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Days of the Tentacle (S7:Ep4)

von | 2022 | 8. Mai | Die Serie, Staffel 7 - Half a world away

„Late at night I switch on my radio.
I sing myself a lullaby.
I close my eyes and wait
till the wind blows round the corner
bringing back the memories to me.
Well we dreamed our lives,
and we lived our dreams.
We’ve sacrificed our future
for a heart of rock’n roll.“

(Fury in the Slaughterhouse: Won‘t forget these days. 1990)

 

 

Da waren die Gerüchte
also doch wahr:
Schon nächste Woche
ist dann aber wirklich
absoluter, weltpolitischer
Overkill.
Und zwar hier,
in Quedlinburg!
Das oberste Staatsoberhaupt kommt
für ganze drei Tage (!)
in diese,
fast hätte ich
vor lauter Lokalstolz
gesagt:
meine Stadt.
Noch lange bevor er
jetzt doch irgendwann
nach Kiew reist,
verlegt der Bundespräsident
seinen Amtssitz
für ganze drei Tage (!)
ins Weltkulturerbe
und möchte nebenbei
noch mit den Bürgern der Stadt
ins Gespräch kommen.
Da stehen natürlich
alle Schlange:
Jeder hätte ihm wohl einiges zu sagen,
einige hätten sogar jede Menge Fragen.
Und ich verspreche an dieser Stelle,
die Ohren offen zu halten.
Sollte ich irgendwas hören,
was dann nicht bereits
in allen Zeitungen steht,
dann wisst Ihr,
wo Ihr es
am nächsten Sonntag
nachlesen könnt;
mit besten Grüßen
aus der Zukunft. 😉

Apropos Nachlese:
Das hiesige Abitur
ist einer Nachprüfung unterzogen worden.
Die Prüfungsfrage lautete:
Was ist der möglichst
mieseste Moment
für unseren Landesvater,
das Abitur in Sachsen-Anhalt
schlecht zu machen?
Natürlich noch während
der laufenden Prüfungen.
Aber mit einfacher Kritik
ist es nicht getan,
er holt gleich zum Rundumschlag aus.
Und platziert ist das ganze
dann auch noch
auf der Titelseite der MZ,
die hier vor Ort
auch gerne mal
„Die Mittelmäßige“ genannt wird,
passgenau am Tag des,
wait for it,
Matheabiturs.
Er lässt sich
mit folgenden Worten zitieren:
„Wir haben Defizite.
Und dass man Naturwissenschaften
abwählen kann,
halte ich vor dem Hintergrund
der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts
für fatal und falsch.“
Das ist fatal und falsch
gedacht.
Weil, erstens:
Man kann eben nicht einfach
Naturwissenschaften abwählen.
Mindestens eine schriftliche Prüfung
muss in den berühmt-berüchtigten MINT-Fächern
abgelegt werden.
Mal abgesehen davon,
dass man, zweitens,
mehr als eines davon
mindestens zwei Jahre lang belegen muss,
ist die Aussage auch noch
auf weiteren Ebenen verzerrend.
Denn, drittens,
werden dadurch alle anderen Fächer
(Soziales, Sprachen, Kultur)
massiv abgewertet,
und das, viertens,
anscheinend mit dem Ziel,
die kapitalistisch verwertbareren Fächer
zu pushen.
Dass, fünftens,
dabei indirekt auch noch ausnahmslos
die eh schon überlasteten Lehrer
zusätzlich belastet werden,
das spielt anscheinend alles keine Rolle.
Hauptsache Sachsen-Anhalt
wird fit gemacht für die Zukunft.
Das neue Mekka der Chipproduktion,
die Bördemetropole
braucht die schönen Künste nicht.
Es reicht,
wenn die Abiturienten rechnen können.
Es würde noch einiges mehr
an diesem schrecklichen PR-Unfall
der Landesregierung
zu kritisieren geben,
aber für Landespolitik
bleibt momentan eben einfach
keine Zeit.
Weswegen Reiner Haseloff
eben auch noch
solche Sätze hier unterbringen kann,
ohne dass der Philologenverband
am nächsten Tag Sturm gelaufen wäre:
„Das ist einfach eingeschliffen.
Das kann nur eine Generation
für sich korrigieren,
die merkt,
dass sie einfach nicht
mehr wettbewerbsfähig ist.“
Das sind ja rosige Aussichten.
Und das ist
ganz technokratisches,
letztlich auch völlig ideenbefreites
Ablehnen jeder Verantwortung.
Sowohl moralisch
als auch politisch.
(CDU-)Landespolitik halt.

