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Ikarus (Teil 1) (S7:Ep1)

von | 2022 | 9. April | Die Serie, Staffel 7 - Half a world away

„Run and tell all of the angels:
This could take all night.
Think I need a devil
to help me get things right.
Hook me up a new revolution!
Cause this one is a lie.
We sat around laughin‘
and watched the last one die.“

(Foo Fighters: Learn to fly. 1999)

 

 

Teil 1 – Wer hat an der Uhr gedreht?

 

Game Time!
Das Spiel geht doch noch weiter.
Nur für die Los Angeles Lakers,
die legendärste Basketballmannschaft des Basketballuniversums,
ist dieses Jahr
nach den regulären NBA-Saisonspielen
Schluss.
Und ich muss bekennen,
dass ich offensichtlich also doch
absolut keine Ahnung
von dieser Liga habe.
Mein Bulls-Hype zur Saisonmitte
hat sich als mittelmäßig herausgestellt,
und meine Vorhersage
der Rekordmeisterschaft
der kalifornischen Lake Show
geht jetzt mit King James
zum Fischen.
Traurig ist dieser tiefe Fall alle mal:
Da spielt der zukünftige
alleinige
Punkterekordhalter
eine der besten Spielzeiten seiner Karriere,
immerhin mit satten 37 Jahren,
und zerrammelt sich am Ende
sogar selbst noch das Sprunggelenk,
aber alle um ihn drumherum
spielen meistens eher unterirdisch,
oder gar nicht,
weil, genau, verletzt.
Es hätte doch mal wieder
der große Wurf werden sollen!
Nach dem tragischen Tod des Metalakers (KB 8/24)
vor über zwei Jahren,
dem historischen Gewinn der ersten
und letzten Pandemiemeisterschaft der Ligageschichte,
und einer aktuellen Big 3,
die gruseliger kaum klingen könnte
(The Brow, The Brody, LeBron),
ist dieser Überflug
also jetzt
krachend gescheitert.
Und ich kann den nächsten Traum
an den Haken hängen:
NBA-Basketballexperte
werde ich also auch nicht mehr.
Dazu äußere ich mich also erst wieder,
wenn der nächste Kandidat
auf der GOAT-Liste
das erste Mal in den Finals steht.
Die Rede ist von Luca Doncic,
und allzu lange
wird das auch nicht mehr dauern,
denn der hat ja nicht gerade erst
mit seinem Legendenflug
angefangen.
Nach The Chosen One
kommt The Don.
Proof me wrong.

Und weil es gerade
so unbeschwert zugeht,
bleiben wir doch noch kurz
bei Belanglosigkeiten;
wenigstens zu Beginn der neuen Staffel
sei uns ein wenig Leichtigkeit vergönnt;
zu den wirklich relevanten Abstürzen
kommen wir ja gleich noch zur Genüge.
Denn auf dem harten Boden der Wahrheit
sind in der letzten Woche
auch zwei Typen gelandet,
die das mit der Kritischen Maskulinität
anscheinend nicht mehr lernen werden,
genauso wenig wie,
dass vor dem Fall
immer der Hochmut kommt.
Typ 1:
Boris Becker.
Ehemals hochtalentierte Hanswurst.
Jetzt auch wegen
diverser Finanzverbrechen
schuldig gesprochen,
vielleicht bald im Knast;
der zuständigen Richterin
sagt man wenig Sympathien
für solche Typen nach.
Typ 2:
Will Smith.
Eben noch als Ehrenretter seiner Frau gefeiert
und seinen ersten Oscar
weinend
vor stehenden Ovationen bekommen,
zwei Tage später
hatten alle nochmal drüber nachgedacht.
Ergebnis:
Vorläufiges Karriereende,
die Academy schließt ihn für 10 Jahre aus.
Ich persönlich denke übrigens auch,
dass die Ohrfeige (auch) Kalkül war:
Der nächste Bad Boys-Aufguss
hätte sich keine bessere PR
ausdenken können.

