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Aalpastete (S7:Midseason Review)

von | 2022 | 24. Juli | Berliner Kurzgeschichten, Die Kurzgeschichten, Staffel 7 - Half a world away

 

„Im Leben kommt es darauf an, über alles vorab ein Urteil zu fällen. Denn es sieht ja immer so aus, als hätten die Massen unrecht und die Einzelnen recht. Man hüte sich allerdings, daraus Verhaltensregeln abzuleiten: Um befolgt zu werden, müssen sie nicht ausformuliert werden. Es gibt nur zwei Dinge: die Liebe, in all ihren Spielarten, (…), und die Musik, (…). Alles andere sollte verschwinden, denn alles andere ist hässlich, und die (…) paar Seiten, die das demonstrieren, ziehen ihre Kraft aus der Tatsache, dass diese Geschichte komplett wahr ist, weil ich sie von A bis Z erfunden habe. Ihre materielle Umsetzung besteht im Wesentlichen darin, dass die Wirklichkeit in schrägwinkliger Atmosphäre auf eine Bezugsfläche projiziert wird, die unregelmäßig gewellt ist und Verzerrungen offenbart. Das ist eine grundlegende Vorgehensweise, für die man sich eindeutig nicht zu schämen braucht.“

(Boris Vian: Die Gischt der Tage. 1946.)

 

Der andere Brillenträger hatte schon länger nichts vom Brillenträger gehört. Der Sommerurlaub war auf seinem Höhepunkt angelangt: Bergfest auf der Liege am Pool. Sozusagen. Noch ein bis zwei Wochen erzwungene Entspannung bei Höchsttemperaturen. Aufhören vor dem Weitermachen. Und um Himmels willen nicht über den Herbst, den Winter, die Zukunft nachdenken müssen! Also auch bitte nicht darüber reden müssen. Vielleicht war das der Grund, warum weder der eine, noch der andere einfach mal durchgerufen hatte. Wenn man den Weltuntergang nicht besprach, fand er ja vielleicht wirklich nur auf den schwarzen Spiegeln statt. Und die hatten sich in den letzten Jahren als ebenso geduldig erwiesen wie Papier; in zwei Wochen würde noch genauso alles den Bach runtergehen wie heute, vielleicht sogar noch ein bisschen schneller; vielleicht aber auch nicht. Klar, das sogenannte Sommerloch war zu einem Relikt verkommen, aber Sommerurlaub, das war immer auch die Erinnerung an vergangene Sommerurlaube. Eine Zeit der Rückbesinnung, an bessere Zeiten, denn früher war ja immer alles besser. Wirklich. Immer.
Die Gastgeberin rief vom Schlafzimmer aus nach dem anderen Brillenträger: „Wie lange bist du schon wach?“
„Noch nicht lange. Kaffee?“
„Ach, wollen wir nicht lieber frühstücken gehen?“ Sie stand im Nachthemd in der Wohnküchentür. Er warf einen langen Blick auf sie, schien sich unsicher zu sein und übertrieb seine Gegenfrage nur ein ganz klein wenig: „Sicher?“
Die Gastgeberin lachte: „Ja, außerdem müssen wir noch auf den Markt. Um vier wollen die anderen da sein. Da würde ich ungern nochmal los müssen.“
„Okay. Ich bin ja schon angezogen.“
„Nur fünf Minuten. Finger vom Handy, ich beeile mich.“
Der andere Brillenträger nutzte die Zeit, sich in Geduld zu üben. Unfokussiert ließ er seinen Blick durch den Raum wandern. Er saß an seinem inzwischen fast schon uralten Holztisch, den man zwar ausziehen konnte, der aber auch so schon groß genug für die meisten Gelegenheiten war. In den wenigen Kratzern und Pfurchen hatten sich Geschichten eingenistet, die auch mit der gröbsten Handbürste nicht ohne Spuren hätten ausgeschrubbt werden können. Darauf standen, neben einem aufgeschlagenen „Spiegel“, vier Flaschen: Eine fast leere Weinflasche von gestern Abend, zwei Flaschen mit Wasser und ein halbvolles Bier. Sie waren müde gewesen, als sie gestern vom Flughafen kamen. So schön die Tage im Süden gewesen waren, so frustrierend hatte sich die Rückreise gestaltet. Nicht, dass sie damit nicht hätten rechnen müssen, aber als die Nachricht über die gestrichenen Flüge zu ihnen gelangte, hatten sie alles daran gesetzt, dem folgenden Szenario zu entkommen: Völlig überfüllte Flughafenhalle, Menschen haben es sich bereits zur Übernachtung auf dem Boden bequem gemacht. Ein Kamerateam der ARD ist auf der Suche nach Interviewpartnern für einen Einminüter für die Abendnachrichten in Deutschland. Thema: Wie die deutsche Mittelschicht unter der Multikrise leidet. Tragisches aus den südeuropäischen Urlaubsgebieten. Danke. Aber nein, danke. Das hatten beide gedacht und dann getan, was sie konnten. Dem Brillenträger hatte er später schreiben müssen: „Ohne Verbindungen und Geld hätten wir noch Tage festgesessen. Europa 2022: Wenn sich Rückreisen wie eine Flucht gestalten.“
Die Tage im Süden aber waren die Aufregung am Ende dann doch wert gewesen. Die würde, jetzt wo sie Vergangenheit geworden war, zu einer dieser Geschichten werden, über die man noch in Jahren lachen würde. Die Gastgeberin zog sich im Flur die Sandalen an und der andere Brillenträger nahm noch einen Schluck Wasser, bevor er eine der beiden Flaschen wieder in den Kühlschrank legte.

