„Ein Anti-Kriegs-Klangerzeugnis?
Pff, ganz was Neues!
John Lennon hat das schon in den 70ern gemacht.
Hat ja richtig was gebracht.“
Im Hintergrund lief „Tonights Episode“ von Yo La Tengo, und der Brillenträger musste unwillkürlich lächeln, weswegen er auch nur den linken Mundwinkel ein wenig nach oben zog. Endlich passten die Alben des Jahres und die Gegenwart wieder zusammen. Die erste, beste Neuerscheinung des Jahres, die der Brillenträger am Freitag aus seinem Briefkasten gefischt hatte, rotierte seitdem in Dauerschleife im CD-Player. Der Titel der Scheibe: „This Stupid World“. Das klang nach einem der besseren Kandidaten für die engere Auswahl der nächsten Staffeltitel seines Blogexperiments. Die zweite, beste Neuerscheinung des Jahres ruhte derweil auf dem Plattenteller und war ein ganzes Sammelsurium an zukünftigen Episodentiteln: „Es ist Abend und wir sitzen bei mir“. Der Brillenträger warf einen Blick an die Wand in seinem Wohnzimmer, an welcher hinter einem Tourplakat eine Karte für das bereits ausverkaufte Konzert im kommenden August hing und zog jetzt auch seinen rechten Mundwinkel kurz nach oben. 15.000 Menschen würden singen, im Sonnenuntergang, während sie die Hüften schwingen: „Ich geh heut nicht mehr tanzen!“ Livemusik war wahrscheinlich auch keine Lösung. Aber das brauchte sie auch nicht sein, denn sie war bereits etwas ganz anderes: Erlösung.
„Du musst gar nicht so viel sagen.
Du musst gar nicht so viel reden.
Du musst dich einfach nur mal wieder so
bewegen wie du willst.
Bewegen so wie du es gerade fühlst.
So viele Monate alleine,
ja, ich glaube, übern Winter
war dir alles viel zu viel.“
(AMK: Lass es kreisen. 2023)
Vor seinem Fenster fielen immer noch vereinzelte Schneeflocken, und die Fremdenführerin in der Gasse unter ihm versprach den Touristen, um die nächste Ecke, hier in der Hölle, wäre es vielleicht wärmer, aber die für heute geplante Episode würde der Brillenträger trotzdem mal wieder nicht schreiben. Dieses mal allerdings nicht, weil das Leben mal wieder dazwischen gekommen war, sondern einfach weil er es sich erlauben konnte. Er hatte mehrere Nächte in Folge durchgeschlafen, etwas das ihm ohne Hilfsmittel oder totale Erschöpfung nur sehr selten geschah. Zudem warteten auf seinem Schreibtisch gerade mal keine Hausaufgaben. Er hatte also tatsächlich Zeit. Und den Luxus, diese mit anderen Dingen zu verbringen, als damit, schon wieder dem Irrsinn der Gegenwart hinterher zu jagen. Im vierten Jahr seiner Chronik hatte er begonnen, sich mehr und mehr über seine Work-Life-“Art“-Balance bewusst zu werden. Darüber, wie sich die einzelnen Wochen dieses Jahrzehnts immer wieder in kleine Häppchen zerlegen ließen, ohne dabei irgendwelche hippen Narrative zu bedienen oder den Überblick ganz und gar zu verlieren. Darüber, wie sich Relevantes von Hype unterscheiden ließ. Wie sich die unvermeidlichen Zweifel (Warum? Wieso? Weshalb?) vermeiden oder clever integrieren ließen. Und wie sich das alles mit seinem Leben, seinem Beruf und seinen anderen Leidenschaften vereinen ließ, ohne ständig aus dem Gleichgewicht zu geraten. Vor allem von den Zweifeln konnte und wollte er nicht lassen. Denn außer einer eingebildeten mentalen Stabilität, die die Chronik in sein Leben gebracht hatte, gab es immer wieder Momente, in denen er damit rang, sich die Frage nach dem Sinn des Ganzen nicht zu oft zu stellen. Gelegentlich gelang es ihm immer noch, aus dieser scheinbaren Sinnlosigkeit so etwas wie auktorialen Stolz zu ziehen. Seht her, wie es mir gelingt, einen weiteren postmodernen Don Quijote zu schaffen, der auf seiner Tastatur den Windrädern des Jahrzehnts Löcher in die Segel schlägt. Und das ohne, dass es ständig