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Lesen

Wohin du dich drehst,
überall unsichtbare Wände.
Du lehnst die heiße Stirn
gegen das Glas.
Ein müder Pantomime.
Du hebst nicht mal mehr die Hände.
Und unter deinen Schuhen
wächst das Gras.
Und du fragst:
Ist denn alles,
was mir noch bleiben soll,
unsichtbare Botschaften zu schreiben?
Ist denn alles,
was von mir bleiben soll,
mein S.O.S.
im Atem
an den Scheiben?

Und du bleibst Jahr für Jahr
in deinem Käfig aus Glas.
Und du drehst Kreise
um Kreise
um Kreise
um Kreise
um Kreise.
Und ja, ja, ja,
vielleicht macht das ja Spaß!
Immer entlang an der Käfigwand.
Auf dieselbe Weise.“

(Wir sind Helden: Kreise. 2010)

 

In den vermeintlich letzten Wochen der Pandemie verbrachte der Brillenträger die meisten Abende inzwischen auf immer dieselbe Weise: Solange Hausaufgaben machen, bis ihn die Kraft und/oder die Lust verließen. Dann vor dem großen Schwarzen Spiegel Abendbrot essen. Danach dann im Internet auf immer den gleichen Seiten surfen, solange bis er sich dann satt gelesen hatte, dann ins Bad, dann ins Bett. Noch ein paar Meter irgendwas schlaues lesen, oder auf dem Handy daddeln, oder gleich Musik an- und das Licht ausschalten. Schlafes Bruder. Nur immer noch wach.
Und zwischendrin verhakten sich seine Gedanken immer wieder und immer öfter in seinem Blog. In diesem Projekt, das er sich vor ein, beziehungsweise auch zwei Jahren und vor lauter allgemeiner Überforderung nebenbei zugelegt hatte. Das ihm manchmal wie das bedeutendste Kunstwerk der Gegenwart erschien, das auch noch ausgerechnet ihn als Medium erwählt hatte, wodurch er sich wichtig und erhaben fühlte. Das ihm aber genauso oft wie die dümmste Schnappsidee der letzten 40 Jahre vorkam. Nichts weiter als eine Projektionsfläche für seine Verunsicherung, der er immerhin aber jedes Mal die Schuld geben konnte, wenn ihm wieder mal alles zu viel wurde; Leute, ich kann heute nicht, ich muss noch schreiben. Ein Projekt, auf das er ebenso stolz war, wie er sich dafür schämte. Irgendwo zwischen Dostojewski und Dieter Nuhr, oder noch schlimmer, dem Volkslehrer. Und vor allem ohne Reichweite. Aber, so sagte er sich, darum ging es ja wohl nicht. Das ließe er sich doch nur einreden, von all den anderen erfolgreichen Bloggern, Podcastern, Kolumnisten und sonstigen Geistesarbeitern. Echte Kunst müsse immer noch reifen und nicht auf den schnellstmöglichen Erfolg schielen.
Der Brillenträger merkte dann, dass sich auch diese Gedanken ständig wiederholten. Gefangen auf der Metaebene. Gefoltert durch das eigene Spiegelbild. Das Selbstmitleid neu erfunden. Narziß und Goldmund in einer Person. Katharsis, Melancholie oder doch Depression? Vielleicht sogar Burnout? Und wäre das in seinem eigentlichen Beruf nicht sowieso ganz normal? Schrieb er deswegen, und war sich nur noch nicht darüber bewusst?

Am letzten Freitagabend des Januars war es jedenfalls wieder ganz genau so: Eigentlich konnte er nicht mehr. Die Schultage waren immer noch aufreibender geworden, wenn das denn überhaupt noch möglich war. Jeder Morgen war inzwischen überschattet von der Frage, wen es wohl heute treffen würde, und wie viele. Keine Maßnahme schien noch wirklich Wirkung zu zeigen, weswegen sich auch immer weniger an irgendetwas hielten. Sein Dagegenhaltenmüssen raubte ihm inzwischen mehr Kraft als der gesamte Rest des Lehrerdaseins. Darüber hätte der Brillenträger doch auch schreiben müssen. Nicht nur ständig über das große Ganze im kleinen Detail. Sondern auch über das ständige Scheitern am eigenen Anspruch in den vielen kleinen Dingen des neu-normalen Lebens. Und über seine bis auf die Knochen abgeschmirgelte Hornhaut.
Aber irgendetwas wollte ihm weismachen, dass sich dafür erst recht niemand interessieren würde, weswegen er es auch nicht aufzuschreiben brauchte. Das Nagen der Frustration und Enttäuschung kaute sowieso schon zu sehr an seinen Nerven. Also griff er zum altbewährten Strohhalm der Selbstreflektion in der Projektion: Wie ging es denn den Kolleginnen so?