Die Klimaanlage in der nahegelegenen Bäckerei lief bereits am früheren Vormittag auf Hochtouren. Der Kaffee fühlte sich so noch angenehm heiß an. Sie ließen sich Zeit Auch wenn sich das Gedränge zwischen den Ständen auf der anderen Seite der Straße zusehends vermehrte, noch konnten sie das Angebot aus sicherer Entfernung überblicken. Nach einigen stillen Momenten blieben ihre Blicke gleichzeitig an scheinbar dem selben Eindruck hängen. Ein neuer Stand! Sie konnten sich beide nicht daran erinnern, diesen schon einmal gesehen zu haben.
„Was ist das? Ein Flügel?“
„Sieht so aus.“
„Und sind das Flaschen auf den Deckeln?“
„Denke ich auch. Sieht aus, als wären in allen davon Schläuche verbaut. Aber auch noch andere Behälter.“
„Stimmt. Die Schläuche führen alle zu einer Stelle.“
„Und da steht ein Glas.“
„Denkst du, was ich denke?“
„Ich denke an ein Drinkklavier.“
„Gehen wir hin?“
„Aber erst nach dem Einkauf, ja?“
„Okay. Aber wir schauen schon mal, was die Töne so hergeben?“
„Von mir aus.“
Sie zahlten, schlürften die letzten Kaffeereste und begaben sich auf den Weg zu nächsten Ampel, um sicher die Straße zu überqueren; Fahrradfahrer*innen können genauso rücksichtslos sein, wie alle anderen.

