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Different kind of love (S5:Mideseason Review)

von | 2021 | 4. Juli | Berliner Kurzgeschichten, Die Kurzgeschichten, Staffel 5 - How does it feel?

„Heart of Venus heal us
Today, tomorrow
Navigator steer us to our new dawn
Now we have the sience to change
Let‘s make it better
Back down on Earth
On a satellite we wait for the Great Return
Back down to Earth

High in a tower we call America
Lightning strike down to our core

All we want is right here
All we need and more
Let your heart surrender
Let your heart transform“

(Spellling: Awaken. 2021.)

Teil 1 – Escape Room

Nach zwei Wochen hatte der Brillenträger mindestens zwei Dinge festgestellt: Erstens, er hatte es geschafft. Eine gelungene low output-Diät. Er fühlte sich tatsächlich halbwegs erfrischt. Zweitens, er hatte das Schreiben die ganze Zeit vermisst. Also nur ein halb gelungener Entzug. Mit einer Fußballeuropameisterschaft als Ersatzdroge. Mannschaftssport, das Methadon des Informationsjunkies. Oder gleich noch als zusätzliche Impfung gegen den Irrsinn. Halbwegs klare Regeln, eine ausladende Geschichte. Und Spektakel; mit einer Krönung im Wembleystadion zum Höhepunkt der vierten Pandemiewelle im Vereinigten Königreich. Chronist des 21. Jahrhunderts, was willst du mehr?

Die verworfenen Titel der nicht geschriebenen Blogepisoden waren in dieser Zeit eine eigene Kurzgeschichte geworden. „Football‘s Coming Home“, „A midsummer night‘s dream“, „God save the queen“. Der Blog selbst aber schlummerte friedlich in den hintersten Ecken des Cyberspace und wartete weiterhin auf seine Entdeckung. Nur ab und an musste er mal raus. Der Kokon der mitteldeutschen Provinz, so gemütlich er auch sein wollte, war und blieb angestaubt. Der Blog des Brillenträgers klinkte sich dann des Öfteren in dessen Privatleben ein, immer auf der Suche nach echten Geschichten, oder wenigstens nach wahrscheinlichen. Geschichten, die bewiesen, dass sich wirklich was änderte, und nicht alles wie immer blieb, obwohl überall das Gegenteil behauptet wurde. Geschichten, wie die hier aus dem hallischen Paulusviertel, die sich der Blog aus einem Brief einer Freundin gestohlen hatte: *** (Mitbewohnerin) und ich sitzen auf unserer beschaulichen Terrasse vor unserem Souterrain, als plötzlich die lieben Nachbarskinder (sieben bis acht Jahre alt vielleicht) anfangen, unsere Aufmerksamkeit durch Gelache einzufangen. Schnell fliegen schon das erste Gummitierchen, Papierschnipsel und Playmobilteil auf unsere Seite. Und anschließend die freche (?) Frage, ob eine von uns aus China kommen würde. *** (vietnamesischer Abstammung) kontert gekonnt: „Nein, kommst du denn aus China?“ „Nein, ist aber Scheiße da, man wird ständig überwacht“, antwortet das Mädchen. Kurz darauf tritt ein Vater in den Vorgarten und ruft zu den Kindern hinauf, ob sie denn die Nachbarn belästigen würden. Die Kinder schreien daraufhin im Chor: „Nachbarinnen!“ Der Blog des Brillenträgers bedankte sich herzlich, denn knackiger konnte man den Zustand der sachsen-anhaltinischen Wokeness momentan kaum beschreiben.