Er verbot sich, über seine wirklichen in der Wirklichkeit zu schreiben (auch wenn ihm die Finger danach juckten), aber dieser Tage war auf den Schwarzen Spiegeln ja auch des Öfteren die Rede von Schule. Irgendwie hatten da ganz viele mal wieder größeres Interesse dran. Und war es nur als Clickbait für Menschen, die sich gerne Sorgen um den Zustand der Bildung machten. Neben den üblichen Forderungen nach irgendwas besserem, fanden sich in den letzten Tagen aber auch kleine Geschichten, die mehr über den Zustand der Bildung verrieten als jede Debatte über Digitales Lernen.
Da war die fast schon erlösende Meldung, dass Nicolai Nerling, der „Volkslehrer“, nach Brasilien geflohen war. Ein völlig vom Wege abgekommener Ex-Kollege, der einfach kein Mittel finden konnte, gegen das rechte Herz in seiner deutschen Brust aufzubegehren. Dem bei seiner Rückkehr die sofortige Verhaftung wegen besonders schwerer Volksverhetzung droht. Und der, ginge es nach dem Brillenträger, sofort von einem Volksgericht zu 25 Jahren Hegel-Lesen verurteilt werden müsste.
Da war aber auch die Nachricht über ein Buchverbot in Tennessee. Mehrere Schulvertretungen hatten entschieden, die wahrscheinlich schonungsloseste und brillianteste Abrechnung mit der Shoah aus den Bibliotheken zu entfernen, Art Spiegelmans „Maus.“ Und zwar genau am 27. Januar. Weil: Zu einseitig. Das war Zensur begründet mit Meinungsfreiheit, die Dialektik der Aufklärung war am diesjährigen internationalen Holocaust-Gedenktag nur unter Tränen in den Schlaf gekommen.
Aber da war auch die Geschichte von Michelle Lujan Grisham. Die führende Frau in New Mexico half seit ein paar Tagen in einer Schule als Lehrerin aus. Zum Knutschen! Der Brillenträger malte sich kurz aus, wie es wohl wäre, wenn Reiner Haseloff am Montag mit FFP2-Maske bei ihm im Lehrerzimmer sitzen und einfach mal so fragen würde, wo er denn behilflich sein könnte. Wenn er recht überlegte, war das doch die ideale Story für eine Kurzgeschichte. Absurdes Theater als Spiegel der absurden Welt. Der Landesvater mit Kreide an der Tafel. Fünfte und sechste Stunde. Ethik. Thema: Wert und Praxis der Solidarität.

Aber im selben Moment, als er die Finger auf die Tastatur legen wollte, begannen sich die Buchstaben auf seinem Monitor von selbst zu schreiben. Sofort nahm er die Hände wieder zurück. Es war endlich soweit! Endlich! Er überlegte nicht mal, ob er sich das nur einbildete. Er wollte es ja so. So lange schon! Morpheus! Oder Trinity! Oder Neo! Oder irgendwer da draußen! Endlich war alles nur ein Traum gewesen!
Als der Brillenträger wieder Luft bekam, begann er die Worte und Sätze zu lesen, die sich munter weiter vor seinen Augen auf dem weißen Gegenlicht seines schwarzen Spiegels formten.

 

Hi,
ja sorry, not sorry.
Aber ohne Erschrecken
ging es einfach nicht.
Jetzt tu nicht noch so!
Du weißt,
wer hier schreibt.
Vergiß deinen phantastischen Eskapismus
mal ganz schnell wieder!
Wir sind‘s,
#DieDoppeltenZwanziger.
Ach?
Etwa enttäuscht?
Wir glauben,
mal ein ernstes Wörtchen
mit dir reden zu müssen:
Reiß dich mal zusammen!
Nimm uns mal nicht so wichtig!
Uns reicht es doch,
wenn du uns schreibst.
Immer dieser Kampf
mit uns selbst!
Peace or Love?
Was soll das denn?
Warum denn nicht beides!?
Spazieren gehen und tanzen!
Man,
du hast hier deine eigene Publikation!
Was willst du denn noch?
Du hast dir vorgenommen,
den großen Wurf abzuliefern,
dann mach doch einfach!
Man,
wir haben sogar Leser!
Nicht viele,
aber dafür anscheinend treue.
Du bist kein verkanntes mehr,
nur ein noch unbekanntes Genie!
Ja, klar schmieren wir dir
bloß Honig um‘s Maul.
Wer soll uns denn sonst schreiben?
So irre ist doch keiner.
Was wetterst du gegen
selbstgerechte Selbstdarsteller,
wenn du es selbst nicht lassen kannst?
Man,
lass es einfach!
Wir haben hier nämlich ganz andere Sorgen!