Die geht aber auch
in anderen Bundesländern
weiter vor die Hunde.
In Schleswig-Holstein, zum Beispiel.
Die Wahlbeteiligung ist wieder
weiter die Kellertreppe runter gefallen.
Kein Wunder bei einer Wahl,
bei der die Grünen
für Ölbohrungen im Wattenmeer sind,
weil: Russland.

Regionalwahlen waren heute auch im UK.
Für uns hier
ja inzwischen völlig egal,
aber ich erwarte trotzdem jede Minute
einen Anruf aus London,
habe sogar selbst schon x mal angerufen,
aber in London
geht heute einfach keiner ran.
Was ebenso viel
über den Zustand der Regionalpolitik sagt,
wie die zuvor genannten Beispiele:
Die lustige Demokratiefahrt
geht munter weiter,
was soll sich denn noch ändern?

(Achtung, sehr scharfe Linkskurve!)

Zum Zustand der deutschen Linken,
eine Woche nach dem 1. Mai 2022:
Die Linke (die Bundestagspartei)
begeht den Tag der Befreiung
in diesem Jahr
in Stille.
Aus zweierlei Gründen:
Einer davon: Russland.
Und der andere
kann eigentlich nur noch sein,
dass der traditionelle Aufmarsch der Linken
am Sowjetischen Ehrenmal
im Treptower Park (Berlin)
sonst viel zu farblos
und ideologiebefreit wäre,
mindestens aber unzeitgemäß,
was Felix Bartels
auf Facebook
am Freitag so kommentiert:
„Zur Frage,
wer in welcher Tradition steht:
Die Polizei Berlin
hat das öffentliche Zeigen
der sowjetischen Fahne
am Tag der Befreiung (8. Mai)
und am Tag des Sieges (9. Mai)
verboten.
Es muss ein befreiendes Gefühl sein,
im Windschatten des gelb-blauen Volkssturms
die Schmach der Vergangenheit abzustoßen.
Ein Tag der Befreiung
im anderen Sinn.“

Eine schriftliche Erklärung
der Linken (die Bundestagspartei)
zur Absage der Gedenkveranstaltungen
(zur Erinnerung:
früher, also vor der Zeitenwende,
wurde heute die Sowjetarmee geehrt,
das waren die,
die die Nazis,
die Originale,
besiegt hatten),
die wurde bereits
am Mittwoch veröffentlicht,
unter anderem auf Facebook.

Viel mehr
zum Zustand der Linken
müsste ich eigentlich
schon gar nicht mehr schreiben,
aber weil heute
doch so ein besonderer Tag ist,
lass ich mich gerne noch
zu einem kleinen,
ruhig auch schrulligen,
dafür aber
auf realen Ereignissen beruhenden
Gedankenspiel hinreißen.
Und das geht so:
Obwohl der Sommer
noch mindestens einen Monat hin ist,
hat ein nicht parlamentarischer Teil der Linken,
einige würden diesen sogar
den radikalen Teil nennen
(gemeint ist die Antifa),
einen eher erlebnisorientierten Ansatz,
mit dem aktuellen Frust umzugehen:
Während man sich auch
mit der tödlichen
und rassistischen Polizeigewalt
in Mannheim zu Beginn der Woche
beschäftigen könnte,
ruft die Antifa-Familie
lieber zum „Sturm auf Sylt“ auf.