Aber nach dem Sieg über die Nazis im Landesparlament war die Stimmung wieder besser geworden. Und es wurde nach vorn geschaut, klar, wohin denn auch sonst? Der Tourismus lief bereits wieder zu gefühlten 80%. Die Inzidenz im Harzkreis lag zwischenzeitlich bei 0,0 (!). Die Sportvereine waren voll wie selten, der Wandertrend ebbte nicht wieder ab. Und noch waren es drei Wochen bis zu den Sommerferien. Vorschlag für das nächste Landesmotto: Wir halten länger durch! An diesem Wochenende gab sich sogar der Bundespräsident höchstpersönlich die Ehre, schnürte die Stiefelchen und spazierte mit dem Landesvater irgendwo zwischen Brocken und Grünem Band. Es war Bewegung drin. Alles besser als Lähmung. Hauptsache nicht wieder dieser Stillstand. Die Progressophoben sollten ihre nervige Zweifelei doch mal wieder gut sein lassen. Noch war es nicht zu spät, die Goldenen Zwanziger 2.0 zu beginnen. Bis vor über einem Jahr war doch alles tutti. Steven Pinker hatte noch Recht: Der Welthunger, die Kriege, die Armut, die Ungerechtigkeit. Alles besserte sich. Trotz Klimawandel. Trotz Trump. Das große Ganze war besser als seine einzelnen Teile.
Und heute ist alles wieder da, nur noch auf stumm geschaltet: Die Pandemie und ihre Folgen fressen den Fortschritt der letzten Jahrzehnte auf. Weltweit gibt es bereits ein Drittel mehr Flüchtlinge als 2015. Wir erleben den vierten Dürresommer in Folge (auch wenn die Felder in der Umgebung noch voll im Saft stehen). Nie dagewesene Hitzewellen zwingen schon im Juni ganze Erdteile in die Knie, Kanada fängt wortwörtlich Feuer. Kanada! Da brennen ganze Städte ab und es gibt riesige Kühlhallen, in denen die Menschen vor dem sicheren Hitzetod bei um die 50°C (200 Opfer in einer Woche) Schutz suchen. Nichts wird besser. Es fühlt sich nur noch manchmal so an. Die Zahl der mass shootings ist im letzten Jahr noch mehr gestiegen, eine Änderung des Waffengesetzes weiterhin nur im Diskurs zu finden. Und der erst! Verroht bis zur Barbarei. Der gesamte Bundestagswahlkampf ist schon zu Beginn ein einziger schlechter Marketingunfall.

Klar, dass sich weder der Brillenträger, noch sein Blog pausenlos an dieser Dauer-Negativprojektion beteiligen konnten, wollten sie noch etwas länger durchhalten. In den psychotherapeutischen Praxen wurde bereits von einem neuartigen Syndrom geflüstert: Empörungsburnout. Früher: akute emotionale Abstumpfung. Und der Brillenträger hatte wenig Lust, eines der ersten Studienobjekte zu werden. Laut Selbstdiagnose multipel vorbelastet (autonom austherapiertes ADHS, leicht bi-polar, Underachiever, zu großes Herz, zu große Nieren, zu nah am Impostor-Syndrom, phasenweise kreative Prokastination) wäre er sowieso nur bedingt geeignet gewesen, zumal er sich emotional ganz gut verankert wusste. Sagte er zu sich. Den Blog versuchte er diesbezüglich außen vor zu lassen, denn, na ja, was wäre ein Privatleben, wenn es nicht privat wäre?
Die Idee vom Empörungsburnout ließ den Brillenträger und seinen Blog aber noch nicht wieder los. Zu bedrohlich schien ihnen die Aussicht darauf, dass die Digitalisierung, der Siegeszug des medialen Overkills, letztendlich doch noch die Liebe selbst in Gefahr bringen würde.

In der Nacht auf Sonntag machten sie deshalb einen erneuten Ausflug nach Berlin. Ein knappes Jahr nach ihrem letzten Besuch ließen sie sich von den Funkwellen der Atmosphäre in die Hauptstadt bringen und wurden dort bereits vom Abendwind erwartet, der dem Blog verheißungsvoll zuzwinkerte. Die Neucodierung der Welt hatte die nächste Entwicklungsstufe erreicht; und außerdem würde der andere Brillenträger in diesen Tagen als erster ihres Jahrgangs (2000!, bitches) satte 40 werden. Zeit, um nochmal den Duft zu lieben, beim um-die-Häuser-zieh’n.

 

