden ja auch nicht gerade langsamer, und vor allem hatte gerade das langersehnte 21. Jahrhundert angefangen. Die Zukunft war also jetzt. Und deswegen war der Brillenträger im Deutschkurs auch schon dazu übergegangen, mehr auf die Gestaltung der Stunden zu achten, als auf ihren Inhalt. Und, wie bereits angeklungen, bei dieser Lehrerin gab es eine Menge zu lernen, vieles, an das er sich erst Jahre später wieder erinnern würde. Aber vor allem Mut und Zuversicht, und zwar nicht durch erhebende und idealistische Lyrik, sondern durch klaren Realismus, gut geschulte Skepsis und mit grenzenloser Phantasie.

Vor dem Geschichtskurs war die Pause nur zehn Minuten lang. Lang genug allerdings, sich noch kurz mit der Rucksackträgerin auf der Raucherinsel zu treffen, auf der sie ja jetzt auch sein durfte, denn kurz vor dem Jahreswechsel war sie 16 geworden. Sie hatten sich zu viel zu erzählen, so dass sie gar nicht erst zum Rauchen kamen. Die Feiertage und Silvester wollten ausführlich und aufgeregt nachbesprochen werden, zu viel Gutes und Erwachsenes war passiert, bei ihr und auch bei ihm. Sie verabredeten sich deswegen auch noch für nach der Schule auf ein oder mehrere Zigaretten. So kalt war es nicht, der Schnee war bereits schon wieder getaut.

Im letzten Block stand Geschichte an. Das Fach und die Lehrerin, die ihn schon vor einigen Jahren zu so einer Art Gedicht veranlasst hatten, das immer noch auf der hinteren Innenseite seines Hefters stand: GU (Geschichtsunterricht) oder: Von der langen Weile / Der Arsch tut weh, die Lider sinken, / Gedanken sind auf keiner Ebene und Worte fall‘n nicht ins Gewicht. / Man schaut ins Nichts und denkt nicht viel. / Es gibt dafür auch kein Ventil. / Und fragt man leis‘: Was kommt danach?, / Antwortet man: Die Zeit liegt brach. / Drum sitzt man weiter ohne Sinn und grübelt wahllos vor sich hin. –
Seine Deutschlehrerin hätte dazu sicher nur Naja gesagt, womit sie auch irgendwie recht gehabt hätte, aber darum ging es ja nicht. Besser hatte er es eben noch nicht ausdrücken können. Und von Büchern wie Fukuyamas „Ende der Geschichte“, Ciorans „Absturz in die Zeit“ oder gar Spenglers „Untergang des Abendlandes“ und Nietzsches „Jenseits von Gut und Böse“ hatte er glücklicherweise noch nichts gehört. Er wusste nur, dass er sich für die Zukunft eine spannendere Geschichte wünschte, und dass mal wieder was richtig krasses in der Gegenwart passierte, damit nicht alles ewig so weiterging, und es endlich wieder neue Geschichten zu erzählen gab.
Natürlich nicht so etwas, wie heute auf dem Plan stand: Euthanasie im Dritten Reich. Ja, auch nur einige Kilometer entfernt, in Neinstedt, aus den Fenstern am östlichen Horizont gut zu erkennen, hatte es das gegeben. Damals. Als der Wert menschlichen Lebens in Bürokraten-Nazideutsch festgeschrieben war und eiskaltes, faschistisches Profit-Rechnen darüber entschied, wer warum und wozu zu viel kostete. Diese Zeiten waren ja zum Glück vorbei, das war schon überwunden. Im 21. Jahrhundert war inzwischen jeder Mensch gleich viel wert, das hatten alle hier gelernt; das war ja auch nicht so schwer zu verstehen. Und was sollte es schon sein, das uns heute wieder darüber nachdenken lassen sollte, ob es sich nicht doch irgendwie rechnen würde, wenn das Leben einiger Menschen weniger wert als das von anderen sein sollte?
Das Stundenklingeln riss ihn aus seinen Gedanken, an der Tafel sah er noch die Hausaufgabe: Zur nächsten Stunde war eine schriftliche Erörterung als Kurzreferat vorzubereiten, zu der Aussage, behinderte, alte und erkrankte Menschen seien besonders schützenswert. Da es für seinen Jahrgang noch keinen Ethikkurs gab, bemühten sich die Lehrer offensichtlich, die Moralbildung eben da einzubauen, wo sie hinpasste, und so die kommende Generation gestärkt ins Leben zu schicken. Auf alles vorbereitet. Handlungsfähig. Solidarisch. Aus der Geschichte gelernt.