Ich stelle mir jetzt also
eine Szene dieses Familienurlaubs
an der Nordsee vor:
Drei Antifas,
mit den spaßigen Spitznamen
Hoagie, Laverne und Dr. Edison,
vom bereits schon etwas älteren Kaliber (40+)
spielen hektisch Point and Click
mit einem Fahrkartenautomaten
am Hamburger Hauptbahnhof.
Aus einer umgehängten Bluetooth-Box
dröhnt die Live-Version von „Westerland“
(live auf Westerland, 1988).
Ein Mitarbeiter der Deutschen Bahn
tritt auf die anscheinend hilflosen Antifas zu
und fragt sie, ob er irgendwie helfen könnte.
Die fragen ihn zuerst einmal zurück,
ob er sich als zuständig
und/oder kompetent genug ausweisen könnte,
woraufhin er auf sein DB-Namensschild zeigt,
auf dem ulkigerweise
Bernard Bernoulli eingraviert ist.
Schnell wird klar,
dass sie dieses elende Neun-Euro-Ticket
nicht finden können,
das sie doch lösen sollten,
um bei der Sause am Strand dabei zu sein.
Der Bahnmitarbeiter tut interessiert,
was denn für eine Sause?
Die nächsten zwanzig Minuten
hört er sich einen Vortrag an:
Über Klassizismus,
Lenin,
die notwendige Aktion,
die verdammte Bildzeitung,
die verdammte FDP,
die verdammten Bonzen.
Über die 80er,
die besseren 90er,
über Pflastersteine am Sandstrand,
die Chaostage in Hannover 1995,
über Westerland 1988
und über das verdammte System
(während auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig
irgendwelche Nazis völlig unbehelligt
irgendwelche Kanaken bepöbeln).
Das Gruppenreferat endet damit,
dass die drei den nächsten Zug
in Richtung Westerland
verpasst haben
und also wieder mal
zu spät
zur Party kommen werden.
Sie scheinen nun vor einer Wahl zu stehen:
Eine Strandparty, wo so spät
alles bloß noch stinkt,
oder doch wieder zurück aufs Sofa,
Adventure-Games aus den 90ern
noch mal spielen,
oder ein bisschen Gramsci lesen.
Wann sie darüber abstimmen,
das kriegt Bernard Bernoulli nicht mehr mit,
er hat inzwischen die Polizei gerufen,
um die entstandene Prügelei
auf dem anderen Bahnsteig zu beenden.
Egal.
Gedankenspiele sind ja
auch bloß noch was von gestern,
verpixelte Niedlichkeit hin oder her,
und deswegen ist dieses hier
auch gerade abgestürzt.

Und jetzt ist nun mal Jetzt.
Es ist Sonntag abend,
und jetzt
ist die Lage
nun mal
aber so was von
ernst!
Denn wann
kann es denn bitteschön
noch ernster sein,
als wenn
der deutsche Bundeskanzler
eine relativ kurzfristig anberaumte
Fernsehansprache hält,
zum Tag der Befreiung.

Aber erst schnell noch
drei kleine Vorspiele,
das erste ereignet sich
im Treptower Park:
Der mindestens kontroverse
ukrainische Botschafter in Berlin
legt am heutigen Tag einen Kranz
für die ukrainische Opfer
am Sowjetischen Ehrenmal nieder,
was für sich schon kontrovers genug ist;
das ganze unter
nicht wenigen „Melnyk raus!“-Rufen.
Und obwohl heute an diesem Ort
alle Flaggen verboten sind,
also auch ukrainische,
kommt es zu mehreren Eklats,
die Polizei muss das Verbot
mehrfach durchsetzen.
Das zweite Vorspiel gab es bereits gestern:
SPD-Generalsekretär Klingbeil
kündigt medial verstärkt
schon mal eine „Neue Ostpolitik“ an;
da versucht Willy Brandt schon,
sich sogar noch im Sarg
erneut auf die Knie fallen zu lassen.