Teil 2 – First we take Friedrichshain

Gegen vier Uhr morgens stand der andere Brillenträger irgendwo auf dem ehemaligen Reichsbahnausbesserungs(RAW)-Gelände rum. Die Clubs waren irgendwie so halb offen, auf den Freiplätzen dazwischen versuchte das Partyvolk gleichzeitig Spaß zu haben und Abstand zu halten. Einige waren sogar mit Atemschutz unterwegs. Seinen Cola/Grüntee-Cocktail hatte er auf dem Bordstein abgestellt, die anderen ließen sich Zeit. Er war schon mal weitergegangen, um zu überlegen, wo diese Nacht enden könnte, vielleicht kamen sie ja doch noch irgendwo rein. Einige Clubs hatten die Innenräume geöffnet, allerdings nicht für alle G3-Menschen, sondern nur für Kategorie A: durchgeimpft. Weswegen sie nicht als Gruppe hätten zusammenbleiben können. Die Entscheidung war ihnen leicht gefallen, und die Nacht mild genug. In den letzten Stunden hatten sie sogar ausgiebig getanzt. Ins Schwitzen war dabei aber niemand wirklich geraten.
Der andere Brillenträger suchte in seiner Tasche nach seinem Handy, fand auch noch Zigaretten und nahm neben seinem Cocktail Platz. Auf dem schwarzen Spiegel erschien eine Nachricht. Ein verpasster Anruf. Sonntag, 3.15 Uhr. Er rief ohne lange zu überlegen zurück: „Na, haste mich angerufen, wa?“
Der Brillenträger am anderen Ende der Leitung schien noch hellwach: „Ja, bist aber nich rangegangen?“
„Ich war tanzen, wa?“
„Ach, tanzen warste, ja? Und nu? Was machste nu?“
„Mache Pause, wa?“
„Pause machste, ja? Jut für dich. Dann kann ich ja in Ruhe gratulieren, wa?“
„Gratulieren?“
„Na zum vierzigsten, wa?“
„Wa? Is doch erst nächste Woche, ja?“
„Nächste Woche erst, ja? Na dann sorry, wa? Soll man ja nich machen, wa?“
„Na danke, wa?“
Neben dem anderen Brillenträger saßen inzwischen die anderen. Die Reporterin schaute ihn fragend an, die Gastgeberin und Y nickten sich wissend zu, und der Schlaue wollte gerne bei der kleinen Referenz dabei sein: „Na, lass mich ma raten, ja? Brillenträger, wa?“
„Ja, stell dir vor, ja? Der wollte mir grade zum Geburtstag gratulieren, wa?“
„Stell den mal auf laut, ja?“
„Kann ich machen, wa?“
„Aber nur, wenn ihr aufhört, so behindert zu reden, ja?“, die Reporterin zündete sich eine weitere Zigarette an. Der Brillenträger grüßte in die Runde: „Und, isses noch wie früher?“
„Das Feiern?“
„Nee, das morgens vorm Club rumstehen.“
„Ja, nee, is schon anders. Aber auch cool irgendwie.“
„Aber nur irgendwie.“
„Wir empören uns aber nicht, keine Sorge.“
„Höchstens über die neue Tür-Politik hier. Es soll Clubs geben, wo nur New Yorker drin sind.“
„Ehrlich, haben wir gehört.“
Der Brillenträger lachte für alle hörbar: „Glaub ich nich.“ Die Reporterin schnaubte: „Kannste aber. Keine Ahnung was das noch werden soll. Wahrscheinlich das nächste Modellprojekt. Die feiern hier ihre Unabhängigkeit, durchgeimpft und reisefrei. Und natürlich am 4. Juli.“
„Ja, und stell dir noch was vor“, der andere Brillenträger machte eine bedeutungsschwangere Pause, „der Hit in allen Clubs, in die wir ja auch eigentlich gar nicht rein wollen, ist gerade von K.I.Z. Ohne Scheiß, die gehen da drinne ab zu „Unterfickt und geistig behindert“, als würden sie den Text nicht mal im Ansatz verstehen wollen, …“
„Aber auch kein Wunder bei dem Beat. Sag mal, höre ich da längst vergessenen Neid raus?“
„Auf New Yorker? Mit Sicherheit nicht. Mitleid höchstens. Und noch so ein Rest Empörung vielleicht.“
Der Brillenträger lachte erneut: „Davon habt ihr noch was übrig?“
„Na hör mal, schließlich geht‘s hier um unsere Partykultur. Ohne die wäre Berlin doch nur ne weitere Konsumhölle am Außenrand des Westens.“
„Okay, okay. Dann feiert ma noch reichlich, ja? Und wegen deinem Geburtstag noch mal: Sorry, wa? Ich ruf dann jetzt einfach ne Woche zu spät an, ja? Dann passt das wieder, wa? Willste noch wissen, was du kriegst, ja?“ Die Gastgeberin schaltete sich sofort dazwischen: „Untersteh dich! Der ahnt noch gar nichts!“
„Ach schade… Nur so viel… “, er summte eine Melodie, die im Stimmengewirr zwischen den Clubs kaum zu erkennen war, dann rief er ins Telefon: „Machts gut alle, ja? Weitermachen!“ Der andere Brillenträger sagte kurz vorm Auflegen noch leise: „Und wehe, du schreibst jetzt die ganze Woche irgendwelche geheimnisvollen Hinweise. Ich werd mich auch so schon freuen. Oder?“
„Wirste.“

 

