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If you tolerate this your children will be next (Chronicle 11)

von | 2022 | 16. Oktober | Chronicle

„The movies had that movie thing.
But nonsense has a welcome ring.
And heroes don’t come easily.
Now, nonsense isn’t new to me.“

(R.E.M.: Monty got a raw deal. 1992.)

 

Das Laub war schnell gefallen in diesem Jahr. Nur etwa die Hälfte der Blätter aller Bäume hing noch an den Zweigen, noch grün, viele gelb, wenige rot oder braun. Die andere Hälfte lag auf den Straßen, den Gassen, den Fußwegen; an den Bordsteinen bereits so hoch wie Schnee Mitte Januar. Karoline Salthusser schlurfte durch die kleinen Laubhaufen am Wegesrand. Sie vermisste Quedlinburg inzwischen sehr. Besonders an sonnigen Herbstnachmittagen am Wochenende, wenn die Laubbläser lange genug geschwiegen hatten, leuchtete das goldene Birken- und Lindenlaub so bezaubernd auf dem Kopfsteinpflaster.
Seit vier Monaten war sie nun schon untergetaucht und hatte den Kontakt zu Buch- und Brillenträger auf ein Minimum zurückgefahren. Während ihres ersten Versuchs, vor 100 Jahren, hatte sie gelernt, rechtzeitig und lange genug von der Bildfläche zu verschwinden, um ihre Arbeit weiter fortsetzen zu können. Die Dopplung der Ereignisse zu Beginn des Sommers waren aber ein zu deutliches Signal gewesen, um nicht entsprechend zu reagieren.
Aber so langsam hatte sie die fremde Stadt auch schon wieder über; egal wie gut man zu jeder Zeit darin verschwinden konnte. Sie hatte auch darüber nachgedacht, für eine Zeit zurück nach Wien zu gehen, wenigstens so lange, bis sie sicher sein konnte, die anderen durch ihre Nähe nicht in Gefahr zu bringen. Auch über einen Aufenthalt bei Verbündeten in der Schweiz war sie ins Grübeln gekommen. Stattdessen aber hatte sie sich für das italienische Parma entschieden. Im Sommer eigentlich zu heiß für ihren Geschmack, aber so hatte sie die Ereignisse Anfang August 1922 hautnah miterleben können. Von den Straßenschlachten zwischen den zahlenmäßig weit unterlegenen Arditi und den bald 20.000 Schwarzhemden unter Mussolinis Kommando hatte sie sich in den Verstecken und Kellerbars erzählen lassen, den Sieg am 7. August hatte sie ausgelassen mitgefeiert. Aber jetzt, gute zwei Monate später war die Stimmung in Italien, egal in welchem Kontinuum, auf ihrem Tiefpunkt angelangt, außer bei den Faschisten. Also hatte sie erneut über eine Flucht nachgedacht und war so vor wenigen Wochen in Rom angelangt, wo sie bald Arbeit in einem Café gefunden hatte, in beiden Zeitaltern.
Aber natürlich vermisste sie ihre besonnene Beschäftigung im Buchladen der Kleinstadt, egal in welchem Jahrhundert. Dass auch der Buchträger und Marie sich nun auch seit über vier Monaten nicht hatten sehen können, tat ihr mehr leid als alles andere, aber sie hatte ein mal zu viel erlebt, wie Marie in eine Tragödie verwickelt wurde. Eine Wiederholung davon, 100 Jahre später, musste sie auf jeden Fall vermeiden, und dazu war es notwendig, die beiden Liebenden auf Distanz zu halten, am besten räumlich und zeitlich.

