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Screen Violence (Spezialepisode)

von | 2021 | 29. August | Die Serie, Staffel 5 - How does it feel?

„I’m writing a book
on how to stay conscious
when you drown.
And if the words float up to the surface
I’ll keep them down.“

(Chvrches und Robert Smith: How not to drown. 2021)

 

Sonntag, Dauerregen, Ferienende.
Perfektes Timing
für die erste Liveübertragung
der ersten großen Schlacht des Jahrhundertwahlkampfes:
Das TV-Triell.
Der vielleicht letzte Coup des (Privat-)Fernsehens.
Dafür aber das erste seiner Art
übertragen RTL und n-tv,
also die bildschirmgewordenen Versionen
von Bild und Welt.
Die Zeit schreibt den deutschen Bildungsbürger*innen
(in der online-Ausgabe am Nachmittag)
um kurz nach drei
bereits vor,
was sie vom Schlagabtausch der Kanzlerkandidat*innen
zu erwarten hat:
„Seriös auftreten,
aber nicht kühl,
gut im Thema,
aber nicht detailverliebt:
Heute ist das erste von drei Triellen
– erstmals ohne Amtsbonus.
Worauf kommt es dabei an?“

Autsch!
Das erste von dreien auch noch!?
Der Spannungsbogen geht so:
Heute der Auftakt,
in zwei Wochen die Schlacht,
und drei Tage vor der Wahl das Endgame.
Vermutlich ist über diesen hollywoodesken Sendeplan
drei Jahre lang beraten worden
und mehr als die Hälfte davon
in Zoommeetings,
dem modernen Massaker der Massenkommunikation.

Und heute also im Privatfernsehen.
Und das bedeutet auch:
Werbeunterbrechungen.
Für jede Störung im Betriebsablauf ein Mittelchen.
Heile Welt in HD.
Auch nach fünf Sekunden nicht zu skippen.
Im Vorabendprogramm
wirkt das wie aus der Zeit gefallen:
WC-Erfrischer,
Gebrauchtwagenbörse,
(Next-Gen-)Staubsauger (mehrmals),
Krankenversicherungen,
Süßigkeiten,
Eis am Stiel,
Reisebüros,
Shampoo.

Bis zum Startschuss,
um kurz nach Acht,
informiert derweil die Bauchbinde,
was die möglichen Inhalte
der Debatte sein könnten.
Aneinandergereiht,
vor dem Hintergrund irgendwelcher Dokus,
schreien uns
die aktuellen Meldungen
weiß auf rot an.
Wenn man nur kurz blinzelt,
hat man schon den Faden verloren:
Bundesligaergebnisse,
10.000 beim CSD in Köln,
Querdenker in Berlin,
30 Tote im Jemen,
Überschwemmungen und Evakuierungen in den USA,
Schlacht um Kabul,
Inzidenz in Wuppertal bei 250.
Wieder über 1000 Intensivbetten
mit Covid-19-Patienten belegt.
Dazwischen natürlich auch noch Wahlkampf.
Politikerzitate.
Der Ton wird permanent verschoben.
Irgendwann sieht man nur noch Buchstaben,
ihr Zusammenhang ist aufgelöst.
Habeck sieht Terrorgefahr auch in Deutschland.
Baerbock will die gesamte Bundeswehr überprüfen.
Lindner will auch irgendwas.
Weidel und Bartsch nur vielleicht.
Aber immerhin:
Alle Nichtkandidaten fordern was.
Die Beraterteams für die Abendshow
haben sich schon das dritte Mal
Kaffee nachgeschenkt.
Vor lauter Spannung
fürchtet man sich fast,
dass die Schwarzen Spiegel
heute Risse kriegen.
Mindestens 10 Millionen davon.