Eine gute Stunde später hatten sie sich beide am Drinkklavier für ein Musikstück entschieden. Die Pianistin hatte versucht, ihre Haltung zu den vorgeschlagenen Stücken zu verbergen, musste aber sowohl bei dem einen, als auch dem anderen, sowohl lächeln als auch beinahe weinen. Sie hatte so leise gespielt, dass außer den dreien niemand jemals die Rezepte für diese Drinks nachmixen könnte. Jetzt trugen sie neben ihren Beuteln voller Gemüse, Reis und Fisch ihre beiden Drinks die Treppen hinauf. Ohne etwas abzusetzen, zog der Brillenträger erst seine Schuhe aus und schloss dann die Wohnungstür auf, die Gastgeberin schlüpfte an ihm vorbei und nahm ihm einen der Beutel ab. Noch bevor die Tür ins Schloss gefallen war, klingelte es.
„Hallo?“
„Ihr seid schon da? Cool. Ich komm hoch. Oder brauchen wir noch was?“
„Nein, wir haben alles.“
Die Gastgeberin stellte die Beutel auf dem großen Tisch ab, und der andere Brillenträger bedeutete ihr mit der freien Hand, dass es die Reporterin war, wozu er Luftschreibmaschine schrieb. Aus der Gegensprechanlage hörten sie noch, wie unten gerufen wurde: „Hey, warte auf uns!“
Kaum wenige Minuten später saßen alle fünf am Tisch. Die Reporterin, Y und der andere Schlaue hatten ebenfalls jeweils einen Beutel dabei, die sie jetzt auspackten. Sehr bald redeten alle wild durcheinander. Niemand wollte das perfekte Dinner, aber alle hatten reichlich Ideen, was das Essen anging und außerdem großzügig eingekauft. Als alles Essbare auf dem Tisch ausgebreitet war, hielten sie noch kurz inne. Dann fand die Gastgeberin als erstes wieder Worte: „Vielleicht sollten wir uns in Zukunft wieder besser absprechen?“ Alle nickten, irgendwie beschämt.
„Hey, immerhin waren wir alle zu Fuß unterwegs.“ Erleichtert atmeten alle auf. „Und ich weiß ja nicht, aber wenn ich so sehe, was hier liegt, scheinen wir auch nicht allzu viel Energie zum Kochen zu benötigen.“ Überall im Raum hatten sich die Aromen der Waren verteilt; der andere Schlaue öffnete das Fenster. Offensichtlich hatten sie sich einmal durch die Gesellschaftspyramide gekauft. Vor ihnen lagen: Die beste Wurst und der beste Käse vom „Polenmarkt“ in Slubice. Die Reporterin berichtete, dass sie den ganzen Vormittag dort verbracht hatte. Zu Recherchezwecken. Eine Story über das Shoppingvergnügen des Prekariats. Die fünf diskutierten kurz darüber, ob die Begriffe „Unterschicht“, „White Trash“ und „Assis“ nicht zunehmend deckungsgleich verwendet würden, mahnten sich dann aber noch zur Differenzierung; die Temperatur unter dem Dach verunmöglichte eine Überthematisierung von Abwesendem. „Es bleibt dabei: Wenn schon Wurst, dann polnische.“
„True. Und was ist das?“
„Wonach sieht es aus? Brot natürlich. Nussbrot, mit ganzen Hasel- und Walnüssen.“
„Nein, ich meine das da!“
„Ach so. Moment, ich wickel kurz aus.“
„Aal?“
„Essen doch alle, oder? Außerdem: Wenn auch der Rest hier ganz eindeutig nach Kaltplatte und Sushi aussieht, passt der doch perfekt!“
„Wie wär‘s mit Aalpastete? Ich kenn da ein Rezept!“
„Lass mal hören!“
„Kein Problem: Wir brauchen eine Casserol, Weißwein, Gewürze, Zwiebeln, Petersilie, Tymian, Lorbeer und Knoblauch.“
„Hätten wir da. Aber der Ofen bleibt heute kalt.“
„Ist auch besser so. Hab gelesen, das soll nur was für Leute sein, die mit einem bitteren Nachgeschmack gut leben können.“
„Wo habt ihr den eigentlich her?“
„Ähm, will ich nicht sagen.“ Y und der andere Schlaue sahen sich verlegen an, dann gaben sie zu, am Mittag im Kadewe gewesen zu sein. Der alten Zeiten wegen. Bevor da nur noch die Typen rumhingen, die nach dem Einkauf immer noch in der Champagnerbar im Obergeschoss versackten. Als sie noch zwei Flaschen trockensten Riesling aus ihrem Beutel zauberten, erlosch schnell auch die letzte Schamesröte in den Gesichtern der fünf.
Der andere Brillenträger wirkte zufrieden. „Ich such dann mal ein bisschen Musik raus.“
Die Gastgeberin erzählte den anderen derweil von ihrer neuen Entdeckung und bot allen an, ihre Drinks zu probieren. Alle einigten sich darauf, dass ein bitterer Nachgeschmack auch wohltuend sein kann.
Die Gastgeberin bat den anderen Schlauen mit nur ein paar Blicken um einen Gefallen, die sagten: „Kannst du bitte noch das Magazin wegräumen, ich wollte das später noch zu Ende lesen.“
Doch da hatte die Reporterin schon eingegriffen und las laut vor: „Welche Rechte haben Urlauber bei Katastrophenfällen an ihrem Urlaubsort. – Wollt ihr nochmal weg in diesem Sommer?“
„Nicht lustig. Nein, erst im Herbst wieder. Vielleicht.“
„Jetzt legt doch mal endlich den Spiegel weg. Diese ganze Schämerei führt doch auch zu nichts. Und außerdem, wir hatten die Rechnung eben schon, andere übertreiben es deutlich mehr. Keiner hier hat ein Auto, wir sind alle systemrelevant, wir essen kalten Fisch, wir …“
„Gut, reicht. Auf Rechtfertigungskarussel verzichten wir heute gerne mal.“

Im Hintergrund erklangen in diesem Moment die ersten Takte des Abends. Alle lauschten kurz. Der andere Brillenträger schien sich noch unsicher, hatte bereits eine andere Platte in der Hand. Doch vielleicht noch etwas zu viel Herbst im Sound? Oder war das eher noch Spätsommermusik? Urlaubsmusik, Erinnerungen an die besten Tage, an unwichtig gewordene Ansprüche, an Genügsamkeit, an Nächte im Zelt hinter einer Düne, die Augen des anderen nur Zentimeter entfernt… Die Gastgeberin gab ihm zu verstehen, dass sie die Musik bereits genoss und winkte ihn zu sich. Er legte die andere Platte zurück und half den anderen beim Auspacken. Beim Zubereiten. Beim zwischendurch Anstoßen. Beim Naschen und Lachen. Beim später Genießen. In einem sorgenfreien Raum, den sie durch ihr Zusammensein, ihre Liebe vor allem bewahren konnten, das in der Zukunft auf sie lauerte. Selbst die Reporterin machte sich keine gedanklichen Notizen. Vom Glück zu schreiben war nicht ohne Grund wahrhaftig schwer. Und alle wussten, dass die Gelegenheiten weniger werden würden. Vielleicht kam es ihnen deshalb schon jetzt wie eine dieser Erinnerungen vor, eine der guten, weil eine der leichten; an einen Sommerurlaub in Berlin. Damals, als die Katastrophe gerade erst wieder begonnen hatte.

 

„And now you spend your evenings
searching for another life.
And yeah I think, mate,
I think you’ve got them in your sights.“

(King Krule: Easy Easy. 2013.)

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