Teil 1 – stress on the sky/bodies in flight
„I wasted time building castles in the air.
If there’s peace to be found, I won’t find it there.
My fear still sees, when my eyes are closed.
But the blame’s on me, this is the path I chose.“
(Architects: Castles in the Air. 2014.)
Kurz nach Sonnenuntergang waren sie in der Luft. Unter ihnen funkelten die Lichter von Frankfurt, links neben dem Brillenträger las jemand einen spanischen Text auf seinem Tablet – noch eineinhalb Stunden bis Glasgow. Und dieses Mal hoffentlich ohne Turbulenzen. Die jüngere Brillenträgerin, die ihre Brille auch ungern aufsetzt, saß rechts neben ihm am Fenster, hatte die Augen bereits geschlossen und hörte so leise Musik, wie es erst seit ein paar Jahren möglich war. Der Brillenträger hingegen hörte nur das Dröhnen der Turbinen und die Stimmen der Flugbegleiter*innen, die Wodka mit Tomatensaft verkauften. Nach zwanzig Minuten sah er vor dem Fenster nur noch die schwarze Nacht und wartete vergeblich darauf, dass sich Eisblumen an den Rändern bildeten; so hoch oben ist immer Winter.
Am frühen Morgen war der Brillenträger in einen feuerorangenen Sonnenaufgang gelaufen, als er um halb Acht bereits am Bahnhof in Quedlinburg stand. Seine Hände hatte er tief in seiner gelben Regenjacke vergraben, die Finger wurden bereits empfindlich kalt. Unter der Jacke trug er den wärmsten Pullover den er besaß, in seinem Rucksack hatte er noch einen dünnen Schal, auf dem Kopf trug er eine schwarze Kappe. Nur die Handschuhe hatte er gestern Abend wieder ausgepackt. Noch war ja wohl nicht Winter, auch nicht in Schottland. Aber immerhin würde er in den nächsten Tagen schon etwas an den dunklen Monaten schnuppern können, damit die ihm später weniger zu schaffen machen konnten. Nur diese kalten Pfoten, die hatte er noch nie leiden können.
Als er in Halle aus dem Zug stieg, ärgerte er sich kurz, nicht noch länger ausgeschlafen zu haben und viel zu früh losgefahren zu sein. Aber die schlechten Erfahrungen mit der Bahnverlässlichkeit der letzten Monate ließen ihm keine andere Wahl, wollte er kein Risiko eingehen, den Flug zu verpassen, weil wieder irgendein Zug auf Grund von Krankheit ersatzlos gestrichen worden war.
So konnte er sich nun jedoch Zeit nehmen, um zu erkunden, ob die Saalestadt noch irgendwelche Verbundenheitsgefühle in ihm auslöste, auch wenn seine Studienjahre hier schon länger her waren als sie gedauert hatten. Schnell kam er zu dem Schluss: Nope. Keine Gefühle. Nur eine kurze Pause in einer fremden Stadt auf dem Weg in eine andere fremde Stadt. Auf dem Marktplatz nahm er bald in der Sonne Platz, bestellte den ersten von vielen Kaffees der nächsten Tage und beobachtete die Menschen dabei, wie sie dem ziemlich heftigen Westwind trotzten. Die letzte Eisbude des Sommers wurde gerade in eine windgeschützte Ecke geschoben, acht Männer mühten sich unter lautem Fluchen damit ab. Nur für wenige Wochen würde der Marktplatz einzig in all seinem vertrauten Grau erstrahlen, dann würden die Weihnachtsbuden aufgefahren. Jetzt aber war der teure Steinboden, dessen Verlegung damals Jahre gedauert hatte, leergefegt und beinahe spiegelglatt, nicht das kleinste bisschen Laub hatte sich bis hierher verirrt. Der Wind nahm in diesem Moment sogar noch zu und ließ die zugeklappten Sonnenschirme knattern.
Wieder in der Bahnhofshalle angekommen, vertrieb sich der Brillenträger die restliche Zeit noch im Zeitungsladen, kaufte aber nichts und nahm lediglich zur Kenntnis, dass auf dem Cover der letzten „Visions“ die Architects Erwähnung fanden. Seltsam, wie Ereignisse ihre Schatten vorauswerfen können. Vor dem Laden flatterten zwei Tauben durch die Halle, und ein paar gelbe Blätter wirbelten den Reisenden um die Füße.
