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Fester Boden (Chronicle 13)

von | 2023 | 2. April | Chronicle, Staffel 8 - Fallen Leaves

 

„Mama told me
that I don’t run on wishes,
but that I schould have fun
pushing the flowers
that come up
into the front of a shotgun.
So many hills to die on.“

(Boygenius: $20. 2023)

 

Die Wege rund um den Trog am Steinholz waren völlig aufgeweicht. Der Brillenträger versuchte so gut es ging, den größeren Pfützen auszuweichen, die der reichliche Regen der letzten Märztage gebracht hatte. Auf den vollgesaugten Feldern wuchs bereits üppiges Grün. Während seines kleinen Spaziergangs erholte er sich von den ermüdenden Eindrücken des gestrigen Abends und nahm sich ausreichend Zeit, um über seine schon wieder ausbleibende Frühjahrsmüdigkeit und seine immer weiter zunehmende Zeitgeistmüdigkeit nachzudenken. Kurz blieb er im Schlamm stecken, als er daran dachte, wie sich auch seine Arbeitsmüdigkeit bemerkbar gemacht hatte, als er am letzten Sonntag Abend ohne Handy und Schlüssel vor seiner eigenen Wohnungstür stand, im Regen. Schlimm, aber kein Problem, für das es keine Lösung gegeben hätte. Er befreite seinen Fuß aus der durchnässten Erde und wich auf den dicht bewachsenen Rand des Feldes aus, seine Gedanken trockneten schnell.
Am einsamen Hof zwischen Quedlinburg und Westerhausen hielt er kurz inne und setzte sich auf einen halb abgetrockneten Stein. Er hätte jetzt auch an seinem Schreibtisch sitzen können, statt hier draußen saubere Luft zu atmen. Er hätte weiter über den Krieg schreiben können. Oder über den krachend gescheiterten „Klima-Volksentscheid“ in Berlin. Und dann gleich über den neuen Anführer der Anti-Grünen-Bewegung, Til Schweiger, der jetzt natürlich die langersehnte Fortsetzung von „Manta Manta“ ankündigte. Oder er hätte über den englischen König schreiben können und darüber, was für eine anachronistische Scheiße dessen Staatsbesuch in Berlin in dieser Woche gewesen war. Aber dann hätte er auch über Campino schreiben müssen, wie der im Frack beim Staatsempfang den Punkerclown gegeben hat. Und er hätte schon wieder über Donald Trump schreiben müssen, gegen den eine Grandjury in New York jetzt endlich Anklage erhoben hatte, ganze fünf Jahre nachdem das erste von vielen Verbrechen aufgedeckt wurde. Zu guter letzt hätte er dann noch über den gestrigen Auftritt von Liesa Eckerhaart schreiben müssen, aber vor allem dazu hatte er absolut überhaupt gar keine Lust; dann doch eher mit Hegel kiffen und den Weltgeist jagen. Aber stattdessen saß der Brillenträger auf einem Stein zwischen den Orten, sah seinen Schuhsohlen beim Trocknen zu und dachte an Marie. Und an Karoline. An den Buchträger, und an die Mädchen.

Die vergangene Woche war vielleicht die aufregendste so lange er sich überhaupt erinnern konnte. Alles lief automatisch ab, als ob sie alle hundert mal dafür geübt hatten. Kaum eine halbe Stunde, nachdem Maries Wehen eingesetzt hatten, waren er und der Buchträger in Thale gewesen, die Tasche war seit Tagen gepackt, die junge Mutter so weit wohl auf. Dann folgten zwölf Stunden Unsicherheit. Karoline und er hatten hatten versucht, es sich im Krankenhaus so gemütlich wie möglich zu machen, während sie auf die erlösende Nachricht aus dem Kreißsaal warteten. Die Zeit war stehengeblieben an diesem 24. Februar. Während sie warteten, sprachen sie wenig. Karoline hatte ihm aber immerhin erzählt, dass Marie sich noch immer nicht für Namen entschieden hatte. Dann, am späten Abend, das erste Mal um Acht, das zweite Mal acht Minuten vor halb Elf, waren die Mädchen zur Welt gekommen. Marie hatten sie sogar kurz noch sehen dürfen, bevor sie erlöst nach Hause gingen, Karoline übernachtete auf der Wohnzimmercouch des Brillenträgers. Die Tage danach vergingen in nur wenigen Momenten. So oft sie konnten, bereiteten sie alles für die erste Heimkehr der Mädchen vor, Marie hatte genaue Anweisungen gegeben. Und nach nur wenigen Tagen trugen sie die beiden die wenigen Stufen nach oben, während der Buchträger Marie an einem Arm haltend in ihr neues Zuhause begleitete. Bis gestern hatten sie sich mit den Schlafwachen abgewechselt, aber mehr als wenige und kurze Stunden waren Marie noch nicht vergönnt. Erst kurz vor der Lesung in Quedlinburg hatten Karoline und der Buch- und der Brillenträger die junge Mutter und ihre beiden Töchter das erste Mal verlassen. Schon am nächsten Morgen waren sie wieder zurück, nur der Brillenträger war in Quedlinburg geblieben.