Das dritte Vorspiel
ereignet sich nur wenige Stunden
vor der Rede des Kanzlers.
Keinem geringeren
als unserem baldigen Gast,
Frank-Walter Steinmeier,
wird die Ehre zuteil,
die Geschichte der letzten 77 Jahre
zu den Akten zu legen,
es ließ sich anscheinend
doch nichts daraus lernen.
Auf einer DGB-Veranstaltung
setzt er sein Volk ins Bild:
„Aber heute,
an diesem 8. Mai,
ist der Traum
des gemeinsamen europäischen Hauses
gescheitert;
ein Albtraum
ist an seine Stelle getreten.
Dieser 8. Mai
ist ein Tag
des Krieges.“

Dann, endlich,
Sonntag, 8. Mai 2022,
20 Uhr.
Licht, Kamera, Sound
und action:
Scholz findet klare,
deutliche Worte.
Deutschland
schuldet der Ukraine
und Russland
eine ganze Menge,
wenn nicht alles.
Die wichtigste Lehre
des Zweiten Weltkrieges hat er auch nicht vergessen:
Nie wieder Krieg!
Logische Konsequenz:
Die „Verteidigung der Freiheit
an der Seite der Angegriffenen.“
Zur Rechtfertigung der Waffenlieferungen
sagt er:
„Maximale Solidarität“
und
„Angst darf uns nicht lähmen.“
Dann beruft er sich auf seinen Amtseid,
Schaden vom deutschen Volk abzuwenden.
Dem folgen vier klare Grundsätze.
1. Keine Alleingänge.
2. Erhaltung der eigenen Verteidigungskraft.
3. Keine Unternehmungen,
die uns, oder unseren Freunden
mehr schaden als Russland.
Und 4.:
„Wir werden keine Entscheidung treffen,
die die Nato Kriegspartei werden lässt.
Und dabei bleibt es.“
Zum Abschluss dann auch noch mal
die Versicherung,
dass es keinen
russischen „Diktatfrieden“
geben werde.
Freiheit und Sicherheit werden siegen.
Wie vor 77 Jahren.
Und da
gab es die Nato
noch gar nicht.

Dann haben die offenen Briefe der letzten Woche
also wenigstens einen Leser gefunden,
und der hat sich also offenbar auch
für eine Seite entschieden.
Schön war das alles nicht.
Offene Briefe waren ja mal
was ernstzunehmendes.
Ein Haufen schlauer Leute
einigen sich auf eine Haltung
und unterschreiben die dann,
auf das ihnen für immer
vorgehalten werden kann,
eine Haltung zu irgendwas
gehabt zu haben.
Heute aber ist es nicht mehr wichtig,
was denn inhaltlich so in diesen offenen Briefen steht,
sondern nur noch,
wer sie unterschrieben hat,
damit man jeweils weiß,
wer der Gegner ist.
Offener Diskurs und so.

Vor lauter Frust darüber
also doch wieder zurück
zu den anderen Gedankenspielchen des Tages.
Das nächste heißt:
„Wer hat‘s gesagt?“
Die Regeln dürften bekannt sein.
Hier der original Wortlaut:

„Vielleicht war es
das Bellen der Nato
vor den Toren Russlands,
das Putin zum Einmarsch
in die Ukraine veranlasste.
Ich kann nicht sagen,
ob seine Wut provoziert wurde,
aber ich vermute,
dass die Haltung des Westens
sie beeinflusst hat.“

Also, war es
a) Dieter Nuhr,
b) Juli Zeh,
c) Lars Eidinger,
oder d) Papst Franziskus?

Macht Spaß, oder?
Bitte, hier kommt gleich noch eins,
dieses Mal ein noch witzigeres,
nämlich:
„Eine Wahrheit, ein Gerücht“;
die Regeln dürften ebenfalls
sofort einleuchten.
GerüchtODERWahrheit 1:
Waldimir Putin
steht kurz vor einer Krebsoperation
(womit sich die Botoxwitze
erledigt hätten,
denn Cortison
ist kein Himbeerbonbon).
ODER
GerüchtODERWahrheit 2:
Der selbe Wladimir Putin
hat sich entschuldigt.
Und zwar für die antisemitischen Aussagen
seines Außenministers.
(Und ja, das ist endlich mal
ein halbwegs schlauer Putinwitz,
bitte, danke.)