Womit wir beim eigentlichen Grund
unseres Schreibens wären.
Wir machen uns nämlich
Sorgen um uns.
Denn zugegeben,
wir haben Angst
vor dem Danach.
Was passiert mit uns,
wenn die große Aufregung
wieder vorbei ist?
Wenn die Welt wieder
normal geworden ist?
Denn was kann schon noch kommen
nach diesem kleinsten Sieg
im Krieg um das menschliche Überleben,
den wir auch bloß geschenkt bekommen haben?
Richtiger Krieg?
Richtiger Frieden?
Richtige Katastrophen?
Müssen wir legitimieren,
wenn wir dokumentieren?
Bleiben wir (selbst-)kritisch?
Geben wir uns auf
und werden beliebig?
Heulen wir mit dem Facebook-Feuillton?
Machen wir der Zeit Konkurrenz?
Können wir lit und real gleichzeitig sein?
Wollen wir das eigentlich?
Müssen wir nur wollen?
Geht nicht noch mehr?

Du siehst,
du bist uns noch
ne Menge Antworten schuldig.
Deswegen kommen wir dir
heute mal ein bisschen entgegen.
Hier ein paar Vorschläge,
falls dir mal die Ideen ausgehen sollten:
Erstens:
Kümmer dich mal mehr um Quedlinburg!
Über den ganzen Rest
schreiben doch eh schon genug andere.
Und sollte dir das
als Alleinstellungsmerkmal
(wichtiger Baustein literarischen Erfolgs)
nicht reichen,
dann, zweitens,
schreib auch noch mehr
über deinen Beruf.
Na gut,
vielleicht ist das doch nicht so originell;
wir haben uns mal umgeschaut,
was für Leute so
unter dem Stichwort Zeitgeschehen bloggen.
Kommst du nie drauf:
Der erste Treffer
war ein Lehrer.
Drittens:
Vergiss trotz allem Verlangen nach Feedback
nicht dein Ziel:
Das hier ist nicht für jetzt,
sondern für die Nachwelt!
Für Menschen,
die irgendwann
auf der Suche nach Dokumenten sind,
die wi(e)derspiegeln,
wie wir wirklich waren,
als wir es waren.
Widersprüchlich.
Unsicher.
Hoffnungsvoll
verzweifelt.

Viertens, und letztens,
also am wichtigsten:
Schau mal auf deinen Schreibtisch,
was da neben uns
so alles wartet.
War nicht eine unserer Prämissen,
dass die Schule immer vorgeht?
Dass das alles hier
nur so nebenbei ist?
Dein erster Abiturjahrgang
wartet!
Das höchste,
was du ein deinem selbstgewählten Leben
erreichen kannst.
Deine Abschlussklasse
verlässt sich auf dich,
bevor sie dich verlässt,
wenn du sie in dieses Chaos entlässt.

Wir denken,
wir verstehen uns.
Und wir haben nicht so bald Lust,
hier wieder aufzutauchen.
Sich selbst zu schreiben,
ist echt keine Freude.
Aber wem schreiben wir das?

 

Der Brillenträger starrte noch einige Zeit auf seinen Bildschirm, aber es erschienen keine weiteren Buchstaben mehr. Stattdessen öffnete sich sein Interbrowser. Youtube. Ein Musikclip, nur ein Plattencover war zu sehen. Dazu quetschte sich ein Lied durch die Lautsprecher. Bevor er seinen Blick aus dem Fenster richtete und nur noch die gesungenen Worte verfolgte, las er die schwarzen Buchstaben auf gelbem Grund: Nie wieder Krieg.
Dann klappte er das Notebook einfach zu. Er ging ins Bad und betrachtete sich im Spiegel. Nach ungezählten Minuten wanderte sein Blick zu der Postkarte, die nun schon seit Jahren eines der ersten Bilder war, die er fast jeden Abend und fast jeden Morgen sah. Ein Seiltänzer über den Dächern der Stadt, der auf einem silberfarbenen Seidenfaden auf den untergehenden Mond zubalanciert.

 

„Ich blicke zurück
in meinen Spiegel.
Die Dinge sind näher
als sie erscheinen.
Woran das liegt,
kann ich nicht sagen.
An der Physik,
oder den Träumen?
Und all meine Freunde,
all meine Feinde
feiern und streiten
und begleiten mich
zu mir nach Hause.
Durch diesen Wald.
Es dämmert schon bald.“

(Tocotronic: Crash. 2022)

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