Likes, Dislikes, Hate und lustige Kommentare hagelte. Die Kommentarspalte seines Blogs zählte nach zwei Jahren ganze acht Einträge, die Hälfte davon Antworten von ihm selbst. Seine linke Schulter fühlte sich bereits morsch an, so oft hatte er sich selbst darauf geklopft. Aber dann kamen andere Zweifel: Konnte seine real life Kunstfigur denn mit all den anderen Kunstfiguren der Zeit wirklich mithalten? Wollte sie das? Und sollte der Brillenträger nicht viel mehr eine Antikunstfigur, eine Metakunstfigur sein? Und wann ja, wozu? Die einzige immer noch mögliche Antwort: Höchsten für den Ruhm der Nachwelt. Manchmal überlegte er sogar, endlich doch mal mehr über sich zu schreiben, denn darauf standen die meisten Leser*innen ja angeblich besonders: Intime Beichten, poetische Einblicke in ein Seelenleben, das Zugeben von Schmerz und Scheitern, das Schwelgen in Selbsthass und/oder -herrlichkeit, das Leben, Geschichten, und nicht immer nur diese eigene, deprimierende Gegenwart. Aber diesbezüglich hatte er bewusst einen Pakt mit den Musen geschlossen: So etwas gab es nur in kleinsten und gut verpackten Dosen. #DieDoppeltenZwanziger hatten nämlich noch einen anderen Sinn: Sein Ego immer wieder zurecht zu stutzen, um nicht einer dieser selbsternannten „Künstler“ zu werden, für die die Welt nur eine weitere Möglichkeit war, sich ein spannenderes Leben zu erfinden, um anderen irgendwie davon zu berichten, so dass diese sich dann weniger langweilen können.
Und dabei hätte es die nächste Episode durchaus in sich gehabt: Einen brutalen Titel und Wirklichkeiten, die noch viel brutaler waren; der ganze Niedergang der Humanität auf zehn bis dreizehn Seiten und maximal edgy rubrifiziert. Der Brillenträger schob seinen mangelnden Antrieb, sich erneut in diesen brennenden Trümmerhaufen zu stürzen, aber auch auf sein selbstauferlegtes Kaffeefasten. Er redete sich ein, momentan einfach nicht woke genug für stundenlanges Festhalten von Wahnsinn und Verblendung zu sein. Und stattdessen lag er am Sonntag einfach weiter auf der Couch unter der Decke und ließ nun doch seine Gedanken nur um sich kreisen.
Seltsamerweise fiel es ihm immer noch schwer, sein relatives Glück wirklich zu begreifen, geschweige denn es auch nur annähernd zu beschreiben, denn irgendwo musste doch schließlich ein riesen Haken sein: White Western Privilege, deutsche Provinzausgabe, Anfang der 20er des 21. Jahrhunderts – das Leben so sehr genießen können, dass es ihm selbst absolut unglaubwürdig vorkam. Außer Krankheiten und Altwerden nichts zu befürchten; Familien, Freunde, Liebende, denen nichts tragischeres als das ganz gewöhnliche Leben passierte, denen es allen eigentlich gut und eigentlich noch viel besser ging; langsam vor sich hinreifende Musikprojekte mit den besten Freunden; der ernsthafte Vorsatz, sehr bald mit dem Rauchen aufzuhören; auf dem Bücherregal das brandneue, über 4000 Farbseiten umfassende Fables-Kompendium, auf das er zwei Jahre geduldig gewartet hatte und das er bereits für das doppelte hätte verkaufen können. Möglicherweise schaltete er gleich noch den Fernseher ein und schaute sich das heutige Topspiel der Western Conference der NBA an: Die zwei besten Scoring Duos der Liga kämpften um die Playoffplätze. Dazu vielleicht doch noch ein kleiner Whisky? Oder er ging früh schlafen. Morgen war ja auch noch ein Tag. Eine Zukunft. Ein Platz mitten im Leben. – Wie viele konnten das schon von sich behaupten? Und wie viele mehr nicht? Wie viele wussten nichts mehr von einer Zukunft, da ihre Vergangenheit und Gegenwart bereits vom Weltuntergang überwunden worden war? Die nicht mal Alkohol oder andere Gifte hatten, um alles immer wieder oder für immer vergessen zu können.
