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Back To School (S7:Ep12)

von | 2022 | 28. August | Die Serie, Staffel 7 - Half a world away

Das Smartphone, oder genauer gesagt die Möglichkeit, ständig auf alles Wissen der Menschheit zugreifen zu können, ist eine nie dagewesene Herausforderung für unser Gehirn und unsere Gesellschaft. Wenn ich will, kann ich jetzt in diesem Moment anfangen, das Lesen von akkadischer Keilschrift zu lernen. Oder nachschauen, ob heute ein Feiertag in Jakarta ist. Bis vor ein paar Jahren waren diese Fähigkeiten noch nicht mal den Königen vergönnt, heute kann das jedes Kind. Es ist aus meiner Sicht kein Wunder, dass wir damit vollkommen überfordert sind und massive Probleme damit haben, unser Leben um die Technologie herum zu planen. Bei unseren Kindern, die damit aufwachsen, wird das aller Wahrscheinlichkeit nach vollkommen anders sein.“

(Jens Foell. In: Nerds. 2021.)

 

So.
Ab morgen früh
ist werktags über
wieder Handyverbot.
Außer in den Pausen,
und das auch nur für die Oberschüler,
oder wenn es
pädagogisch/didaktisch/methodisch
Sinn macht.
Also so kenne ich das jedenfalls.
Denn ab morgen früh
ist wieder Schule,
also so richtig mit Unterricht,
aufpassen, mitdenken, lesen, schreiben;
einige erinnern sich vielleicht.
Die nächsten Ferien
sind erst/schon in knapp zwei Monaten.
Schoolaholic, der ich nun mal bin,
habe ich meine Hausaufgaben für heute fertig,
also die für morgen;
wer kann schon wissen,
was übermorgen schon
wieder anders sein wird?
Das weiß nicht mal das Internet,
munkelt man.
Was das Internet
aber sonst alles weiß:
Alles.
Zum Beispiel auch,
dass heute
in Jakarta
kein Feiertag ist.
Der letzte nationale Feiertag
in der indonesischen Hauptstadt
war der nationale Unabhängigkeitstag,
wie jedes Jahr,
seit 73 Jahren
am 17. August.
Wenn ich mir jetzt
noch eine weitere Minute
im Internet gönnen würde,
könnte hier noch ein Kurzabriss
über die letzten 2.000 Jahre
in der Südsee folgen,
aber die Zeit haben wir nicht.
Denn heute geht es mal wieder
etwas monothematischer zu,
wegen Gründen.

Das nächste „Schuljahr Eins nach Corona“
wird erst mal schlicht
das nächste „Schuljahr mit Corona“.
Und obwohl sich spätestens in drei Wochen
die Hälfte aller Schulbesucher*innen
vorübergehend in Quarantäne befinden wird,
und von einem „normalen“ Schulalltag
de facto keine Rede mehr sein kann,
tut sich zu dem Thema
in der Öffentlichkeit
nur noch wenig bis gar nichts.
Nicht mal die Voll-Digitalisierer
können noch Aufmerksamkeit generieren.
Das wenige allerdings,
das doch noch irgendwie
mehr oder weniger relevant
für mein Berufsfeld ist,
das soll in der heutigen Episode
zusammengetragen werden.
Der ganze sonstige Rest
wird dann Hausaufgabe.
Kurzer Blick noch ins Klassenbuch:
Alle da? Noch keiner krank?
Na dann!

Als catchy Einstieg beginnen wir heute
mit nicen News von der Bildungsvolksfront:
Einer meiner absoluten Lieblingskollegen,
Nicolai Nerling,
allen natürlich noch viel besser bekannt
als „Der Volkslehrer“,
oder schlicht Nazispacko,
kriegt neun Monate auf Bewährung
und muss 3.000 Euro
an die Amadeu Antonio Stiftung zahlen.
Das hat am Donnerstag
ein Berliner Gericht entschieden.
Immerhin.
Macht er jetzt also noch mal sein Nazimaul auf,
und da kommt dann wieder irgendwelche Nazischeiße raus,
dann geht er endgültig ab.
Und meine Schadenfreude
könnte sich nur schwer beherrschen,
so viel deutsch muss sein.
So viel dann auch gleich
zum Thema „Youtubelehrer“;
gaaaanz schlechte Idee.