So.
Überhaupt kein Witz
ist die Frage,
ob das eigentliche Epizentrum
des Ukrainekrieges
das schlimmste schon hinter sich habe.
Denn das kommt erst noch.
Erst heute, am 8. Mai,
also 73 Tage noch Kriegsbeginn,
sind die letzten weiblichen und nicht erwachsenen,
beziehungsweise alten Zivilisten
aus dem Stahlwerk in Mariupol
evakuiert worden.
Dort eingeschlossenen sind jetzt
also nur noch das Asowbatallion
und die restlichen kampfbereiten Männer,
die vergebens nach Unterstützung rufen;
die nächsten ukrainischen Kampfbataillone
sind über hundert Kilometer entfernt.
Es gibt nur noch drei Möglichkeiten:
Verhungern,
Getötet werden
oder
Aufgeben.
Jede dieser Möglichkeiten
gibt Moskau
die Gelegenheit,
zumindest eine wichtige,
nämlich die bis heute wichtigste Schlacht
„gewonnen“ zu haben.
Es ist leicht vorauszusehen,
dass dieser „Sieg“ ein Thema
der morgigen Parade in Moskau,
anlässlich des Tages des Sieges,
sein wird.
Und sei es drum,
dass gleichzeitig
die letzten Bomben
auf Azovstal fallen.
Ab Montag
beginnt die dritte
und hoffentlich letzte Phase des Krieges;
nur blöd, dass sie
die wahrscheinlich längste Phase wird,
momentan quasi
noch mit völlig offenem Ende,
wie jeder beschissene Witz.

Und es ist auch absolut kein Witz,
nicht mal ein beschissener,
dass wir hier,
schon am letzten Montag,
unseren ganz eigenen
Tag des Sieges hatten.
Den Tag des Sieges über
und der endgültigen Befreiung vom
Pazifismus.

Der Spiegel hat es
bestimmt nicht so gemeint,
das Ergebnis allerdings bleibt bestehen:
Am Montag befreit das Magazin
Die Grünen endlich
von der letzten ihrer Ursünden
und tauft die Partei von Petra Kelly
zu den „Olivgrünen“ um.
Und nicht nur das,
die Titelgeschichte
bekommt sogar noch
einen weiteren Versuch
in Parolenverzerrung
als Titel:
„Blumen zu Flecktarn“
Und weil das immer noch nicht reicht,
versöhnt Marina Weisband
mal eben so im Internet
auch noch schwere Waffen
mit dem Post-Pazifismus;
und ich frage mich,
ob das die nächste Entwicklungsstufe
des Schwurbelns ist,
nur halt in komplett unlustig.
Ganz im Sinne
des neuen, grünen Neoliberalismus
haben die sogar noch einen Weg gefunden,
am Krieg zu verdienen
und es gleichzeitig so aussehen zu lassen,
als lehne man das alles
schon irgendwie auch ein Stück weit ab.
Es wird gefordert:
eine Kriegsverdienersteuer.
Alle, die Gewinne aus dem Krieg ziehen,
sollen zusätzlich zur Kasse gezogen werden.
Der Krieg finanziert
die Energiewende,
oder so.

Die SPD macht das ganze
deutlich nüchterner:
Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages sagt zwar,
dass die Ausbildung von fremden Soldaten
durchaus eine Kriegsbeteiligung darstellt,
und somit einen Angriffsgrund,
aber bei den Sozialdemokraten
macht sich nicht mal mehr jemand die Mühe,
sich die Wahrheit zurechtzubiegen:
Die Verteidigungsministerin
sieht das nämlich einfach so
erst mal nicht so.