21 Jahre später würden sich die Türen der Schulen ab morgen erst mal nur für die Abschlussklassen öffnen, alle anderen digital zu Hause unterrichtet, und das mindestens noch drei Wochen lang. Die Zahl der Pandemie-Toten lag momentan bei 14.000, 1000 davon allein in Deutschland, und das täglich. Weltweit würde sie noch in diesem Monat die zwei Millionen überschreiten, und das schlimmste Quartal des ersten Pandemiejahres hatte gerade erst begonnen. Sogar in China schien es wieder loszugehen, und eine Schweizer Studie kam endlich zu dem völlig überraschenden Ergebnis, dass es besonders die Schulschließungen waren, die wesentlich zur Eindämmung des Infektionsgeschehens beitrugen. Da war es fast schon nebensächlich, dass seit dieser Woche die älteste der modernen Demokratien endgültig und hoffentlich nur vorübergehend in Scherben lag, die Bilder von der Besudelung des Kapitols in Washington waren mit jedem Tag schauriger geworden. Auch nach England wagte man den Blick schon gar nicht mehr zu lenken. Und es gab immer noch nicht wenige Menschen, die für all das wieder einmal oder immer noch irgendwelche Juden verantwortlich machten und/oder sich immer noch oder wieder mal nicht sicher waren, ob die Erde wirklich eine Kugel ist, der Satan vielleicht doch nicht nur ausgedacht, oder ob Nazis eigentlich ja gar nicht so unrecht haben könnten.
Niemand wusste heute, ob es dieses Mal wenigstens in den Schulen besser als im letzten Frühling laufen würde, die Zeichen deuteten eher in die andere Richtung. Bereits vor den Weihnachtsferien waren sämtliche digitalen Schulplattformen abgeschmiert, auf denen man den Unterricht angeblich eins zu eins nachbauen konnte; etwas das nur Bürokraten und Asis glauben konnten. Der Brillenträger verfolgte aufmerksam, was sich die unterschiedlichsten Teile der Welt als Antwort einfallen ließen, eine Idee wackliger als die andere. In Thüringen dachte man an leichtere Prüfungen, oder einen Nachteilsausgleich. In England wurden die Prüfungen gleich ganz gestrichen, den Lehrern traute man dort inzwischen zu, die Leistungen eigenständig einschätzen zu können. An den Unis wurde digital geprüft. Und die Familienministerin forderte immer noch die möglichst schnelle Rückkehr vor allen der jüngsten, und musste mit jedem weiteren Tag weiter zurückrudern. Er konnte schon länger nicht umhin, sich die Frage zu stellen, ob das vielleicht eine Art erzwungene Herdenimmunität werden sollte, vielleicht auch um Impfstoff zu sparen? Aber so viel kalte Technokratie wollte er sich nicht vorstellen, auch nicht im 22. Jahr des 21. Jahrhunderts, und erst recht nicht bei einer Politikerin der SPD.
Ob seine alte Schule überhaupt noch mal öffnen würde, selbst das stand in diesen Tagen in den Sternen. Nach jahrelanger Qual waren im Herbst die Würfel endlich gefallen, und die Abwicklung konnte sich nicht mehr länger hinauszögern lassen. Dabei hatten die zahlreichen Geschichten über den leichtsinnigen Umgang mit der epidemischen Lage, die vielen Quarantäneanordnungen der letzten Monate, der Teilexodus der Schüler und die Versetzungen einiger Lehrer auch nicht wirklich geholfen. Und auch das Transparent nicht, das einen Tag nach der vorübergehenden, vorzeitigen Schließung im November am Zaun gegenüber aufgetaucht war: „Keine Bühne für Covidiots!“ Die Gerüchte dazu wollte der Brillenträger lieber nicht hören, er wollte sich seinen Teil nicht mal denken.
Als am späteren Abend seine Mutter kurz anrief, um zu fragen, ob er denn nun morgen in die Schule gehen würde, sagte er, er dürfe eigentlich erst übermorgen, wenn die Abschlussklasse Ethik hätte. Na, da gebe es sicher einiges zu besprechen, oder?, und ob er denn nun mal langsam seinen Berufswunsch bereuen würde. Er erahnte das Lächeln dabei und antworte nur selbstironisch, dass sie das doch schon so oft besprochen hätten. Im Hintergrund lachte sein Schwesterherz nur: „Jetzt erst recht, was?“ Korrekt.

„You grieve you learn
You choke you learn
You laugh you learn
You choose you learn
You pray you learn
You ask you learn
You live you learn“

(Alanis Morissette. You Learn. 1999.)

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