So, reicht.
Dann also
ohne weitere Umschweife
zurück zum Ernst
der Lage.
Denn dem geht es ja bekanntermaßen
immer schon schlecht.
Aber auch dieses Jahr,
das gerade erst drei Monate alt ist,
übertrifft
inzwischen auch gar
nicht mal mehr überraschend,
alles.
Allen ist inzwischen klar,
dass der Höhenflug der Menschheit
vorbei ist.
Es ist einfach zu heiß geworden,
das Wachs in den Flügeln der Humanität
hat bald seinen Siedepunkt erreicht,
die ersten Federn haben sich bereits gelöst.
Die Chance auf ein Umkehren
ist lange verpasst,
und eine weiche Landung
ist aus dieser Höhe ausgeschlossen.
Es ist jetzt bestimmt zu spät,
um das zu fragen,
aber:
Weiß eigentlich jemand,
ob Ikarus geschrien hat,
als er fiel?
Ob er über die Konsequenzen
seines Ausflugs bereits vorher
oder währenddessen
nachgedacht hat?
Ob auch er,
so wie wir alle,
selbst im Fallen noch,
trotzdem noch, bis ganz zum Schluss
immer noch gedacht hat:
Bis hierhin läuft es noch ganz gut,
bis hierhin läuft es noch ganz gut,
bis hierhin läuft es noch …
(Hier würde es
für den ersten Kommentar
mit der richtigen Referenzangabe
einen Punkt
auf der Vincent Cassel-Gedächtnis-Skala geben.
Aber nur würde;
wir sind ja hier nicht bei imdb.)
Und, nächste Frage,
ab wann genau
hatte Ikarus vergessen,
dass die ganze Höhenflugsnummer
nur ein böses Ende nehmen kann?
Noch bevor er begonnen hatte zu fliegen?
Letzte Frage:
Können Metaphern auch schmelzen,
wenn ich sie zu lange
unter die Schreibtischlampe halte?

Allerletzte, also wirklich relevante Frage:
Wie komme ich jetzt von Ikarus
zur brennendsten Frage der Gegenwart:
Wie tief ist Russland bereits gefallen?

Erst der völlige Verlust
auch noch des letzten Restes
jedweder Staatsmoral (Angriffskrieg),
dann die postwendende (Selbst-)Isolation
im Weltwirtschaftskrieg,
dann die ersten unabhängig bestätigen Kriegsverbrechen,
dann der vorläufige Rausschmiss
aus der Weltgemeinschaft,
i.e. UN-Menschenrechtsrat.
Man könnte meinen,
tiefer kann ein Land nicht mehr fallen,
übersieht dabei dann aber folgendes:
Der Rubel hat sich,
alle marktwirtschaftlichen Unkenrufe
Lügen strafend,
fast schon kunstvoll stabilisiert;
Moskaus Plan C „funktioniert“ vorerst.
Auch das Verhältnis mit allen,
außer dem Westen
(Nordamerika, große Teile Europas,
einige Teile Südostasiens und Ozeanien)
hat sich eher verfestigt,
was sich besonders gut daran zeigt,
wie die BRICS-Staaten
(Brasilien, Russland,
Indien, China und Südafrika)
bei besagtem Rausschmiss abgestimmt haben,
nämlich entweder für
oder zumindest nicht gegen Russland.
Die Ziele der „Spezialoperation“
sind weiterhin erreichbar,
die „Hysterie des Westens“
wird perfide für die eigene Propaganda ausgenutzt:
Nach dem „Massaker von Butcha“
herrscht im Land
sogar noch mehr Zustimmung.
Weswegen auch nur noch
ganz wenige Russen was dagegen haben,
dass dort jetzt sogar
die beiden größten Menschenrechts-NGOs
(Amnesty International und Human Rights Watch)
nicht nur sinnlos, sondern: verboten sind.
Besagtes Massaker
wird von Moskau einfach dementiert,
oder eben den „Nazis“ in die Schuhe geschoben.
Wahr? Gelogen? Egal. Zweifel sähen reicht.
Vielleicht waren es ja auch nur
wild gewordene tschetschenische Söldner,
kennt man ja von denen.
Die Dementis der Gräueltaten
der (dann mutmaßlich) syrischen (Ex-IS-)Söldner
in Mariupol werden schon vorbereitet,
da sind die Nebel des Krieges
noch nicht mal bei voller Dichte angelangt.
Denn die Schlacht
um das Stahlwerk der Hafenstadt
am Asowschen Meer
hat noch gar nicht richtig begonnen,
da bilden sich schon
die ersten revanchistischen Legenden
auf beiden Seiten.
Und auch Odessa ist noch nicht sicher,
denn auch da hat Moskau
schon eine Entschuldigung gefunden:
Nicht nur dass eines der schrecklichsten Verbrechen
des ukrainischen Bürgerkriegs
(die Niederbrennung
eines prorussischen Gewerkschaftshauses
kurz nach der „Maidan-Revolution“ Anfang Mai 2014, 48 Tote)
in der Hafenstadt am Schwarzen Meer stattgefunden hat,
sondern auch:
„Anfang März (diesen Jahres)
wurde Maxim Martschenko,
der ehemalige Kommandeur
des von Menschenrechtsorganisationen
für seine zahlreichen Gewaltexzesse angeklagten
„Adjar“-Batallions,
zum Gouverneur der Oblast Odessa ernannt.“
(jw. 2. April 2022)

Und wer jetzt noch nebenbei
Wikipedia aufmacht,
und sich mal zum besagten Bataillon schlau macht,
versteht,
warum Putinversteher
Putin verstehen.