Derweil ist das Rückenstärken
der Verteidiger der westlichen Werte
auch endlich für alle zaudernden Bundespolitiker
zum neuen Trendsport geworden.
Nachdem der Eisbrecher in Person (Friedrich Merz)
als erstes einfach so nach Kiew geflogen war,
danach dann einfach per Telefonat
die entstandenen Spannungen
zwischen Kiew und Berlin abgebaut wurden,
stehen demnächst alle auf der Gangway:
ACAB darf als erstes,
danach sollen, in loser Reihenfolge
aber wirklich alle mal:
Gregor Gysi, Steinmeier und Scholz
(vielleicht sogar zusammen?),
selbst Christian Lindner
lässt schon einen Flug buchen.
Fehlt eigentlich nur noch Björn Höcke,
aber der wird sich vor lauter Auswahl
an zu besuchenden Faschisten
gar nicht entscheiden können
und lieber weiter in Thüringen
vom Balkon seines Landhauses aus
nach Frieden rufen.

Bleiben wir ruhig noch kurz
irgendwie beim Thema,
aber in einer neuen Rubrik:

 

In other wars

Die CIA hat endlich
das Darknet für sich entdeckt.
Im Cyberweltkrieg
werden jetzt alle vermeintlichen Whistleblower
ganz offiziell dazu aufgerufen,
doch bitte dort und ab sofort
ihre wertvollen Informationen
mit der Welt zu teilen.

Im Weltwirtschaftskrieg
zieht die EU
die nächste Strategiekarte
und empfiehlt
ein allgemeines Embargo
auf russisches Öl.
Der IfW bezweifelt zwar
die Wirksamkeit dieses Spielzuges,
denn Russland könne den Krieg
auch autark weiterführen.
Aber hey,
dann gibt es wenigstens für eine Seite
nicht wirklich was zu verlieren.

In Syrien ist inzwischen wieder 2011.
Der Islamische Staat ist wieder da,
sowohl der Bürgerkrieg,
als auch der Krieg gegen den Terror
können endlich richtig weitergehen.

Das weiß auch die Türkei,
weswegen die dortigen 70% Inflation
nur noch eine Randnotiz sind.

In Mali wird derweil offiziell bestätigt,
dass eine sagenumwobene
russische Söldnergruppe
an mehreren Massakern beteiligt war.
Hier verheddern sich
dann alle eben genannten Kriege
zu dem unlösbaren Clusterfuck,
der alle Unbeteiligten
nur noch vor Ratlosigkeit stellt.

Und in den USA ist der Kultur- und Geschlechterkrieg
in die nächste Phase eingetreten:
Wie es heutzutage so üblich ist,
wurden dort in dieser Woche
brisante Vorhaben im Vorfeld geleakt,
einfach um mal zu gucken,
wie die Stimmung so ist.
„Roe v. Wade“,
der schwerstwiegende Präzendenzfall
in Sachen US-amerikanisches Abtreibungsrecht,
soll angeblich endgültig gekippt werden
(siehe Band 2, S5:Ep15 – Summer‘s almost gone).
Die Reaktionen sind wie in jedem Krieg:
Entweder, oder.
Sämtlichste Demokraten lehnen sich auf,
Joe Biden will den Kongress einschalten,
eine ganze Reihe von Prominenten
bekennt sich zu eigenen Abtreibungen,
aber in Oklahoma
werden einfach so Fakten geschaffen,
denn das berüchtigte
„Heart Beat Bill“
wird umgehend beschlossen.
Schwangerschaftsunterbrechungen
nach der sechsten Woche
sind dort ab sofort
fast ausnahmslos eine Straftat,
vor allem natürlich vor Gott.
Gilead rückt näher,
blessed be the fruit.

Scheiß Kriege.
Dass die sich auch
immer so hinziehen müssen.
Da kommt man ohne
ein bisschen maskulinen Ausgleich
einfach nicht weiter.
Aber was hätten wir denn da?
Vielleicht, dass es jetzt doch endlich
staatsanwaltliche Ermittlungen (wegen Falschaussagen)
gegen den ehemaligen Verkehrsminister
und top Volksdiplom Andreas Scheuer gibt?
Zu wenig Freude bringend?
Dann vielleicht,
dass Jürgen Klopp
jetzt fast den kompletten
europäischen Fußball durchgespielt hat
(sein LFC spielt in diesem Jahr
jedes nur irgend mögliche Spiel
in dieser Saison
und hat die historische Chance
auf das eigentlich unerreichbare Quadruple).