Ihre freien Stunden hätte sie gerne mit dem Schreiben verbracht. Zwei Umstände hielten sie allerdings davon ab. Zum Einen hatte sie sowohl ihre „Corona“ als auch ihr Notebook in Quedlinburg zurücklassen müssen. Zum Anderen hätte sie zwar gewusst, worüber sie schreiben müsste, aber nicht gewusst wie. Ihr Kopf war so voller Gedanken über die immer überdeutlicher werdende Verdopplung des Zustands der Gegenaufklärung, dem Verwelken einer irgendwie gemeinsamen Wirklichkeit, dem täglichen Begräbnis von Wahrheit und Moral und dem Gewährenlassen des Chaos, während die Barbarei ihr nächstes Comeback unerträglich in die Länge zog. Und doch war sie unfähig, dafür die richtigen Begriffe zu finden, geschweige denn einen Text zu erdenken, der es mit dieser Tragödie hätte aufnehmen können. Im Jahr 2022 erschufen inzwischen künstliche Intelligenzen weitaus bessere Werke, um den Zustand der Welt abzubilden. Gerade erst hatte sie in einem Internetcafé das Programm Dall-E entdeckt, das aus ein paar Zeilen Text in Sekundenschnelle Kunstwerke erstellte, über die man sich dann tagelang den Kopf zerbrechen konnte. Sie hatte irgendwelche abstrusen Sätze in die Maske eingegeben und nur einen Moment später ein Bild vor sich gehabt, dessen Beschreibung so viel mehr gewesen wäre, als nur eine oberflächliche Interpretation der Gegenwart: Plüschteddybären, die auf dem Mond mit einem C-64 „Invaders“ spielen, in perfekter Popart und mit einem Hauch von Viviane Maier. Danach hatte sie es mit weniger entrückten Begriffen versucht: Raketeneinschläge in Kiew; Rückkehr der Maskenpflicht; Greta Thunberg dreht noch immer nicht durch, Heißer Gelbwestenherbst in Frankreich – und herausgekommen war eine 3-D Animation eines Schulkindes, dass mit FFP-2-Maske und einem riesigen, sonnenblumengelben Rucksack in dem Bombenkrater eines ehemaligen Spielplatzes sitzt und weint. Karoline hatte sich umgehend geschworen, diese Art von Programmen nie wieder zu benutzen. Und auch wenn ihr das reine Schreiben als Kunstform jetzt nur noch mehr wieder zusagte, blieb sie stumm wie das Papier, auf dem keine Worte erscheinen konnten.
Stattdessen las sie, wo auch immer sie die Ruhe dazu fand, was in Rom eine Kunst für sich war. Die Menschen auf den wenigen grünen Wiesen um sie herum waren, wie überall in ihre Schwarzen Spiegel versunken, nur ganz wenige hatten ihre Nasen in einem Buch. Von diesen allerdings auffallend viele in dem gleichen. Karoline war ebenfalls froh gewesen, dass Annie Erneaux völlig zu recht gerade den Literaturnobelpreis gewonnen hatte, sie selbst hatte aber schon im vorletzten Jahr ihre wichtigsten Werke auf indirekten Rat des Brillenträgers hin gelesen. Und mit der Kunst der autofiktionalen Erinnerungsarbeit war sie ohnehin bestens vertraut. Und so las Karoline das einzige, das so wenig Spuren hinterlassen hatte, um sich damit in der Öffentlichkeit nicht dem Urteil der anderen auszusetzen; ihr Manuskript hatte sie immer dabei, ihr Rucksack war groß genug.

 

14. Oktober 1922

Im Süden nichts Neues (Babylon Münzenberg 157)

Laub!
Laub überall!
Und taub,
taub sind wir,
nach dem Knall.
Es gibt kein Entrinnen,
egal wohin ich fliehe,
die Katastrophe ist schon da.

Aus meiner Reise nach Rom
kann nun doch nichts werden.
Marie ist schwanger!
Das stimmt sie so froh,
dass ich ihr meine Bedenken
nicht mitteilen kann.
Schwanger.
In diesen Zeiten.
Alle sagen:
Wann, wenn nicht jetzt?
Jetzt wird doch alles gut!
Die mageren Jahre sind vorbei.
Die Zwanziger werden golden!
Und wer weiß denn schon,
was die Dreißiger bringen,
oder erst die Vierziger.
Schlimmer als die letzten Zehner
kann’s doch nicht mehr werden.

Doch, Marie.
Das kann es.
Das wird es, Marie.
Aber das kann ich Dir nicht sagen.
Viel lieber würde ich Dich entführen,
in eine wirklich bessere Zeit.
Dich vor den Tragödien der Zukunft beschützen.
Vor dem Sturm der beginnt,
sich erneut zu erheben.