Schnell schob er das schon wieder lauter werdende Hintergrundrauschen der Gegenwart außerhalb des Wohnzimmers und zog die Decke noch ein wenig höher; Don Quijote hatte auch nicht jeden Tag gekämpft und Kopfschmerzen bekam er auch ohne Rotwein und/oder Schlaftabletten. Das Leben, sein Leben, war doch gut, gut, so gut. Sogar mit Pepe, dem Hund seiner Mutter, war es im letzten Jahr nur bergauf gegangen, und er war ein junger, ungestümer Halbterrier-Halbteddybär geworden, der trotz seines chronischen Leidens zu jedem freundlich war und seiner Mutter alle liebevolle Aufmerksamkeit abverlangte, die sie geben wollte. Nur sein Schwesterherz kränkelte ein wenig, und wieder mal würden sie die Chance auf ein gemeinsames Konzert verpassen. Aber sogar das war zu einer lieb gewordenen Tradition geworden. Dann halt beim nächsten Mal; wie viel Zuversicht doch in diesem Versprechen lag. Und wie glücklich sie waren, es sich geben zu können.
Beinahe schon panisch vor Glück und Unbekümmertheit steigerte er sich unter der Decke erneut in den von ihm kürzlich erst so getauften „Zwischenzustand“. Es gab kaum noch Momente, in denen er nicht an zwei Orten gleichzeitig war. Der eine Ort war sein Körper, der beispielsweise stundenlang in einem Klassenraum saß und den Abschlussjahrgang bei der Vorprüfung in Deutsch beaufsichtige und nebenbei in Don DeLillos Debutroman las, während sich die Schülerinnen und Schüler an den Themen „Sinn des Lebens“ oder „Krieg und Frieden“ beweisen wollten. Der andere Ort war in seinen Gedanken, wo er auf einem Campingstuhl am Fuße der Rocky Mountains in der Morgensonne saß und einer Rinderherde beim friedlichen Grasen zuschaute, unter einem so blauen und unendlichen Himmel, wie er ihn sich ganz genau jetzt erträumte; dann schlug er die Augen wieder auf, und sein Körper saß wieder am Lehrtisch, klappte den Roman zu und verweigerte es sich, in der mitgebrachten Tageszeitung zu lesen.
„What I want to know
at this juncture
is whether the World War III idea
is any more viable
than it was a week ago
in the light of the recent developments
on the international scene.“
(Don DeLillo: Americana. 1971.)
Nur noch drei Monate! Die Finanzierung stand. Die Vorbereitungen waren im Zeitplan, er hatte sich auch bereits für seine Karte entschieden: Die USA und ihre Nationalparks. Die Route war mehr oder weniger fix: marching on Washington, falling in love with Appalachia, skimming the Great Plains, wondering in Yellowstone, falling for Montana, rocking in Seattle, going to San Francisco and leaving L.A. never easy. Und zwischendrin flüsterte Reinhard Mey in seine Ohren: „What a lucky man you are.“ 40 Tage absoluter Frieden mit sich selbst, weit weg von allem, was er kannte. 40 Tage uneingeschränkte Subjektivität, 40 Tage Freiheit im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, wie es damals irgendwann einmal genannt worden war, als er noch nicht gewusst hatte, was diese Freiheit bedeuten sollte.