19:45 Uhr

Der n-tv-Livestream im Internet hackt
eine halbe Stunde vor Beginn
schon auffällig,
schließlich sollen ja alle den Fernseher anmachen.
Im Vorprogramm laufen die Kandidatenportraits
und alles, was Rang und Namen hat,
beteuert, dass der Kandidat aus der jeweils eigenen Partei
natürlich Kanzler*in kann
und der Kandidat einer gegnerischen Partei eben nicht.
Die sind aber eigentlich egal,
weil der Schattenkanzler der Union (Maggus Söder)
schon den ganzen Tag mit seinen Aussagen
im Sommerinterview viele erste Steine wirft.
Was hängen bleibt:
Olaf Scholz betreibe „Erbschleicherei“ („der langweilige Arbeiter*in“).
Es drohe ein „historischer Linksrutsch“.
Und Schwarz-Grün-Gold wäre das beste für Deutschland.
So spricht jemand,
der die Niederlage zumindest nicht ausschließt.
Die Spiele mögen also beginnen!
Es riecht schon nach Kunstblut auf den Fernsehkameras.
Mit welchen Waffen wird in der Arena gekämpft?
Wer steht am Ende noch?
Und warum muss eigentlich immer irgendwer gewinnen?
Warum nicht mal alle?
Wär‘ halt nicht spannend.
Ein bisschen Splatter soll‘s schon sein.
Deswegen wird ganz kurz vor Beginn
auch noch mal die Zombiefrage gestellt:
Wäre Friedrich Merz nicht der bessere Kandidat gewesen?
Ähm, Moment … Nein.

20.11 Uhr

TV-Geschichte! (Sagen n-tv und RTL)
Das TV-Triell hat begonnen.
Armin links,
ACAB mittig,
Scholz rechts.
„Neustart für Deutschland“ – das Triell.
Dramatische Musik.
100 Minuten!
Erste Frage: Frau Baerbock, warum kann Olaf Scholz kein Kanzler?
Zweite Frage: Herr Scholz, warum kann Laschet nicht Kanzler?
ACAB: Erst mal Guten Abend?
Scholz gefällt der Stil nicht.
Dritte Frage: herr Laschet, warum kann ACAB nicht Kanzlerin?
Der redet lieber über sich.
Drei Fragen, drei mal: WTF?

20.15 Uhr

Endlich, Content.
Afghanistan.
Stimmt Scholz Merkel in ihrem bisherigen Kurs zu?
Lockeres Bekenntnis zur Nato und EU.
Wie sieht Laschet das?
Desaster des Westens und der Bundesregierung.
Stärkung der Nachrichtendienste.
Rüstungsausgaben erhöhen.
Drohnen scheinen ok.
Und Frau Baerbock?
Nicht vor der Verantwortung wegducken!
Armin und Olaf kriegen direkt jeder eine Ohrfeige.
Die Nachfrage zur Rüstung kommt prompt.
ACAB antwortet mit einem ausweichenden Jein.
Und schämt sich Olaf eigentlich nicht?
Ist er entetzt? Ja.
Und ja, Rüstungsausgaben bleiben i.O.
Aber was tut man denn nun?
Was passiert mit den Ortskräften?
Da grätscht Laschet aber noch mal nach
und hat bereits Speichel im Mundwinkel,
der Zuschauer weiß:
Der greift an!
Scholz hat die Euro-Drohne blockiert.
ACAB hat keine Haltung!
Hat der doch aber gar nicht,
und hat die  doch aber!
Die CDU hat im Juni gegen die Evakuierung der Ortskräfte gestimmt.
Wie kann es sein, dies, wie kann es sein, das?
Armin antwortet dann lieber auf eine Nachfrage,
darf sich staatsmännisch geben.