Am frühen Nachmittag saß er dann sicher am Schreibtisch, hatte gerade eben seine Schuhe vom letzten Schlamm befreit, und musste sich darin erinnern, dass die Osterferien begonnen hatten und er damit aufgerufen war, mal wieder einen Gang rauszunehmen. Er zwang sich also, sein Notebook nicht zu öffnen. Die Datei war soweit gesichert, vielleicht würde er morgen was draus machen, vielleicht auch nicht. Viel Neues gab es eh nicht.

 

Kriegsprotokoll. Schreibtisch. Deutsche Heimatfront. Letzte Reihe. Woche 58.
Der Winter verabschiedet sich auch in der Ukraine. Nur ein paar trockene Tagenoch, dann kann der Krieg wieder noch mehr Fahrt aufnehmen auf den verhärteten Böden im Osten. Montag: Selenskyj ärgert sich, dass „für viele im Hinterland der Krieg schon vorbei sei.“ Awdijiwka wird evakuiert. Der russische Sicherheitsrat erklärt die Nato zum Teil des „Ukraine-Konflikts“. Alle deutschen Panzer sind in der Ukraine angekommen. Dienstag: Selenskyj ist zur Lagebesprechung an der Front (Cherson, Charkiw). In der Nacht gab es abgewehrte Drohnenangriffe auf Kiew. Amnesty International wirft dem Westen Doppelmoral vor. Russland fängt erste Raketen aus der Ukraine ab. Selenskyj weiter auf Frontbesuch (Sumy). Granateneinschläge in Donezk, die Gegenoffensive schießt sich warm. Mittwoch: Der iranische Außenminister besucht Moskau. Selenskyj lädt Xi ein. Melitopol wird unter ukrainischen Beschuss gesetzt. Prigoschin erklärt: die ukrainische Armee in Bachmut ist „praktisch zerstört“, wenn auch unter schweren Verlusten. Der Kreml schaltet derweil das Rote Telefon ab. – „Wenn heute jemand in Polen oder Europa Munition vom Kaliber 155 Millimeter oder 120 Millimeter produzieren könnte, würde er es verkaufen können wie geschnitten Brot“, sagt Polens Regierungschef, der M-I-K nickt zufrieden. Am Abend räumt das ukrainische Militär hohe Verluste in Bachmut ein. Prigoschin hatte ja vom April gesprochen, der beginnt in zwei Tagen. Donnerstag: Bis zum Mittag kein Liveblog bei der Tagesschau; der noch zu krönende britische König ist im Land… Der russische Geheimdienst hat einen Wallstreet-Journal Journalisten festgenommen. An der Front bleibt alles wie gehabt (47 Angriffe am gesamten Verlauf; Bachmut bleibt „tapfer“, die Ukraine hält noch ein Drittel der Stadt). Selenskyj: „400 Tage der Verteidigung gegen eine umfassende Aggression, dies ist ein kolossaler Weg, den wir zurückgelegt haben.“ Am Abend schlagen Raketen in Charkiw ein. Freitag: Der deutsche Bundeskanzler sendet eine Videobotschaft zum Jahrestag der Befreiung von Butscha: „Diese Verbrechen dürfen nicht straflos bleiben. Dafür stehen wir geeint hinter der Ukraine. Russland wird nicht siegen!“ Selenskyj: „Wir werden niemals vergeben.“ Die Kämpfe an der Front setzen sich fort, Raketen schlagen in Saporischija ein. Samstag: Russland rekrutiert wieder mehr. Die Munitionslieferungen werden aufgestockt. Nichts Neues an der Front, neue Schneefälle verhindern noch schlimmeres. Erste Gerüchte über die Stoltenbergnachfolge (Ursula von der Leyen?). Sonntag: Ein US-Institut erklärt die russische Winteroffensive für gescheitert, die britische Regierung kennt den Grund: Die Russen saufen zu viel. Polen bettelt darum, dass es Teil der nuklearen Abschreckung sein darf. Granatenbeschuss auf Kostjantyniwka (Donezk). Ansonsten nichts Neues. Außer des Zwölf-Punkte-Plans der Ukraine zur Berfreiung der Krim: Abriss der Krimbrücke zum russischen Festland, „Säuberung“ der Bevölkerung, Bestrafung von Verrätern, Vertreibung aller neuen Bewohner seit 2014, Befreiung aller politischen Gefangenen. Am frühen Abend wird in St. Petersburg ein Anschlag auf einen russischen Militärblogger verübt, der mit Prigoschin zu tun gehabt haben soll.