Im Moment aber hatte er nämlich noch genauso viele Unfreiheiten und Probleme, wie die meisten die er kannte. Alltagskatastrophen, hausgemachten Stress, Zoff mit dem Zeitgeist, die Qual der Wahl im Supermarkt, das Älterwerden, diese verdammten Entscheidungen und ihre verdammten Konsequenzen. Und obendrauf diese unerträglich leichte Gewissheit, privilegiert genug zu sein, um allem davon ohne zu große Angst begegnen zu können. Wäre er zu religiös gewesen, hätte er womöglich begonnen, einen Auserwähltenkomplex zu entwickeln. Es gab nichts mehr zu optimieren, dieses Leben ließ sich am besten leben, wenn er es einfach weiterlebte. Auf der Couch, am Lehrertisch, auf einem Campingstuhl im Sommer, am Fuße der Rocky Mountains, im Sonnenaufgang, mit Blick zurück nach Osten…
„All your sad and lost apostles
hum my name and flare their nostrils
choking on the bones you toss to them.
Well, I’m not one to sit and spin
‚cause living well’s the best revenge.“
(R.E.M.: Living well is the best revenge. 2008)
Am Montag, wieder hatte er sehr gut geschlafen, es war keine Zeit mehr für die Couch, und auch seine Hausaufgaben lagen wieder in Stapeln auf den Tischen, waren seine zwei größten Sorgen, ob er Ersatz für die übriggebliebene Konzertkarte für Dienstag finden würde, und womit er den zehnten Platz seiner aktuellen Facebookchallenge (individuelle Konzerthistory) ersetzen würde, wenn er morgen aus Leipzig zurück kam. Momentan stand dort unter „Nächstes Konzert“: Alligatoah, Retour 2023, im Internet wurde etwas von Abschiedstournee geraunt. Die erste Sorge löste sich nebenbei. Drei Kurznachrichten, und einer seiner besten Freunde und genauso großer Livemusikfan hatte zugesagt. Jetzt stand nur noch das Telefonat mit dem Ticketversand an, denn die Tickets waren immer noch nicht angekommen. Aber auch dafür würde sich eine Lösung finden, am Abend wollten erstmal die Bedenken über die Vorprüfungen der Wackelkandidaten ausgeräumt werden, und die Deadline für die letzte Episode war endgültig verstrichen; befreit klappte er das Notebook zu und nahm den Stift in die Hand.
5. März
S8:Ep13(u) – Killing in the name of
How to kill words and meaning:
– „Wagenknecht-Demo“ aftermath (irgendwie props für Standhaftigkeit):
Volksverpetzer, Klamroth und Co. schänden die Vergewaltigungsopfer des Ukrainekriegs ein weiteres mal, um behaupten zu können, dass #sahralügt.
Am Freitag kündigt sie ihren Rückzug an (kandidiert nicht erneut für die Linke)
– Roald Dahl und die Cancel-Culture (it’s about profit, not wokeness)
– „Windsor-Abkommen“ (Nordirland-Protokoll), Nordirland ist nicht EU,
Grenze verläuft auf der irischen Insel, Tories bestaunen Sunaks Verhandlungsgeschick, Schmugglerhochburg Belfast?
– Kabinettsklausur in Meseberg (no words needed)
How to kill otherwise:
– Heavy Riots im Westjordanland
– demnächst Todesstrafe für „Terroristen“ in Israel (last: Eichmann)
– der israelische Finanzminister Smotrich will das Dorf Huwara „ausradieren“
– wieder 160.000 in Tel Aviv gegen die Justizreform
– Konterrevolution im Iran in full swing (Giftgasanschläge auf Mädchenschulen)
– Bootsunglück, Italien (über 60 tote Geflüchtete)
– Seenotrettung wird noch schwieriger (Volker Wissing will neue Verordnung)
– Bayern: Kirchenasyl „illegal“?