Dann doch lieber das „Lerncamp“.
Neben dem Boom in der privaten Nachhilfe
hat sich hier in den letzten zwei Jahren
ein neues Geschäftsmodell entwickelt:
Für jeden was dabei:
Kinderfreier Urlaub,
Lernen im Urlaub,
Nebenverdienst für die gebeutelten Lehrer*innen.
Win-Win-Win.
Idealer Ort für diese Art von Hausaufgabenhilfe
scheinen zunehmend die Jugendherbergen zu sein.
Nochmal Win.
Und es hört gar nicht auf mit den Wins:
Vor dem Schuldienst
können sich die Referendar*innen
schon mal so richtig ausprobieren!
Und die Quereinsteiger*innen!
Und die Seiteneinsteiger*innen!
Und, was soll‘s, alle die irgendwie Bock haben!
Wir brauchen jede*n,
die/den wir kriegen können;
richtig gendern lernt sich nicht von allein!
Und so wichtige Dinge
sollte man nicht nur dem Internet überlassen,
sondern, ganz genau, den Profis.
You‘re welcome.

Apropos Profis:
Die Tabellenführer in Sachen Entscheidungsgewalt
über ein gelingendes Bildungssystem
müssten momentan folgende sein:
Olaf Scholz (Chef vons Janze)
und Bettina Starck-Watzinger.
Für alle, bei denen es
beim zweiten Namen nicht gleich klingelt:
Diese, ihrem offiziellen Pressefoto nach
weibliche, gealterte Version von Harry Potter
ist die aktuelle Bundesbildungsministerin.
Das, was aber alle wirklich interessiert,
das muss ein anderer versprechen.
Laut Bundesgesundheitsminister Lauterbach
heißt die Devise für dieses Schuljahr:
„Es wird keine Schulschließungen geben.“
Was er damit meint:
Jedenfalls keine angeordneten.
Der Rest kommt dann
zusammen mit den Virenschleudern jeden Alters
jeden Tag durch die Hintertür.
Besonders dann,
wenn man es so dermaßen schleifen lässt,
wie wir hier in Sachsen-Anhalt.
Während, z.B. im Nachbarland Niedersachsen
zumindest das mit den Tests
noch regelmäßig gemacht werden soll,
gilt hier strengstes Geboteverbot:
Keine Masken,
keine Tests,
Luftfilter lohnen nicht,
das Geld dafür wird nicht mal abgerufen,
Lüften reicht hin,
wer keine Symptome zeigt,
erscheint gefälligst zum Dienst.

Es herrscht schließlich Lehrermangel!
Und zwar „so schlimm wie nie zuvor.“
Mit dieser Schlagzeile hat die MZ
in dieser Woche die Sommerferien verabschiedet.
Richtig so!
Sagen, was ist!
Nur noch 92% Unterricht
können abgedeckt werden,
wenn niemand krank wird,
trotz inzwischen neun Prozent „Hilfslehrer*innen“.
Beim Nachwuchs holpert es auch:
Ein Fünftel der Lehramtsstudiengänge in Halle
bleibt unbesucht.
Wie verzweifelt die Lage ist,
und wie neoliberal
es auch auf meinem Spielfeld
inzwischen zugeht,
zeigen die großzügigen Bezuschussungen
für private Nachhilfelehrer*innen:
Bis zu 80 Euro pro Stunde
werden da inzwischen kassiert.
Ich gönne das allen,
die dadurch wirklich helfen.
Aber das ist schon auch
ein Stück weit „Wettbewerbsverzerrung“;
von dem dadurch beschleunigten
Auseinanderklappen der sozialen Schere
mal ganz abgesehen.

Dann also doch lieber
Digitalisierung auf Teufelkommraus,
egal ob sie gelingt oder nicht?
Nicht, dass hier irgendwer
noch den Anschluss verliert,
ans „Klassenziel“,
an die Landes-, an die Weltpitze.
Schließlich soll hier
das neueste Chipmekka der Welt hochgezogen werden,
die Bördemetropole
braucht nützliches Humankapital!