 

Der Brillenträger hatte sich gerade Tee gemacht, als es klingelte. Der Buchträger wollte nur auf einen kleinen Kaffee hochkommen, bevor er wieder nach Thale fuhr.
„Und? Endlich wieder Zeit zum Schreiben gefunden?“ Der Buchträger hatte es sich sofort auf der Couch bequem gemacht. „Ich mein, wenn das ma nich ne Woche war, über die gerade du hättest schreiben müssen.“
„Wie meinen?“
„Hallo? Frisurensohn? Endlich. Endlich. Endlich?“
„Ach, scheiß doch was. Das ist alles beyond peinlich, für alle Beteiligten.“
„Aber juckt es dich nicht in den Fingern?“
„Was denn? Ich hab schon so oft gedacht, ich müsste über den nicht mehr schreiben, und dann? Das nächste Ding. Wird jetzt auch bloß nicht anders, garantiert. Ted Cruz hat schon verlauten lassen, dass die Anklage das beste Wahlgeschenk ist, dass Trump hätte kriegen können. Un so wird es auch kommen. Es ist nur noch langweilig. Und immer noch nicht ungefährlich.“
„Und das schreibst du dann nicht lieber auf? Is doch dein Thema.“
„War mein Thema. Ich muss über so viel anderes schreiben, außerdem weißt du ja, Monothematik is was für schlichte Blogger, und …“
„Ja, danke, das hatten wir schon. Also keine neue Episode diese Woche? Was sagt der Zeitgeist dazu?“
„Der kann sich mal schön selber was erzählen. Ich hab außerdem Ferien. Milch und Zucker?“
„Sehr gerne. Und bitte riech ausführlich dran, bevor du ihn mir hier neben die Couch stellst. Und haste vielleichtz noch was zu lesen für mich, während du in der Küche bist?“
„Alles zu ihrem Wohl, Herr Vater“, der Brillenträger holte sein Notebook vom Schreibtisch, entsperrte es und stellte es auf den Wohnzimmertisch, so dass der Buchträger von der Couch aufstehen musste, „mit Vergnügen, educate yourself.

 

2. März

S8:Ep16(u) – Burned Soil

The New Left, part one

Katja Kipping (Die Linke):
»Unsere Programmaussage zur NATO ist von der Zeit überholt«
Schade.

The New Left, part two

„Zeitenwende“ auch in der dt. Streikkultur?
– Der neoliberale Propagandakrieg ist in den Oberstufen angekommen:
„Die gehen mir auf den Sack mit ihrer Streikerei!“
„Weißt du, warum die das tun?“
„Nee.“
– Tarifrunde gescheitert, what’s next?
– „Streik“ beim Nordharzer Theater
vor dem Quedlinburger Rathaus
wird ein„Personalüberleitungstarifvertag“ gefordert,
deutscher lässt sich Arbeitskampf nicht machen

→ Exkurs:
Verriss des „Sommernachtstraums“ (Großes Haus, Quedlinburg)
– als ob es im Orchestergraben gebrannt hätte

The new Left, part three

Janine Wissler (Die Linke):
Abschaffung der Hausaufgaben!
Mein Reden;
und was ist mit der 4-Tage-Woche
auch im öffentlichen Dienst?
Ach nee, will ja keiner machen.