– „Killer-KI“ entwirft 40.000 chemische Kampfstoffe in 6 Stunden
How to kill in war:
– Luft-„Offensive“ (Russland) in Donezk ab Montag
– Spiegelpropaganda next level:
Russland sagt, die USA planen eine Provokation mit Chemiekampfstoffen, nachdem die USA sagen, dass Russland einen Einsatz mit Chemiekampfstoffen plant
– Lage in Bachmut „immer komplizierter“ (27. Februar)
– Gerücht der Woche:
Nato, Frankreich und Deutschland haben Selenskyj ein „Kriegsultimatum“ gestellt:
Wenn die angekündigte „Frühjahrsoffensive“ (inkl. „Befreiung der Krim“) nicht gelingt, dann muss verhandelt werden (womit also mindestens Luhansk und Donezk, also der Donbas, abgetreten werden)
– Polen: größtes Rüstungsprojekt der Landesgeschichte (1000 Borsuk-Schützenpanzer)
– Lukaschenko in Peking: „Wir lernen bereits von China“
– massive Drohnenangriffe auf die Krim (1. März)
– Ukraine erwägt Rückzug aus Bachmut (1. März)
– Selenskyj: „Lage unter Kontrolle“ (2. März)
– russische Exilnazis überfallen Brjansk (in Russland) (2. März)
– Resnikov: „Keine Verhandlungen mit Putin“ (3. März)
How to kill from a far:
– katholische Kirche D segnet den Verteidigungskrieg ab
– die tschechische christliche Akademie:
Wer die Lieferung von Waffen zur Verteidigung der Ukraine verzögere, mache „sich mitschuldig am Massenmord an der Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen und Kindern“
– in Dänemark wird der Buß- und Bettag abgeschafft, um das 2%-Ziel der Nato schneller zu erreichen
– heiße Luft auf dem G20-Gipfel (keine Abschlusserklärung)
– Jubiläumsrede zur Zeitenwende („Nicht die Zeit für Attacken“)
– Scholz einen Tag später vertraulich in Washington
– Rheinmetall will Panzerwerk in der Ukraine bauen (und ist wieder im DAX gelistet)
Medwedew freut sich schon: „Wenn die Fritzen aber entscheiden, dort tatsächlich zu bauen (obwohl sie eigentlich pragmatische Leute sind), dann warten wir sehnlich. Das Ereignis wird mit gebührendem Salut aus ‚Kalibr‘ und anderen pyrotechnischen Anlagen begangen.“
– Nahkämpfe mit Feldspaten (sagt London)
How not to kill:
– gleiche Löhne für Bauern in Ost und West (Tarif)
– Bahn und Nahverkehr: Warnstreiks in 6 Bundesländern (3. März)
– Globaler Klimastreik (3. März): 240 Aktionen deutschlandweit (ca. 150.000 Menschen)
– Letzte Generation beschmiert Grundgesetzdenkmal mit Erdöl
– UN einigt sich auf Schutzgebiete in der Hochsee (30% der Ozeane)
How to kill a city:
– Berlin: Giffey mag gerne mit der CDU „koalieren“, die Grünen waren zu fordernd
How to kill a planet:
– Schneechaos auf Mallorca
– Frühjahrsdürre in Frankreich und Italien
– EU-Verbrenneraus aufgeschoben, auf Druck der deutschen Regierung
– Polarlichter über Magdeburg (off topic and beautiful)
Am Dienstag Nachmittag fuhr er mitten rein in einen Schneesturm, der ihn bis Leipzig begleitete. Die A36 und die A14 waren dicht befahren, aber ein wirklicher Stau bildete sich nie, die Trucks schlichen auf der rechten Fahrspur, die Drängler drängelten, und der Brillenträger skipte seine Lieblingslieder durch, bis ihn sein Navi auf Schleichwegen durch die Wohngebiete der westsächsischen Hauptstadt zur Arena führte; das Parkticket hätte er vor zwei Jahren als unverschämt teuer bezeichnet; die Begrüßung mit seinem Freund war wieder herzlicher als beim letzten Mal. Die offene Ticketfrage klärten sie in bar an der Abendkasse. Nach einigen Minuten Fußweg abseits der bereits anstehenden Menschenschlangen hatten sie eine Pizzeria gefunden und setzten sich zu einem Paar an einen gerade frei gewordenen Tisch, und es wurde schnell klar, dass sich hier alle satt essen wollten, bevor sie sich gegenüber satt sehen, hören, tanzen und/oder nur genießen würden. Sie redeten über Musik, als ob es nichts wichtigeres geben würde und nur beim Kauen schwiegen sie.