Und wenn das alles nichts nützt,
dann machen wir es vielleicht bald
wie Süd-Korea.
Da wird jetzt gleich mal ein Jahr eher
ein- und ein Jahr früher ausgeschult,
damit der Arbeitsmarkt
noch frischeres Blut saufen kann.
Dass die Konkurrenz vor der Tür
schon so nicht mehr hinterher kommt,
dafür kann ja Seoul nichts.
Auf den Philippinen war gleich mal
zwei Jahre gar keine Schule,
die stehen jetzt erst da,
wo wir schon
seit zwei Jahren stehenbleiben.
Und in diesem Jahr
im Grunde sogar noch
einen Schritt zurückgehen,
denn es wird brutal gespart,
nicht nur beim Personal:
Der Harzkreis trägt seinen Teil
zur Entlastung der Schulen (und Kommunen)
und im Kampf gegen Putin bei
und ordnet für den Winter an:
Heizung runter,
Lüftungen drosseln.
Energiekrise ist auch Bildungskrise.

Noch viel mehr Schritte zurück
machen derzeit auch
immer mehr Schulen
in Texas.
Das Bücherverbot in Schulbibliotheken
durch irgendwelche amoklaufenden Schoolboards
ist auf dem Gipfel der Idiotie angekommen.
Da wird inzwischen wahllos gecancelt,
bis gar keine Bücher mehr rumstehen.
Jüngstes Beispiel:
Eine Elterninitiative in Tarrant County (bei Dallas)
hat ein Verbot der Bibel erwirkt.
Aber es geht immer noch rückschrittiger:
In Casville (Missouri)
wurde die Prügelstrafe
mit einem Paddel
wieder eingeführt,
mit ausdrücklicher Zustimmung
der Elternbeiräte.

Und wahrscheinlich gibt es auch
mehr als eine Handvoll Kartoffeln,
die so was auch hier wieder begrüßen würde.
Die sind aber momentan
mit was ganz anderem beschäftigt,
nämlich mit Inhalten!
Darum geht es ja wohl bei dieser Bildung.
Content matters anywhere any time.
Denn endlich können mal
alle wieder mitreden,
wenn im Literarischen Quartett gestritten wird.
Denn ging es in dieser Woche
um Bildung und Kultur,
war das aller, aller, aller wichtigste Thema
für alle, die schon mal ein Buch
angefangen haben zu lesen,
die „Winitu-Kontroverse“.
Eine Cancel-Culture-„Debatte“,
die so bescheuerte Ausmaße angenommen hat,
dass Lederstrumpf
Rauchzeichen an Chingachgook
senden musste,
damit der seinen Stamm
vor dem letzten Mohikaner warnt.
Den unumstößlichen Höhepunkt
dieses Kulturscharmützels zwischen
erwokten und erwachten Bildungsbürger*innen
setzte natürlich wieder die Bild:
Als ob die frühen Siebziger angerufen hätten,
oder The Sun,
blickte uns in dieser Woche
der Oberhäuptling des Landes vom Titelblatt an,
ganz ernst und weise,
dafür aber mit Federkopfschmuck.
Daneben die Schlagzeile:
„Politiker fordern:
Winnetou-Gipfel im Kanzleramt“.
Wie viele Kriegsbeile
kann der Tabellenletzte der vierten Macht
eigentlich noch ausgraben?
Oder: Frisst die Cancel-Culture ihre eigenen Kinder?
Wir werden es erfahren;
im Internet.

Zurück also zum Ausgangszitat:
Wir (Boomer, Gen-X, Millenials)
sind also von der Digitalisierung komplett überfordert.
Ein Sherlock, dieser Professor Nerd.
Unsere Kinder (Gen-Z ff.)
werden es da ganz anders machen.
Anders.
Aha.
Ich sag mal so:
Sollte die Message
doch nicht nur darin verharren,
das Medium zu sein,
dann sollte bei all den
leider nicht geschehenden Neueinstellungen
auch unbedingt auf die Medienkompetenz
der neuen Kolleg*innen geachtet werden.
Noch ein paar Volkslehrer, die ihr Handwerk
auf der Youtube-Uni gelernt haben,
könnten sonst
das Gegenteil
von dringend notwendiger Medienkompetenz bedeuten.
Wer heutzutage nicht erklären kann,
was Schizopilling ist,
oder warum Trolle die schlimmeren Bots sind,
oder warum Ron Bielecki kein Vorbild ist,
der muss unbedingt zum Nachsitzen.
Denn der kann ebenfalls nicht wissen,
dass „Live fast die young“
auch nur eine Form von digitaler Depression ist,
der nur durch
Entschleunigung des Wahrnehmungsapparates
und Fokussierung auf die unmittelbare Lebenswirklichkeit
begegnet werden kann.
Idealer Ort dafür:
Eine Schule.
How, ich habe gesprochen.