Nein, zum Ausgleich
reicht das alles noch lange nicht.
Da braucht es irgendwie noch mehr.
Vielleicht ja die totale Zerstörung
des hässlichsten Beispiels
für Hochstapelei und Betrug,
das das Internet momentan zu bieten hat:
YouTube-Superstar Fynn Kliemann
sitzt völlig am Ende
in einem Instavideo
und verliest
eine schriftliche Stellungnahme,
in der er keinen der Vorwürfe entkräftet
(Höhepunkt:
Das „Verschenken“
unbrauchbarer Atemschutzmasken
zu Beginn der Pandemie
an Flüchtlingslager im europäischen Süden,
wegen der günstigen PR
für seinen herausgekehrten
und offensichtlich geheuchelten Altruismus, „Krise kann auch geil sein.“

Nein, klappt auch bloß nicht.
Dann eben das schärfste Schwert:
Femininer Ausgleich.
Und was soll ich sagen?
Wenigstens für einen Abend
funktioniert das tatsächlich.
Im Moritzhof in Magdeburg
gelingt es Alin Coen (und Band),
all das zurückzuholen,
was früher immer geholfen hat:
Brillante Musik,
befreiende Fehlbarkeit,
Mitgefühl,
schlagende Herzen,
wippende Körper,
rollende Tränen
auf rosigen Wangen.
Das erste echte Clubkonzert seit Ewigkeiten
(stickige Luft,
perfekt übersteuerte Instrumente,
seeliges Grinsen
kein Atemschutz).
Als ob die letzten zwei Jahre
nie stattgefunden hätten
und draußen kein Krieg wäre.

 

„Und wenn du dann gehst,
schau ich dir nach,
schau wie das Ende verdreht,
was der Anfang versprach.“

(Alin Coen: Wolken. 2010)

 

Tja, schön wär‘s und war‘s,
aber, aber:
Was wird denn jetzt ab morgen?
Folgt Scholz vielleicht doch noch ganz spontan
Selenskyjs (zynischer?) Einladung zum 9. Mai?
Oder erklärt Putin in Moskau
ganz Europa den Krieg
und gibt den hiesigen Feuillton-Bellizisten
endlich recht?
Oder verkündet er
einfach den erneuten „Sieg“
über die Nazis und eine völlig unerwartete Waffenruhe
(also bis zur Gegenoffensive der Ukrainer)?
Oder kommt es sogar zu Anschlägen
auf europäische Staatsoberhäupter?
Und, oh Gott,
wo befinden die sich demnächst?
Quedlinburg!
Wie viel hast Du schon gebunkert?

Oder gehen die Kriege
einfach erst mal weiter?
Als endloses Spiel,
als einziges, großes
open world Action-Adventure,
nur eben ohne Gewinner.

Wir sind am Ende der Episode angelangt.
Und ich werde vieles tun,
aber mich nicht
für dieses Chaos hier entschuldigen,
ich kann ja zum Glück nichts dafür.
Zum Schluss nur noch
eine gar nicht mal so kleine Zahl,
die das alles hier
schnell wieder relativiert,
auch wenn es keiner
mehr hören und lesen will:
Fünfzehn Millionen
(in Ziffern: 15.000.000)
Opfer hat die Pandemie
laut WHO
in den vergangenen zwei Jahren gefordert.
Das wenige Gute daran war und ist,
dass auch meine Mutter so klug war,
alles vernünftige dafür zu tun,
keines dieser fünfzehn Millionen zu werden,
und meine Großmutter das Glück haben durfte,
das alles zu verpassen,
so sehr ich sie und ihre Weisheit auch vermisse.