Bevor sie ernsthaft zu frieren anfingen, wurden sie in die Halle eingelassen, die Körperkontrollen waren flüchtig, die Stimmung ausgelassen, das Publikum im Durchschnitt so alt, dass bereits einige deutlich jüngere gedacht haben dürften, nicht mehr zu den Jüngeren zu gehören. Folglich entschieden sie die beiden Freunde schnell für Sitzplätze, auch weil sie es kaum fassen konnten, genau diese hier gefunden zu haben; im Grunde Königsloge: Überblick über das gesamte Publikum und ein Blick auf die Bühne, wie auf eine 20x40m-Leinwand. Die Show sollte in zehn Minuten beginnen, genug Zeit, am Merchstand noch nach dem besten zu suchen. Zwei CDs und Tourplakate später, der andere Satz für sein Schwesterherz, saßen sie mit den Füßen auf dem leeren Vordersitz und waren genauso aufgeregt wie immer, kurz bevor es losgeht.
Alligatoah war gute zwei Stunden lang genau die Kunstfigur, nach der dieses Publikum verlangte. Hauptfigur in einer irrwitzigen Parodie auf eine moderne Rockshow, Gesellschaftskritiker mit maximalem Zynismus und einem Fick für das weiße männliche Privileg. Dafür mit einem großen Herz, das an den Zuständen verzweifelt, während es das eigene Schlagen optimiert. Zehntausend gereckte Arme, die im Takt die Richtung wechseln, Fünftausend Köpfe die nicken, und Jein meinen. Den letzten Refrain kennen alle auswendig.
„(Komm) Komm, wir gehen,
komm, wir gehen
zusammen den Bach runter.
(Komm) Komm, wir gehen,
komm, wir gehen
zusammen den Bach runter.
(Komm) Komm, wir gehen,
komm, wir gehen
zusammen den Bach runter,
denn ein Wrack
ist ein Ort,
an dem ein Schatz schlummert.“
(Alligatoah: Willst Du. 2013)
Gegen Mitternacht hörte es auf zu schneien und erst am kommenden Morgen würde es wieder beginnen. Der Brillenträger sah die Fahrspuren allmählich wieder deutlicher, jede Art von Verkehr war abwesend. Mit den satten und glücklich müden Gedanken eine*s jeden, der/die sich auf dem Heimweg von einem gelungenen Konzert befindet, sah er, wie der letzte Vollmond des Winters die verschneiten Felder dunkelweiß erstrahlen ließ.
Am Küchentisch schaffte er es dann gerade noch so, einige Notizen zu machen, denn auch der Akku seines Notebooks machte gleich schlapp und wartete darauf, erneut aufgeladen zu werden; kein Problem, für das es keine Lösung geben würde. Sollte er dann morgen genug Zeit finden, zwischen all dem Weltuntergang und all dem satten Leben, dann würde er vielleicht eine Kurzgeschichte schreiben, über eine Kunstfigur, deren Ziel es auch sein würde, eine Kunstgeschichte zu schreiben, die mit allen Regeln der Kurzgeschichte bricht. Dafür aber mit der Lebenskunst nicht, versteht sich. Nur ein Problem hätte ihn noch davon abhalten können: Kurzgeschichten sind auch bloß keine Lösung, genauso wenig wie alle anderen Betäubungsmittel. Dachte er, speicherte die letzten sechs Seiten ab und drehte die Platte auf dem Teller ein letztes mal um.
„Du machst ein Lied
gegen die gemeine Welt.
Und in China
hat gerade jemand Reis bestellt.
Dann kommt der Krieg wieder,
dann begreifst du schnell:
Musik ist keine Lösung.“
(Alligatoah. 2015.)

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