Teil 3 – Dickes B

Der Berliner Morgenwind wunderte sich plötzlich. Was war das denn eben? Etwa Trauer? Oder sofort einsetzende Sehnsucht? Gerade noch war er gemeinsam mit dem Blog des Brillenträgers im Äther unterwegs, und gemeinsam hatten sie versucht, sich einen Reim auf alles zu machen. Im nächsten Moment war der Dialog unterbrochen. Dabei hatten sie sich gerade darüber verständigt, wie denn nun ihre Beziehung zu Berlin wäre, und sich gleichzeitig darüber lustig gemacht, dass vor allem Berliner genau darüber besonders (un-)gerne reden. Sie hatten Spaß. Im Sommer. In Berlin. Und jetzt wehte der Morgenwind wieder alleine durch U-Bahn-Stationen, um seinen Teil zur Berliner Luft beizutragen. Von Sehnsucht, Trauer oder gar Liebe hatte er die Berliner schon seit Ewigkeiten reden hören. Gefühlt hatte er es gerade selbst aber zum ersten Mal.

Der Brillenträger saß derweil bereits wieder am Schreibtisch. Er hatte sich in den letzten Wochen nicht nur das Schreiben versagt, sondern war auch deutlich früher als sonst aufgestanden. Was dabei herauskam, wenn er zu spät abends schrieb, das las er in diesem Moment erneut: Eine misslungene Love-Story von einem ungleichen Paar. Der Wind und ein Blog. In Berlin. Ja, es war 2021, so viel Meta-Diversity konnte man seinen Lesern auch mal zumuten, aber man sollte es wahrscheinlich auch nicht gleich übertreiben.
Aber einer Stadt eine Liebeserklärung machen zu wollen, war eben ein abstraktes Unterfangen. Und über Berlin war einfach alles schon geschrieben, seit Ewigkeiten. Das konnte ja nur in Kauderwelsch enden. Zumindest aber konnte er sich versichern, es wenigstens versucht zu haben. Er würde noch genügend Gelegenheiten bekommen, sein Glück erneut zu versuchen. Irgendwann würde die Stadt ihn schon erhören.

Als er nach dem Frühstück das Schlafzimmerfenster öffnete, geschahen zwei Dinge gleichzeitig: Sein Handy klingelte und eine warme, fast schon stürmische Brise wehte ihm entgegen. „Morgen. Immer noch wach, ja?“
„Ja, wa? Muss Montag erst ab Mittag.“
„Du Glücklicher. Haste was bestimmtes?“
„Nö. Fand‘s nur zu kurz vorhin. Und bin noch wach genug, um nochn bisschen quatschen zu wollen. Du?“
„Ja, wieder wach genug. Was darfs sein? Tanzen? Leben? Menschen? Welt?“
„Lustig. Keene Ahnung. Irgendwas halt. Hauptsache nicht wichtig. Fußball vielleicht?“
„Echt? Nee, die Zeiten sind schon wieder vorbei. Fußball ist wieder wichtig geworden.“
„Meinste wirklich, ja?“
„Vielleicht sogar wichtiger.“
„Du meinst wegen Kniefall vorm Regenbogen, und so?“
„Na ja, klar. Wann hatten denn Sportler jemals so einen breiten Einfluss wie heute? Colin Kapernick. Megan Rapinoe. Die NBA und Blacklivesmatter. Leon Goretzka und der ungarische Block. Das sind doch genau die Geschichten, die wir brauchen.“
„Ihr vielleicht. Hier wirds doch schon lange gelebt. In meinem Kiez …“
„Stop. Ganz genau. In deinem Kiez. Einen Kiez weiter siehts schon wieder anders aus.“
„Stimmt. Trotzdem: Für mich fühlt sich das alles eher nach Identitätspolitik und Corporate Design an. Alles viel zu kampagnenmäßig. Wo bleibt die Hingabe dabei? Da werden doch nur Bilder produziert.“
„Ja, aber gute.“
„Und schlechte! Ich sag nur 60.000 im Wembleystadion. Bei exponentiellem Wachstum. Delta-Variante.“
„Ich weiß. Und trotzdem spielen die da ne Spitzen-EM!“
„Stimmt auch wieder. Aber: Bei der Copa America sind zum Beispiel keine Fans in den Stadien.“
„Jetzt hör aber auf.“
„Mach ich ja. Sonst bin ich wieder Spielverderber.“
„Einige Dinge ändern sich eben nie, wa?“
„Deine Mudder ändert sich nie.“
„War ja och mitm Berliner verheiratet, wa?“
„ … Okay, okay. Ich geb auf. Hast gewonnen. … Du, eine Story erzähl ich Dir noch, und dann hau ich mich hin. Pass auf. Der Typ heißt, kommst du nie drauf, … Joe.“