Deswegen, und last but not least,
und das Gegenteil eines Gedankenspiels:

 

Liebe Mama,
es gibt nichts,
das ich hier
über Dich,
über uns
noch schreiben könnte,
das Du nicht schon weißt.
Deswegen ist
die letzte True Story
für heute
nur für Dich.

 

Mother, Mother (Hidden Story 1)

In einem kleinen Blumenladen, am Fuße des Südhanges des Schlossberges in Quedlinburg, war vor lauter Blumen kaum ein Durchkommen zum Tresen. Die Kundenschlange zog sich am Morgen bis vor die Tür und bestand ausschließlich aus Kindern von Müttern.
Der Brillenträger hatte es eilig, verbrachte aber eine gute Viertelstunde damit, der Floristin dabei zuzuschauen, wie sie jedem Strauß die Liebe angedeihen ließ, mit der dieser dann geschenkt werden wollte. Kurz wollte er sich ärgern, dass er nicht gestern schon hier vorbeigekommen war. Aber so waren die Blumen nun mal am frischesten.
An jeder nur halbwegs freien Stelle des Ladens strahlten die unterschiedlichsten Blüten in den schönsten Farben im Sonnenlicht, das durch die kleinen Ladenfenster hereinschien. Dicht vor dem Tresen stand ein mittelalter Sohn und ließ sich gerade „was buntes für dreißig“ zusammenbinden. Für das Ergebnis ließ sich die Floristin trotzdem die gebührende Zeit, während der Sohn das Geld bereits vor ihre Kasse legte. Ob er noch ein Herz dazu wolle? (Gemeint war eines dieser Gimmicks, die einen Blumenstrauß irgendwie aufwerten sollen, ohne selbst Blumen zu sein.) Nein, das wäre so schon schön genug.
Das Paar nach ihm hatte sich bereits für einen schon fertig gebundenen Strauß entschieden, der zwar nur zwanzig kostete, aber tatsächlich teurer aussah, als der Strauß, den der mittelalte Sohn gerade hinausgetragen hatte, und der der Floristin somit keine akute Arbeit bescherte.
Der Brillenträger hatte sich auch schon entschieden: „Guten Morgen. Ich hätte gerne die letzten roten Nelken, und … noch mal so viele rote Rosen dazu, bitte.“
„Sehr gerne, noch etwas dazu? Nicht, oder?“
Der Brillenträger lächelte: „Ganz genau. Nur die Blumen, bitte.“
Die Floristin lächelte zurück: „Das hab ich mir irgendwie schon gedacht.“ Letztendlich war sein Strauß der günstigste, den die Floristin an diesem Morgen verkaufte, dafür aber sicherlich einer von denen mit der persönlichsten Bedeutung.

Als der Brillenträger am Mittag aus Thale zurückkam, und noch bevor er sich wieder an seinen Schreibtisch setzte, bekam er von seiner Mutter ein Bild geschickt. Die roten Nelken und Rosen waren an ihrem letzten Ruheort angelangt. Seine Mutter hatte sie ans Grab seiner Großmutter gebracht, ihrer Mutter.

 

„If I tell you what you want to hear
will it help you to sleep well at night?
Are you sure that I’m your perfect dear?
Now just cuddle up and sleep tight.“

(Tracy Bonham: Mother, Mother. 1996)

 

 

P.S.

Den ein oder anderen Leser*innen wird aufgefallen sein, dass #DieDoppeltenZwanziger es heute, noch mehr als sonst, mit den Referenzen mal wieder komplett überzogen haben. Zur eigenständigen Einordnung und weiteren Verknüpfung dann hier nur bloß noch mehr Kontext:

„Den besonderen Reiz des Spiels
macht die Möglichkeit der Nutzung
von temporalen Paradoxa aus,
da sich viele Handlungen
in der Vergangenheit
auch auf Gegenwart
und Zukunft auswirken.
Gleichzeitig ist es auch möglich,
Gegenstände direkt durch die Zeit zu schicken,
sodass die unterschiedlichen Zeitlinien
immer eng miteinander verwoben sind.“

(wikipedia: Day of the Tentacle)

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