The new Right, part one

Neugründung in Thüringen:
„Aufbruch Gera“ (schon wieder mit den immer gleichen Fratzen)

→ Exkurs:
Gegenbeispiel:
Die Harzer CDU unter Thomas Balcerowski:
„Die aktuelle Flüchtlingskrise,
die uns vor größere Herausforderungen als im Jahr 2015 stellt,
kann der Landkreis
nur gemeinsam
mit den Städten und Gemeinden bewältigen.“

The new Right, part two

Israel:
– erste Proteste für die Justizreform, inkl. Gewaltaufrufen
– dann wieder hunderttausende dagegen
– Bürgerkrieg nicht mehr ganz so weit weg

 

Der Brillenträger saß bereits mit zwei Tassen in der Hand auf der Couch, als der Buchträger mit dem Lesen fertig war. „So, hier, wohl bekomm’s. Können wir jetzt über was wichtiges reden? Wie geht’s den Damen? Wie geht’s Dir?“
„Wie’s mir geht? Das fragst du wirklich? Sieht man das nicht?“
„Doch, doch. Aber …“
„Du meinst, du würdest gerne mal wieder mit irgendwelchen Bedenken kommen, die ich nicht selber schon gehabt habe?“
„Du, wir können och einfach über was anderes reden.“
„Nee, mach ruhig. Muss auch sein. Lass mich doch einfach gleich selber anfangen: Man, ich habe Schiss wie noch nie in meinem Leben.“
Der Brillenträger nickte: „Ich auch.“
„Gut zu wissen. Ich weiß, gar nicht worüber ich mir zuerst Sorgen machen soll. Ziehen wir zusammen? Bleibt sie erstmal bei Karoline? Ist das sicher? Wäre es anders sicherer? Ich meine, Marie hat nicht mal einen Ausweis, oder Pass oder sowas.“
„Das war für Karoline ja auch kein Problem.“
„Stimmt. … Aber weißt du, was meine größte Sorge ist? Die Mädchen haben immer noch keine Namen.“
„Na, dein Vorschlag war ja auch eher ein Gag, oder?“
„Ja, aber ein sehr treffender.“
„Und was sagt Marie?“
„Die weiß nur, welche Namen es nicht sein sollen. Wie lange kann man sich dabei Zeit lassen?“
„Keine Ahnung. Aber apropos Zeit …“
„Ja ja, ich trink nur noch schnell aus, ja? Hast du mal ne Kippe?“
„Klar, und ein Kaugummi.“

Die beiden standen noch für einige Minuten auf dem Balkon und lauschten der Amsel, die zum ersten Mal in diesem Jahr, wie jedes Jahr, auf dem Dachfirst gegenüber ihr Revier markierte.
„Also, sag ehrlich: Bist du bereit? Stehst du mit genug Beinen im Leben?“
Der Buchträger dachte nach. Dann grinste er: „Wer wenn nicht wir? Wo, wenn nicht hier? Wann, wenn nicht jetzt? Ans Ende denken wir zuletzt.“
Der Brillenträger schüttelte ironisch mit dem Kopf, umarmte seinen Freund und sagte: „Na dann, Sportsfreund.“
„Sag nie wieder Sportsfreund. Die Zeiten sind vorbei. Lange.“

 

***

 

Zum gleichen Zeitpunkt saß Marie von Weizenfall auf einer der wenigen Bänke im beinahe verlassenen Bodetal und schaute gedankenlos auf den Fluss. Es war wirklich noch einmal kalt geworden, sie hatte alles angezogen, das sich auf die Schnelle finden ließ. Die beiden Kinder waren vor einer halben Stunde gleichzeitig eingeschlafen, und Karoline hatte sie quasi rausgeworfen; sie sollte sich keine Sorgen machen und die Bedeutung der zeitweiligen Einsamkeit nicht gleich ganz vergessen; und sich warm anziehen. Marie war unwillig gegangen, vergaß das aber mit jedem Schritt, den sie alleine durch die Stadt zurücklegte. Allein, das erste Mal seit einer ganzen Woche. Vor drei Tagen hatte sie die Geburtsstation verlassen dürfen, seitdem hatte sie nur wenige Stunden geschlafen, war aber immer noch viel zu wach für eine junge Mutter. Karoline hatte ihr aus dem Fenster noch ihr Tagebuch hinterhergeworfen und gerufen, so dass die meisten der Nachbarn lauschen konnten, sie solle sich selbst nicht vergessen, auch wenn es noch so verführerisch erscheinen mochte. Also saß sie nun am Ufer, rieb sich die Hände, überlegte kurz, ob es schon Zeit für ihre erste Zigarette sein könnte, blieb allerdings vernünftig und kaute stattdessen auf der Kappe ihres Füllers.