Keine halbe Stunde später hatte er die Abflughalle des Flughafens zwischen Leipzig und Halle erreicht und in dem einzigen Café Platz genommen. Die jüngere Brillenträgerin, die ihre Brille auch ungern aufsetzt, winkte ihm wenige Minuten später von der Rolltreppe zu. Noch drei Stunden bis zum Flug nach Frankfurt. Sie unterhielten sich über das Studieren, darüber, wie viel und wie wenig sich dabei in den letzten Jahren verändert hatte. Staatsexamen, Referendariat, all das gab es noch, aber nur noch in den wenigsten Studienfächern; zum Beispiel in ihrem. Die Jurastudentin und der Brillenträger fachsimpelten so weit sie konnten, über Präzedenzfälle, über den Unterschied zwischen Mord und Totschlag, über Fallbeispiele, über absurde Verbrechen, über die Strenge und Neutralität der Gesetzesauslegungen. Die Zeit verging wie im Flug. Draußen trug der Wind die ersten größeren Wolken heran, neben ihnen öffneten zwei Frauen in Flipflops kleine Sektflaschen.
Der Airbus nach Frankfurt kam während der knappen Stunde kaum zur Ruhe. Die Warnzeichen erleuchteten, kaum dass sie erloschen waren. … hielt sich am Vordersitz fest, beide lutschten konzentriert Salbeibonbons, der Kapitän entschuldigte sich, korrigierte die falsch vorgegebene Flughöhe, was kurz zur Beruhigung führte, dann setzte er bereits zur Landung an, und das flaue Gefühl in ihren Mägen nahm wieder zu. Die Frau, die in ihrer Sitzreihe am Fenster saß, schaute immer noch auf ihren Schwarzen Spiegel, anstatt auf die Wolken unter ihnen.
Der Flughafen in Frankfurt hat obszöne Dimensionen. Obwohl sie fast drei Stunden Aufenthalt hatten, hätten sie nur einen Bruchteil davon sehen können, wenn sie das denn gewollt hätten. Sie wollten aber lieber etwas essen. Die Preise für Pasta und Pizza waren, angesichts der Menge, ebenfalls obszön. Und die Raucherloungen sowieso. Nach einer gefühlt halbstündigen Busfahrt vom Gate bis zum Flugzeug, während der sie einem schottischen Pärchen bereits vorfreudig beim Schottischsprechen lauschten, bestiegen sie den nächsten Airbus, der auch umgehend abhob. Die bereits untergegangene Sonne würden sie nicht mehr einholen. Und außerdem flogen sie ja eher nach Norden als nach Westen.
Bis zum Landeanflug blieb alles ruhig. Die Jurastudentin hörte Musik, der Brillenträger tippte vor sich hin, sein Nachbar zur linken las weiter ohne Unterlass seinen spanischen Text. Die letzten zwanzig Minuten jedoch waren durch so starke Turbulenzen bestimmt, dass alle drei tief ein- und ausatmen mussten, um nicht doch in Panik zu geraten. Stressfreies Fliegen scheint es nicht zu geben; auch wenn einige der Fluggäste gerne genau diesen Eindruck vermitteln wollten.
Schon aus dem Fenster konnten sie sehen, was beide erwartet, wenn auch nicht erhofft hatten: Das Rollfeld war regennass, auf der Gangway hörten sie bereits den Wind pfeifen. Und als sie das Flughafengebäude verließen, waren ihre guten Hoffnungen vollends zunichte gemacht. Es war ganz genauso, wie es sein sollte. Nieselregen, derbe Windböen – Schottland, Anfang November. Nicht lange, und sie hatten herausgefunden, wie sie zu ihrer Unterkunft gelangen würden: Shuttlebus, Zug, Fußbus. Sie brauchten bald eine volle Stunde bis in die Ark Lane, von wo aus sie die Spitze der Kathedrale von Glasgow sehen konnten, gleich hinter dem William Wallace Memorial in der „Necropolis“, der Stadt der Toten.
Bis sie einschliefen, hörten sie das Heulen der Großstadtsirenen.
to be continued …

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