20.30 Uhr

Pause. Uhrenvergleich.
Wer hat schon wie lange gesprochen?
Noch halbwegs ausgeglichen.
Nächstes Thema, klar:
„Corona“.
Laschet will noch vorsichtig sein,
und will kein „Freedom Day“-Datum nennen.
Anna-Lena will sich auch nicht festlegen
und spielt die Impfkarte.
Benennt dann das Luftfilter-Desaster.
Scholz hängt sich dran.
Beim Unterthema Thema Lockdown bleibt ACAB bei „Stand heute“,
die Männer schließen das aus.
Noch sind sich alle erfreulich einig.
Vor allem beim Thema Schule.
Die Impfpflicht darf wieder Anna-Lena als erstes ablehnen,
was sie aber nur bedingt macht.
Scholz erklärt die Luftfilterfinanzierung noch mal.
Da grätscht Anna-Lena als nächstes dazwischen,
Olaf, als Regierungsverantwortlicher,
holt sich die nächste Schelle ab.
Laschet auch, schlägt aber sofort zurück:
In den von den Grünen mitregierten Ländern
ist es doch auch nicht alles super gelaufen.
Darauf hat Anna-Lena nur gewartet:
Der Bund sollte mehr Rechte in der Bildung erhalten.
Und dann kommt sie doch noch:
Die anstehende Durchseuchung.
Scholz: Hofft, dass die Vorsicht der Kinder reicht.
Leider wird hier nicht weiterdiskutiert,
denn Peter Kloeppel (Moderator, RTL)
will lieber noch mal über das Hick-Hack „Bundesnotbremse“ sprechen.
Zum Schluss des Blocks nochmal die Dreierfrage zur Impfpflicht:
Baerbock: Stand heute: Nein.
Die anderen beiden: Nein.

20.50 Uhr

Das Jahr der Krisen.
Immer noch Top-Krise:
Der Klimawandel.
Da der feststeht,
gleich die Frage nach den Maßnahmen.
Die Grünen haben hier die Antwort:
Die totale Energiewende.
Solarpflicht auf jedem Dach.
Verbot des Verbrenners ab 2030.
Die SPD kann sich nur anschließen.
Energiewende ausbauen.
Stromnetze modernisieren.
Verboten wird aber nix.
Die CDU will sich mit Bürokratieabbau einbringen.
Und irgendwas verbieten will auch keiner.
Jetzt muss Anna-Lena ja aufdrehen,
und das macht sie auch.
Laschet gibt sofort den Schutzpatron der Stahlindustrie.
Diese Schwäche nutzt Scholz:
Verfahrensverschleppung!
Da geht Peter Kloeppel dazwischen:
Die Herren! Die Menschen da draußen
würden sich doch fragen:
Wer zahlt die ganze Zeche?
Scholz sagt de facto: Green New Deal!
Die Industrie wird sich anpassen (müssen).
Das findet Frau Baerbock doch super, oder?
Nee, erschreckend findet sie das!
Too little, too late!
Ohne Verbote (z.B. Ölheizung) wird es nicht gehen.
E-Autos müssen gefördert werden.
Armin Laschet hat noch eine Grundbotschaft:
Der schwierige Kohleausstieg wird gelingen.
Aber ohne Steuererhöhungen.
Im Gegenteil!
Das Land der Erfinder wird das doch wohl hinkriegen!
Was für Erfinder genau?
Richtig, Autoerfinder.
Junge, Junge.
Zum Schluss die Antwort
auf den Klimawandel:
Alles wird teurer.
Andere Vorschläge hat eigentlich niemand.
Nochmal drei Fragen:
Flugverbote?
Autofreie Innenstädte?
Ostsee oder Mallorca?
Den Elefant im Raum nennt keiner:
Das regelt der Markt.

21.15 Uhr

Soziale Gerechtigkeit,
meint: Umverteilung.
SPD-Thema.
Scholz will das Steuersystem besser austarieren,
auch für Leute wie ihn.
Laschet malt sofort
das sozialistische Monstrum
voll an die Wand
(Steuererhöungen sind „einfach nur töricht!“),
und der Soli soll auch noch weg!
Sonst wandert die Industrie ab!
Scholz würde gerne antworten,
aber ACAB ist dran:
Sie, als Mutter, sieht jedes fünfte Kind in Armut
in einem der reichsten Industrieländer der Welt.
Kindergrundsicherung!
Und damit liegt der Unterschied
zwischen der Union und den anderen
endlich auf dem Tisch:
Die Steuern.
Wahrscheinlich schalten jetzt die meisten ab.
Obwohl Anna-Lena die Runde offensichtlich
für sich entscheidet.
Laschet steht blöd da,
Scholz steht blöd daneben
und darf zum Schluss noch sagen,
dass er die Mehrwertsteuer nicht anfassen wird.
Und auch keine Erhöhung des Rentenalters.
Dreimal unterstrichen!