In Italien brodelt es bereits
so gewaltig wie seit Kriegsende nicht mehr.
Der Marsch auf Bozen
ist gerade einmal zwei Wochen her,
und schon reden die Faschisten von Rom.
Im schlimmsten Fall
wird Mussolini
noch in diesem Herbst
Ministerpräsident von Königs Gnaden.

Nein, Rom ist keine Reise wert.
Und hier weiß man sich noch
gegen die Faschisten zu wehren.
Gerade erst wurde die NSDAP in Braunschweig verboten,
vielleicht auch bald in Hamburg und Preußen.
Nur im Süden bleiben sie stabil.
Doch bis zum ersten Putschversuch
kann es höchstens noch ein Jahr dauern;
was auf den Oktoberfesten gehetzt wurde,
das stelle ich mir lieber nicht vor,
und diese hässlichen Hitlergrüße
gehören auch hier leider schon zum Stadtbild.

Und doch, Marie,
ich wünsche Dir Glück.
Soviel, wie Du nur kriegen kannst.
Ich weiß selbst nicht,
wie groß die Gefahr schon ist,
genauso wenig wie Du,
aber noch ist nicht die Zeit,
die Hoffnung zu verlieren,
noch lässt sich der Faschismus
ganz einfach
nicht tolerieren.

 

Als Karoline das Manuskript zurück in ihren Rucksack steckte, entdeckte sie die Tageszeitung, die sie am Vormittag gekauft hatte. Das Datum in der oberen Ecke des Titelblatts hatte sie bereits rot umrandet: Am dreizehnten Oktober 2022 war Ignazio La Russa zum italienischen Senatschef gewählt worden. Auch im Leitartikel hatte sie schon einiges markiert: „La Russa hatte im Wahlkampf behauptet, alle Italiener seien „Erben des Duce“ – also von Diktator Benito Mussolini. – Vor vier Jahren zeigte La Russa in einem Interview sein Wohnzimmer, in dem unter anderem eine Statue Mussolinis stand. – Während der Corona-Pandemie hatte er auf Twitter geraten, dass die Italiener sich nicht mehr die Hand geben, sondern den „Römischen Gruß“ der Faschisten – analog zum Hitlergruß – zeigen sollten. Nach der öffentlichen Aufregung über diese Äußerung löschte La Russa den Tweet. -“, Karoline schüttelte immer noch den Kopf, auch wenn sie die absurden Zeilen schon zum x-ten mal las, „Berlusconi beschimpft La Russa bei der Amtseinführung – Der neue Senatspräsident bekommt Blumen von der Holocaust-Überlebenden Liliana Segre.“ Noch mehr Kopfschütteln. Der Faschismus war zurück in der Gegenwart. Und wieder an der Macht. In Italien. In Rom.

Am nächsten Abend saß sie im Nachtzug nach Berlin. Sie musste zu Marie. Nicht wegen des Faschismus. Wohl aber wegen der Wiederholung der Geschichte. Sie musste wissen, ob es ihr gut ging. Und sie überlegte, sich jetzt doch einzumischen. Sollten die verdammten Regeln dieser verdammten Zeitreisen doch zur Hölle fahren! Aber konnte sie sich denn sicher sein, dass Marie lieber im Jahr 2022 leben wollte? Würde sie nicht wollen, dass der Buchträger doch lieber 1922 leben würde? Wäre das nicht auch der heimliche Traum von genau diesem? Hatte der nicht grade erst daran mitgewirkt, in Quedlinburg eine 20er-Jahre-Bar aus der Taufe zu heben? Würde er nicht alles für das Original geben? Nur wenn er nicht gewusst hätte, wie die nachfolgende Vergangenheit ausgesehen hatte.
Am nächsten Vormittag stieg sie in Berlin aus dem Zug und suchte sich den nächst besten Platz für einen Sprung. Dann ging sie ohne Verzögerung an den Ort, an dem sie Marie am ehesten vermutete, ein kleines Café, das gerade erst eröffnet hatte, und das es auch nicht allzu lange geben sollte, dafür aber die besten Franzbrötchen der Hauptstadt zu bieten hatte.