 

Structure in Normality (est. 1921)
Maries Tagebuch, Sonntag, 2. April 2023

Liebes Buch,
ich danke Dir gleich zu Beginn für Deine unendliche Geduld und Dein heilsames Schweigen. Ich weiß, das habe ich schon oft getan, aber Du weißt ja, was sie sagen. Wie so oft, nein, wie noch niemals zuvor, weiß ich gar nicht, wo ich wieder anfangen soll. Alles ist noch so viel verrückter und aufregender, als ich es mir jemals hätte ausdenken können. Vor einem Jahr war ich noch die junge Hoffnung der Revolution, oder zumindest wäre ich es gerne gewesen, die rote Marie, ihrer bourgeoisen Familie entflohen und auf den brennenden Barrikaden in Berlin die Fahne schwenkend, anstatt im Moka Efti das Tanzbein zu schwingen. Und dann treffe ich ihn ausgerechnet dort. Ein bisschen schnöselig wirkte er schon zu Beginn, aber er hat nicht lange mit seinem Humor und seinem ehrlichen Lachen hinter den Berg gehalten.
Und jetzt sitze ich hier an diesem Fluss, den ich sonst nur von Wochenendausflügen kannte, meine Hände frieren und ich schreibe das Datum verkehrt. Es sind einhundert Jahre vergangen, für mich aber nur ein Wimpernschlag, dennoch, ein ganzes Leben später habe ich zwei Töchter zur Welt gebracht. Und ja, Du brauchst nicht zu fragen, die Geburt war genauso wie ich es mir vorgestellt hatte: Zwölf Stunden. Acht Stiche. Und Gott sei Dank keine weiteren Komplikationen. Zwischen den beiden liegen genau zwei Stunden und 22 Minuten. Das ist länger, als ich seitdem am Stück geschlafen habe, wenn ich das überhaupt so nennen kann. Manchmal frage ich mich, ob ich die beiden genauso verliebt anschaue wie Karoline oder ihr Vater. Dann sieht mich einer von beiden an, lächelt noch ein bisschen mehr und sagt so etwas wie: Es ist nicht möglich, Dir Dein Glück nicht anzusehen, und ich bin mir wieder sicher.
Nur bei diesen vermaledeiten Namen nicht. Das Krankenhaus hat schon zwei mal angerufen, und ich konnte ihnen immer noch nichts sagen. Als ob das so eine schnelle Entscheidung sein könnte, Namen für zwei Mädchen zu finden, die bereits vor ihrer Geburt einhundert Jahre übersprungen haben. Die Vorschläge der anderen haben auch nicht geholfen; „doppeltes Lottchen“, ich hoffe, er hat das nicht doch irgendwie ernst gemeint. Sein Freund hat June und July vorgeschlagen, worüber ich tatsächlich kurz nachgedacht habe. Karoline sagt, sie würde, wenn überhaupt, nur einen Namen vorschlagen und die letzte Wahl natürlich mir überlassen, aber ich weiß noch nicht genau, was mich von Arya zurückhält. Sie hat versucht, es mir zu erklären, die Nähe zu Ariadne, der Mut und die Rücksichtslosigkeit einer populären Fantasyromanfigur, der schöne Klang, das subversive Moment. Nur der Klang überzeugt mich bis jetzt. Aber damit würde immer noch ein Name fehlen. Ein Name aus meiner Familie kommt nicht in Frage, die Kleinen sind mit ihrem Nachnamen schon gestraft genug, auch wenn er deutlich schlimmer klingen könnte, das „von“ stört mich immernoch. Aber vielleicht kann ich das ja unter den Tisch fallen lassen. Heute finde ich dafür aber bestimmt auch wieder keine Lösung mehr, ich muss wenigstens ein paar Stunden am Stück darüber schlafen.