Und apropos Depression
und Kultur
und Cancel-Culture:
Das Gegenteil von alldem
konnte man am Freitag Abend
hier auf dem Quedlinburger Markt studieren.
Auf einer Bühne,
die unser Markt
so wahrscheinlich noch nie bewirten durfte,
gab Ben Zucker sein
von vielen angeblich
lang ersehntes Nachholkonzert.
Das teuerste Kulturevent
der lokalen Nach-Corona-Geschichte.
Nur 58 Euro
für knappe drei Stunden
allerfeinsten Schlagerpop.
So‘n bisschen Santiano,
so‘n bisschen Bruce Springsteen,
ganz viel ohoho und ahaha,
ganz viel Mitklatschen,
Juchzen, Pfeifen, Happysein.
Drei Stunden vor Beginn
standen sich die Fans
auf der Steinbrücke
schon die Beine in den Bauch.
Dramatischer hätte es auch kaum sein können:
Das von allen heiß ersehnte Sommergewitter
hätte dem ganzen noch die Krone aufgesetzt.
Nur: Es kam kein Sommergewitter.
Mal wieder nicht.
Dafür aber krachte es ordentlich.
Bei aller Abneigung
gegen die Industriemusik
von Ben Zucker und Konsorten,
aber die wissen immerhin,
wie man ein Schlagzeug richtig abmischt;
da hat die ganze Innenstadt mitgewippt.

Gut.
Die erste Episode des neuen Schuljahres
ist gleich zu Ende,
es klingelt zur nächsten Woche.
Deswegen,
Ihr habt es richtig kommen sehen,
hier Eure metaphorische Hausaufgabe:

Stellt Euch vor,
Ihr seid irgendwas
zwischen 6 und 18 Jahre alt.
Aber nicht mit
eurem heutigen Entwicklungsstand,
sondern eben dem,
den ihr mit 6, oder 12,
oder 15 oder 18 Jahren hattet.
Eure Fertigkeiten am Schwarzen Spiegel
sind aber bereits top notch.
Jetzt lest ihr bitte die folgenden Schlagzeilen
alle hintereinander weg
und nutzt sie dann (alle!),
um eine sogenannte „Reizwortgeschichte“ zu schreiben;
in diesem Falle eher eine Reizschlagzeilengeschichte.
Bitte keinen absurden Quatsch zusammenschustern,
sondern dabei einen irgendwie qualifizierten Kommentar
(Kontext und so)
zur aktuellen Gegenwart abliefern.
Umfang: Egal.
Abgabe ist dann im Internet.

 

Reizschlagzeilen der Woche (eine Auswahl):

– Denis Rodman will Britney Griner retten
– Dugins Tochter mit Autobombe in Moskau getötet
– Tillschneider (AfD Sachsen-Anhalt, Bildungsausschuss) bekundet dazu sein Beileid, (ein „Globalismuskritiker verliert Tochter im Geiste“)
– Tag der Ukrainischen Unabhängigkeit
– USA fordern Bürger zum sofortigen Verlassen der Ukraine auf
– Presseclub diskutiert erneut Kriegsmüdigkeit
– Erstes 365-Euro-Ticket (in Lüchow-Dannenberg)
– Klingbeil benutzt öffentlich das Wort „Umverteilung“
– Ganz bald Wasserstoff aus Kanada
– Historische Dürre in Südchina (70 Tage ohne Regen)
– Schweizer Gletscher in den letzten hundert Jahren halbiert
– Hans-Georg Maaßen schreibt Grundgesetzkommentar zum Asylgrundrecht für den Beck-Verlag
– Deutschland stimmt Rückgabe der Benin Bronzen zu
– Russland fackelt große Mengen Gas ab

 

Zusatzaufgabe:
Dabei bitte die folgenden Sprichwörter einbauen:
a) Nur unter Druck entstehen Diamanten.
b) Teig geht auf, wenn man ihn ruhen lässt.
c) Das selbe Wasser, das die Kartoffeln weich werden lässt, kocht die Eier hart.

 

„All you are
now I’m on the next page,
all you are,
time to close the book up now!“

(Deftones: Back To School. 2000.)

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