Der Brillenträger brauchte eine Weile, bis er der Erzählung des anderen Brillenträgers folgen konnte, und auch der Morgenwind rückte etwas näher an den Blog heran, um ja nichts zu verpassen. Joe hatten die anderen zum Sonnenaufgang kennengelernt. Er stand vor einem der bereits sagenumwobenen Clubs, in denen die New Yorker angeblich nur unter sich feierten. Gerüchteweise einige Banker und Immobilienbesitzer, die ihr Herz für Berlin entdeckt hatten. Yuppies. Yankies. Oder wie man auf deutsch sagt: Arschlöcher. Mit allem Drum und Dran. Die Typen, die am ehesten an die verachtenswerten Figuren in vielen Songs von K.I.Z. oder Romanen von Bret Easton Ellis heranreichen. Es kursierten Geschichten über den richtig harten Scheiß. Abgeschottet, zugekokst und unter wummernden Bässen geschah dort angeblich all das, was Gaspar Noe sich in seinen kühnsten Träumen nicht hätte ausmalen können, und von dem sich selbst der Kitkat-Club distanziert hätte. Vor den Türen allerdings war Joe das Abziehbild eines US-Amerikaners vom alten Schlage. Er erfüllte traumwandlerisch jedes Klischee und vermied somit jegliche Nachfrage. Die perfekte Show. Er hatte sich, vier offene Hemdknöpfe, neben die gastgeberin gestellt und aus dem Nichts ein Gespräch angefangen. Ob sie aus Berlin seien. Wie awesome hier doch alles immer wäre. Der andere Brillenträger, der Schlaue, die Reporterin, die Gastgeberin und Y witterten eine Chance. Mit vollstem Berliner Charme gingen sie auf das Gespräch ein, bis Joe sie schließlich allen Ernstes für den Abend zum Barbecue in seinem Penthouse um die Ecke, mit Blick auf die East Side Gallery einlud. „Independence Day, you know?“ Unter großer Freude nahmen sie die Einladung an, und versprachen augenzwinkernd, entweder Döner oder Currywurst mitzubringen.

„Und? Geht ihr hin?“ Der Brillenträger konnte sich die Antwort allerdings bereits denken.
„Natürlich nicht. Aber jetzt wissen wir, wo einer von diesen Typen wohnt. Mal schauen, wen diese Information noch so interessieren könnte.“
„Handelt euch da mal bitte keinen Krimi ein, ja?“
„Seien sie unbesorgt. Wir sind Profis. Mit Herz!“
„Alles für Berlin, wa?“
„Na, wenn das mit dem Mietendeckel schon nicht geklappt hat, dann eben Guerillataktik.“
„Na, müsst ihr wissen. Kannst mich ja mal auf dem Laufenden halten. Der Blog freut sich.“
„Ey ey. Schreib mal lieber in deinen Blog rein, das hier nächste Woche die Kuh fliegt, was London kann, können wir noch besser. Was New York eh noch nie konnte, feiert hier das 42ste Comeback.“
„Warte. Lass mich raten. Was New York eh noch nie konnte… Was weiß ich denn? Locker sein?“
„Bingo. Die Love Parade ist wieder da.“
„Kein Scheiß?“
„Ja, na ja, schon wieder mal da. Halt so was ähnliches. Heißt dieses Mal: Rave the Planet Parade.“
„Und wann?“
„Nächstes Wochenende!“
„Ohne Scheiß?“
„Jup.“
„Aber ihr geht da nicht mehr hin, oder? 40. Geburtstag, Pandemie und so?“
„Wer weiß? 2021 ist ja eigentlich nur das nachgeholte 2020, von daher hab ich noch ein Jahr.“
„Du hast dir nicht gerade 2020 zurückgewünscht, oder?“
„Alles besser, als was danach kommt.“
„So spricht der wahre Progressophobiker.“
„Ja, aber einer der in der Hauptstadt Europas lebt, zu Beginn der ersten 20er Jahre des Dritten Jahrtausends! Na, ist das was? Kein Grund, das alles trotzdem zu lieben?“
„Mehr als nur einer. … Ich glaub, du bist über den Punkt.“
„Bin ich. Aber immer noch drip, wa?“
„Schlaft gut. Wir hören uns. Wann war jetzt noch mal dein Geburtstag?“ Beide lachten.„Lass es einfach! … Schlaf du auch auch gut. Ach nee, na du weißt schon.“
„Ja, ich dich auch. Grüßt mir Berlin.“

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