Ich hatte Dir ja letztens versprochen, noch mehr davon zu schreiben, warum diese Zwanziger hier dann doch, noch so viel besser sind als die letzten, vor allem, um zwei Töchter großzuziehen. Was ich bis jetzt über meine verschwundene Zukunft erfahren habe, lässt meine Entscheidung nur noch klüger erscheinen. Nach 1922 kam wirklich nur noch Verderben. Ich weiß, heute sieht es auch nicht viel besser aus, und der kommende Fall wird, in Anbetracht der Höhe, brutaler als der letzte, aber diese Gegenwart ist noch so viel lebenswerter. Fast möchte ich goldener sagen. Und zwar nicht nur für einige wenige, die der Arbeiterklasse durch Kunst und Koks entkommen waren, sondern für so viele mehr. Ich meine, ich wohne jetzt hier, wo vor einhundert Jahren nur die ganz betuchten Hauptstädter zur Erholung hergefahren sind (und es auch heute wieder tun, nur in noch größeren Mengen), kann weiter nicht weg sein, von Zukunftsangst und drohendem Elend, mit einem „Café Franz“ nur einige Fahrminuten entfernt, das vor einhundert Jahren so nur in Berlin hätte existieren können, mit Kleinkunst und zur Schau gestellter Weltläufigkeit, und diesem herrlichen Duft nach irgendeinem Widerstand gegen den Zeitgeist. Mal schauen, wann ich das nächste Mal die Gelegenheit dazu haben werde.
Die Zeit drängt, ich muss gleich zurück zu den beiden Namenlosen. Deswegen nur noch ein paar Eindrücke. Eine der besten Dinge in diesem Jahrhundert ist ohne Frage die Musik. Nicht dieser aufgesetzt lässige Quatsch vom letzten Versuch. Sondern Universen voller Emotionen. Ich kann Dir gar nicht alles aufzählen, deswegen nur hier nur meine aktuelle Playlist: Boygenius! Wenn es so etwas damals hätte geben können, alles wäre ganz anders verlaufen. Wir Frauen hätten schon lange alles bewiesen. „In another life we were arsonists“, ich muss Dir nicht sagen, wie surreal mir diese Textzeile vorkommt. Und wie weit entfernt. Hier in der Provinz schlagen die Flammen der Veränderung höchstens aus den brennenden Wäldern im Sommer. Und Karoline hat Recht, es fühlt sich richtig an. Auch wenn ich mich, einen Tag und eine Woche nach meinem 23. Geburtstag, den alle, auch ich, völlig vergessen haben, irgendwie noch zu jung fühle, um meinen sicheren Hafen gefunden zu haben, der dann auch noch ziemlich weit vom Meer entfernt ist. Tja, auf Hiddensee waren damals schon die Häuser knapp.
Also, mit wenigen Worten; denn wie gesagt, die Kleinen müssen jeden Moment aufwachen, und ich will Karoline nicht mit ihnen alleine lassen wollen; ich habe alles richtig gemacht, oder? Für eine Revolutionärin, die der Konterrevolution und einer düsteren Zukunft entflohen ist, habe ich es ganz gut getroffen. Immerhin nicht Thüringen. – Entschuldige den sarkastischen Seitenhieb, das müssen die Nachwirkungen von den Erzählungen der drei anderen sein. Aber was die gestern Abend erlebt haben, das hatte mit Satire anscheinend auch nicht mehr viel zu tun. Ich hätte viel darum gegeben, dabei gewesen zu sein, als diese Person doch nicht durch die Bühnenbretter gebrochen ist. Davon aber vielleicht beim nächsten Mal.

Bis bald
Deine Marie von und zu W.