Denn der ist eben nicht
„kulturell gescheitert“,
sondern,
mit willfähriger Unterstützung
der freiheitlichen Demokratien,
längst am Ziel.
Nicht nur die Würfel sind gefallen,
sondern auch der Eiserne Vorhang 2.0.
Oder wie Nato-Chefversprecher Jens Stoltenberg
vorgestern angekündigt hat:
Man könne die Ukraine noch
auf Jahre (sic!)
mit Waffen beliefern.

Wer jetzt also immer noch von
einem Neuen Kalten Krieg spricht,
dem ist es anscheinend
noch nicht heiß genug.
Die Brandmauer,
die die Welt auf‘s Neue teilt,
steht fast schon direkt vor unseren Nasen.
Und weil die Geschichte
eben gerne auch mal selbstironisch ist,
stehe, z.B. ich
dieses Mal auf der anderen Seite.
So haben sich die 80er
drüben also angefühlt.
Während ich von tapferen Indianern und Cowboys
im Westen
geträumt habe,
haben die von der anderen Seite
Spendenpakete geschickt,
was hätten sie auch anderes tun können?
Immerhin waren wir
die mit der Pflichtarmee
und den russischen Panzern und Raketen
im Rücken.

2022 ist die Position Gesamtdeutschlands
auch geopolitisch deutlich privilegierter.
Da kann einer von den Klitschkos
seine ehemalige Wahlheimat
sogar extra auf Twitter
(und nicht auf Telegram1!)
zum Bruderland erklären,
das Bruderland mag dennoch
nicht so recht.
Unter Zugzwang stehen wir ungern
und mit der angeblich von allen
erwarteten Führungsrolle
tun wir uns auch schwer.
Wahrscheinlich wollen wir
einfach nicht zu hoch fliegen?
Haben vielleicht sogar doch
aus der Geschichte gelernt?
Und immerhin ist die Sache mit der Abhängigkeit (Energie)
leider ein komplexeres
und sowohl nationales
wie auch internationales Problem.
Das mal wieder nicht wir,
sondern natürlich
der Markt schon regeln wird.
Zur Not dann eben
mit Mangelmarktwirtschaft,
wie dieses Beispiel
an sabotierter Problemlösung zeigt:
Der FDP-Verkehrsminister
sieht keine Chance
für ein Tempolimit
(eigentlich ja eine win-win-win-Option:
Klimaschutz, Verkehrssicherheit, Energiesparen).
Die Begründung allerdings
ist perverseste Realsatire:
Nicht umsetzbar!
Wegen Schildermangel!
Wer verrät ihm,
dass allgemeine Tempolimits
sogar massig Schilder einsparen würde?
Aber gut,
FDP und geistige Höhenflüge,
das erwartet ja auch keiner.

Denn die gibt‘s exklusiv nur hier,
am provinziellen Schreibtisch,
zwischen Internet,
Hausaufgaben,
Selbstgerechtigkeit
und dem sturen Traum
von einer irgendwie
besseren Zukunft,
in der sich
#DieDoppeltenZwanziger
einfach mal fallen lassen können.
Schwindelfrei segeln sie (in diesem Traum)
auf den Abgrund zu.
Sie wissen,
dass sie das beste
schon gesehen haben
und lassen die Vergangenheit
des Aufstiegs
im Fallen
an sich vorbeirauschen.
Zum Beispiel so:
Im Sommer des Jahres 2023
fährt ein deutscher Kleinstadtlehrer
irgendwo auf der Interstate 119
von Charleston, West Virginia
Richtung Nashville, Tenessee.
Die Scheiben seines Mittelklasse-Mietwagens
sind unten, der warme Wind aus den Appalachen
weht ihm westlich-liberal um die Nase
und aus dem Autoradio klingt ein Lied,
das ein altersloser Welthit wurde,
als er gerade so gelernt hatte,
was Musik ist.
Vor über 40 Jahren.
Völlig aus der Zeit gefallen.
Wie alle guten Träume.

 

„If you’re lost,
you can look
and you will find me.
Time after time.
If you fall,
I will catch you,
I will be waiting.
Time after time.“

(Cyndi Lauper. 1983)

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