„Karoline! Na das ist ja eine schöne Überraschung!“
„Gott sei Dank, dass ich Dich hier treffe.“
„Wieso? Wolltest Du Dich etwa mit einem ausgedehnten Mittagessen bei mir entschuldigen, dass Du mal wieder einfach verschwunden bist? Vier Monate lang?“
„Marie, bitte. Es tut mir leid. Wirklich. Aber es ist zu gefährlich im Moment.“
„Und wie lange soll dieser Moment noch dauern?“
„Ein ausladendes Mittagessen und einen Vorschlag lang.“
Marie schaute verwundert, hatte sie doch den ernsten Unterton deutlich wahr genommen. „Was für ein Vorschlag denn?“
Karoline bestellte für die beiden und Marie begann bald darauf mit großer Leidenschaft und ungewohnter Eile zu essen. Bis dahin tauschten sie sich über die letzten Monate aus, und als sie beim vergangenen Wochenende angelangt waren, stellte die Kellnerin bereits den Nachtisch auf ihren Tisch. Marie hielt sich auch dabei nicht zurück und kaute schon während sie fragte: „das ist am selben Tag passiert?“
„Ja, Sabotage war das Wort der letzten Woche. Erst die Brücke zur Krim; niemand weiß was genaues, aber der Krieg kann weitergehen. Dann die durchgeschnittenen Kabel und drei Stunden Stillstand auf allen Fernverkehrsstrecken, die irgendwas mit Berlin zu tun haben.“
„Und Du bist sicher, dass die Antifa nichts damit zu hatte? Warum?“
„Kein Bekennerschreiben.“
„Hattest Du etwa keine Zeit, ein paar nette Worte zu formulieren?“
„Ha ha. Ich hab Dir doch versprochen, mich aus allem rauszuhalten.“

Marie schwieg für einen Augenblick und betrachtete ihre Hände, die auf ihrem Bauch zur Ruhe gekommen waren. Karoline folgte ihrem Blick. „Marie?“
Marie griff nach ihren Zigaretten, legte sie aber sogleich wieder auf den Tisch. „Du kannst rauchen, wenn du magst.“ Sie schob Karoline ein Feuerzeug zu. „Was ist das denn nun für ein geheimnisvoller Vorschlag?“
„Das sage ich dir gleich. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass du mir auch etwas sagen solltest? Marie?“
„Siebzehnte Woche.“
Karoline rutschte fast vom Stuhl. „Was?“
„Ja, ich weiß es schon seit drei Monaten, aber wie hätte ich dich denn erreichen sollen? Oder den Vater des Kindes?“
Karoline stand auf und schnappte nach Luft. Dann setzte sie sich wieder. „Dann ist es so gut wie entschieden. Du musst nur noch Ja sagen.“
„Du nimmst mich mit? Nach 2022?“
„Wenn du bereit bist, alle Brücken abzubrechen?“
„Nach allem, was ich weiß, sollte mir das nicht all zu schwer fallen. Eure Zukunft mag zwar auch vor die Hunde gehen, aber vielleicht finden wir ja einen Weg, meine Zukunft hier zu verhindern.“ Karoline nickte nur und nahm Maries Hände in ihre. „Meinst du, der Vater nimmt die frohe Botschaft so auf, wie wir hoffen?“
„Machst du neuerdings Witze?“ Sie tranken die letzten Schlucke ihres Mokkas aus. Als Marie ihren Mantel angelegt hatte, schaute sie Karoline eindringlich an. „Ich bin soweit.“
„Jetzt?“
„Brücken brennen umso schneller, wenn man mit einem Knall geht.“
„Und du brauchst nichts weiter?“
„Alles was ich brauche, habe ich in mir. Den Rest noch vor mir.“

Sie verließen das Café und liefen ein letztes Mal in Richtung Treptower Park. Hinter der Sternwarte und dem kleinen Friedhof verschwanden sie zwischen den Bäumen, und einen Wimpernschlag später waren dort, wo sie eben noch gestanden hatten, nur noch zwei große, braune Laubhaufen zu sehen, die nur kurze Zeit später von zwei Schäferhunden im Spiel in alle Winde verstreut wurden. Ihre Herrchen trugen schwarze Hemden. Und weit und breit niemand mehr, der sich noch daran störte.

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