21.28 Uhr

Peter hätte gerne noch weiter geschwatzt.
Aber: Nächstes Thema.
Was fehlt noch?
Sicherheit?
Die gespaltene Gesellschaft?
Warum nicht beides?
Eröffnende Unterscheidung:
Wo fühlen sich Frauen am unsichersten?
Laschet holt gleich
alle anderen Bedrohungen auch noch raus,
deswegen:
Öffentliche Überwachung ausbauen.
Stärkung der Polizei.
Starker Staat.
Scholz stellt richtig fest,
Laschet hat sich bei dem Thema verheddert,
macht es aber selbst nicht besser.
Anna-Lena schafft es auch nicht
über das Thema Sicherheit hinaus.
Die gespaltene Gesellschaft bleibt also gespalten.
Ein nächster Anlauf,
aber Peter Kloeppel bleibt beim Gendern hängen.
Aber hier will keiner eine Sprachpolizei,
auch Anna-Lena nicht,
erklärt aber gern noch mal,
was ganz normal ist.
Schließlich haben 16jährige
ja auch noch nie einen echten Kanzler(-) gesehen.
Man hätte über Antismitismus, Terrorismus und Radikalisierung reden können,
stattdessen muss Armin noch mal betonen,
dass Indianer zu sagen,
nun doch nicht der Weltuntergang sei.
Oha. Gute Frage an Scholz:
Darf man noch Ossi und Wessi sagen?
Ist ihm nicht so wichtig.

21.43 Uhr

Dem Armin aber schon:
Ossis erwarten vor allem Ehrlichkeit! Was er nicht sagt.
Und spricht von einer ganz tollen Generation bei den Ostdeutschen.
Bitte. Gern.
Olaf dann doch noch mal,
endlich kommt sein Wahlkampfhammer:
Respekt. Er wohnt jetzt sogar im Osten.
Und die Anna-Lena nämlich auch!
Deswegen sieht sie die Ungerechtigkeit auch so genau.
Und hat den frischsten Wind in ihren Forderungen,
die sich nicht wesentlich von den anderen unterscheidet.

21.50 Uhr

Finale:
Mit wem würden‘s denn nun gern?
Aber erst mal noch eine befohlene Honigdusche der Kandidaten,
jeder darf dem anderen mal was nettes sagen.
Aber jeder bleibt äußerst höflich,
denn die Gräben sind tief.
Klimaschutz zwischen CDU und Grünen.
Natobekenntnis zwischen SPD und Linken.
Was auch der Armin und Peter Kloeppel natürlich ganz schlimm finden,
und ersterer sagt schon mal,
mit wem er definitiv nicht regieren wird.
Olaf Scholz hat aber wenigstens noch Bock
auf Prinzipien und Respekt,
mit wem zusammen auch immer,
außer der AfD,
die er nicht mal explizit ausschließen muss.
Und die Grünen?
Wollen auch nicht mit den Natokritikern.
Ist Rot-Rot-Grün gerade gestorben?
Was sagt die Linke eigentlich dazu?
Die Frage nach der Deutschlandkoalition wird nicht gestellt.
Warum nicht?

21.57 Uhr

Nur noch drei Minuten.
Die Schlussplädoyers:
Echter Aufbruch! (Grüne)
Eine Gesellschaft des Respekts! (SPD)
Standhaftigkeit! (CDU)

22.00 Uhr

Das letzte Drittel war fürchterlich ausgefranst,
das wirkt nicht nur so.
Gefühlt hat Scholz etwas verloren,
Laschet konnte nichts mehr gewinnen
und ACAB hat in der Mitte schon ganz richtig gestanden.
Es gab teils relativ klare Positionierungen,
wegen teils knackigen Fragen.
Ansonsten war das ganze,
kaum überraschend:
Aua.
Aua.
Aua.

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