 

Am späteren Abend, Marie und die Mädchen schliefen bereits seit mehr als zwei Stunden, saß Karoline Salthusser auf dem Balkon und betrachtete die noch kahlen Berge, die sich nur wenige hundert Meter vor ihr erhoben. Sie war endlich müde genug. Müde genug, sich keine Sorgen mehr machen zu können, müde genug, um auch gute Träume haben zu können. Träume von einer Zukunft im Hinterland. Angekommen in der Normalität. Kein verdeckter Klassenkampf mehr. Keine Notwendigkeit, den Faschismus vor der Haustür zu bekämpfen – keine Flucht mehr. Ein einfaches Leben. Die friedenbringende Kapitulation vor der Gegenwart. Vielleicht endlich Älterwerden; sie war kurz davor im Sitzen einzuschlafen. Also stand sie auf, nahm ihr Notizbuch vom kleinen Balkontisch und überflog die letzte Seite nur kurz, bevor sie angezogen in die weiche Couch sank.

 

1. April

Das Palais Salfeldt ist ausverkauft, zum ersten von zwei Malen an diesem Tag, was bei einem Ticketpreis von 25 Euro immerhin 25.000 Euro Umsatz bedeutet. Vielleicht 500 Menschen sitzen also in Reih und Glied auf mittelbequemen Stühlen. Unter ihnen auch wir. Und ein junger Mann, offensichtlich mittelschwer betrunken, in einem T-Shirt, auf dem wirklich „Covid.iot“ steht, viele andere haben ebenfalls etwas zu trinken in der Hand. Dann wird die Tür links der Bühne geöffnet, und die Hauptperson der kommenden Stunde betritt lächelnd den Saal, nimmt auf dem bunt gestreiften Sessel auf der Bühne Platz und legt ohne Umschweife los, viele lachen bereits, da hat sie noch nicht eine einzige Pointe gesetzt. Schnell bedient sie die Erwartungen, sie wisse wohl, es habe einige Skandälchen (Lachen) um sie gegeben und dass es heutzutage sehr heikel wäre, sich einfach so weiter über irgendwelche Stereotype lustig zu machen (Lachen). Deswegen mache sie jetzt auch weiter genau das (Lachen). In einem Nebensatz bezeichnet sie ihren Ansatz als „Völkerkunde“ (Lachen) und fasst direkt rein ins Vorurteilefass: „Der Franzose“ (Lachen) trägt bekanntlich nicht ein, sondern (Lachen) zwei (Lachen) Baguette unter dem Arm (Lachen). Eigentlich müsse er sich, der Franzose (Lachen), ja aber eigentlich (Lachen) Brioche (Lachen) unter die Achseln klemmen (Lachen).
Ihr Roman („Boum“) spielt also in Frankreich, wo die Autorin am Ende der Nuller Jahre studiert hat. Und was hat sie da scharfes beobachtet? Der Franzose liebt zwei Dinge: Essen und Schnackseln (Lachen). Das müsse also in ihrem Roman eine große Rolle spielen. Als Spiegelbestsellerautorin weiß sie aber auch: Das reicht vielleicht gerade so für die 100. Also muss eine weitere Verkaufsgarantie her. Ein Serienkiller (Lachen). Und natürlich eine weibliche Hauptfigur, die sie Aloisia nennt, und die ihr selbstverständlich irgendwie nachempfunden sei, schließlich habe sie selbst vor 15 Jahren in Paris studiert (Slawistik, Germanistik und das Leben an der Sorbonne) (Lachen). Und weil sie damals keine Freunde gefunden hatte, hat sie sich eben später welche ausgedacht. Und die sind im Roman nicht nur in irgendwelche Machenschaften eines Serienkillers (sexuell motiviert) (Lachen) verwickelt, sondern machen sich auch tiefgründige Gedanken um ihren Life Style; die Autorin schlägt einen Bogen zum Death Style, aber die meisten können ihr nicht folgen (sehr wenig Lachen); man kann also nicht behaupten, sie hätte es nicht wenigstens mal mit Tiefe versucht. Also betritt sie schnell wieder sicheres Terrain: Der Feminismus (Lachen) und so weiter. Schnell landet sie dabei bei irgendwelchen sexuellen Abarten (Lachen), und das offenbar völlig überbildete Publikum wird über de Sade und Sacher-Masoch aufgeklärt (Lachen). Aloisia hat es nämlich faustdick zwischen den Schenkeln (Lachen). Dem längsten Lesepart der Stunde folgen nicht mehr alle, es gibt wenig zu lachen, trotzdem machen die meisten tapfer weiter, schließlich sind sie deswegen hier. Die Autorin klappt das Buch zu und kündigt noch eine kleine viertel Stunde ihr nächstes Programm an. Auch wieder was ganz originelles. Völkerkunde in der Wahlheimat. Die Österreicherin freue sich darauf, im Westen von ihrer Tour durch den Osten zu erzählen (Lachen). 33 Jahre nach der Wende. Die Bestsellerlisten lachen schonmal.
Fast ein bisschen enttäuscht sitzen wir noch einige Minuten auf den mittelbequemen Stühlen und beobachten die Menschen, die vor dem Autorinnentisch Schlange stehen, um sich ihr ganz eigenes Exemplar signieren zu lassen. Der Antifastreich, der vor Monaten für diese Veranstaltung angekündigt wurde, war also ausgeblieben (Aprilscherz?). Geblieben war eine Stunde voller Altherrenwitze, volle Kassen beim Veranstalter und Stereotype, die es nicht weiter wert sind, dass über sie berichtet wird.

 

***

 

Die Glocken der Marktkirche schlugen zum neunten Mal an diesem Sonntag drei mal, als der Brillenträger noch zwei mal tief Luft holte, bevor er sein Notebook dann doch noch ein letztes Mal aufklappte. Morgen würden die Ferien richtig beginnen, und er würde die nächsten Schritte unternehmen, um die Geschichte des Brillenträgers in dem benachbarten Paralleluniversum weiter voran zu treiben. Termine standen an: Auslandskrankenversicherung, Pass und Ausweis, Kreditkarte, neues Handy. Träumen vom endlosen Fahren auf knochentrockenen Highways und vom Stehen in sommerlichen Gebirgsbächen. Vom Sonnenuntergang am Pazifik. Erst wenn er das erledigt hatte, konnte er sich wieder dem (un)sicheren Alltag hingeben. Morgen Abend würde er Marie besuchen, und Karoline, und die Mädchen. Sie würden gemeinsam Namen finden; die Zukunft hätte zwei neue Heldinnen. Und sein Alterego würde derweil auf der sehr weichen Couch liegen, denn sein Montagstraining wäre ausgefallen, und das nicht nur wegen der Ferien. Dabei würde er dann beim Filmschauen einschlafen; „Triangle of Sadness“ – das Loch im Boden der westlichen Wohlstandsgesellschaft.

 

A Hole in the Ground (hidden story 4)

Der Brillenträger stand in seiner Winterjacke vor der geschlossenen Halle in der Süderstadt, als das Almänchen hinter ihm mit dem Schlüssel klapperte: „Komme schon. Kommen nicht viele heute. Denen geht’s allen zu gut.“ Beim Umziehen unterhielten sie sich über den allgemein hohen Krankenstand, tauschten Geschichten über leichte und schwere Verläufe aus und fragten sich, ob die neuesten Wehwehchen jetzt vielleicht doch Post-Covid-Sypmtome waren, oder einfach nur das Alter. Aber dann waren sie froh, als sie mit quietschenden Sohlen den Hallenboden betraten. Der Brillenträger sogar noch froher, als er es erhofft hatte, denn ein nicht kleiner Teil der Halle war gesperrt, das hieß: nicht Platz genug für lange Laufübungen. Perfekt. Auf der linken Hälfte des Spielfeldes, etwa einen Meter hinter der Dreilinie, stand ein orange-weiß gestreifter Verkehrskegel, der in einem Radius von zwei Metern mit rot-weiß gestreiften Band abgesperrt war. Neugierig versuchte das Almänchen den Kegel anzuheben, aber er schien mit Panzertape am Parkett befestigt zu sein. Aber auch ohne sich zu überzeugen, wussten die beiden, was sich darunter verbarg. Stattdessen spielten sie später eben Drei gegen Drei auf der anderen Seite, die noch intakt war, aber auf der auch schon sehr lange nicht mehr gewischt worden war; akute Rutschgefahr.

 

Kurz bevor er fest wie seit einer Woche nicht einschlief, fiel dem Brillenträger noch ein, was diese, ihre neue Gegenwart auch bedeuten würde: Vorerst keine Sprünge in der Zeit. Ihr derzeitiger Boden war schon brüchig genug. Karoline hatte auf seine diesbezügliche Frage nur geantwortet: „Wir springen erst wieder, wenn die Mädchen barfuß auf einer weichen Waldwiese tanzen gelernt haben.“

 

 

 

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