Zwischen zwei Wochenenden saß der Brillenträger zur Zeit nicht selten mit dem „Systemsturz“ am Schreibtisch. Das derzeit wichtigste Buch, über das keiner sprach, las sich wie Wasser auf seine Mühlen, aber er konnte (und wollte) es nur in kleinen Schlucken verschlingen. Zu düster die Aussichten, zu unwahrscheinlich die Lösung. Und zu widersprüchlich die Gegenwart. Das gesamte Konzept der „Geschichte“ erschien ihm vollends auseinandergefallen; und es lag in unendlichen Einheiten am Boden des zurückverbliebenen Raums. Lineare Geschichte, vertikale Geschichte, horizontale Geschichte, die Kanten der Scherben passten nirgends mehr zusammen.
Denn genau in dem Moment, wo ein Japaner einen Deutschen daran erinnerte, dass es dann doch nur der (Degrowth-)Kommunismus sein kann, der hier noch irgendetwas ins nächste Jahrhundert retten kann, war die Linke in Deutschland verschwunden. Politisch hatte sich die Ideologie wieder in eine Utopie zurückverwandelt und konnte folglich von niemandem mehr ernst genommen werden, der noch von sich behaupten wollte, auch nur über ein bisschen Realitätssinn zu verfügen. Dem Faschismus konnte das nur recht sein. Und so bewegte sich die Welt also wieder auf die Barbarei zu, und der Sozialismus saß heulend hinten auf der letzten Bank, noch lange nachdem die Lehrerin den Raum verlassen hatte, und schnaubte hemmungslos in sein blaues Halstuch.
Das erste der zwei Wochenenden war ein reines Geschenk, das sich der Brillenträger kaum traute anzunehmen. Am Freitag Nachmittag waren sie gemeinsam am Concordiasee, der Sommer war noch einmal mit voller Kraft zurückgekehrt, beziehungsweise hatte sich der Herbst einfach nach hinten verzogen; Meteorologie, auch so ein Konzept für die Tonne. Sie lagen am und auf dem Wasser, sprachen über leichte Dinge. Es gelang ihnen sogar manchmal, ihr Glück zu begreifen, ohne es festhalten zu wollen.
Der Frieden des Augenblicks ließ ihnen sogar Zeit, mal nicht angespannt die Nachrichten zu lesen: Das „Heizungsgesetz“ war endlich beschlossen, und es war völlig egal, was das bedeutete. In Alaska wurden fünf Millionen Hektar Land unter Naturschutz gestellt, die Trump für Öl-Bohrungen freigegeben hatte; auch nicht mehr als der Tropfen auf den glühenden Stein. Die weltweiten Überschwemmungen waren bereits Normalität, nichts wovon es nicht in Zukunft noch mehr geben würde. Brasilien, Türkei, Griechenland. Der Atlantik, das Mittelmeer und ihre Atmosphären schwappten an den äußeren Rändern über und rissen Tausende in den Tod, seit Monaten. Und auf den Philippinen hatte gerade die deutsche Basketball-Nationalmannschaft das Team USA im Halbfinale der Weltmeisterschaft geschlagen. Der Brillenträger legte das Handy wieder weit weg, nachdem er bei der letzten Covid-19-Warnung angekommen war, die WHO machte sich also auch schon wieder Sorgen.
Am Abend saßen sie irgendwo im tiefsten Sachsen-Anhalt in einem Wintergarten am Rande des großen und hochsommerlichen Biergartens eines griechischen Restaurants. Alle Tische waren besetzt: Vereine, Kollegien, Teams, Familien, Paare, Freundinnen und Freunde. Die Hemden der Kellner waren durchgeschwitzt, alle paar Minuten trugen sie kleine Kuchen mit Wunderkerzen an einen anderen Tisch, die Menge klatschte im Takt zu „Alles Gute“. Das Essen war so gut wie alle gesagt hatten, die anderen Gäste jede*r eine Geschichte für sich. Während sie aßen, träumten sie sich in andere Kulinaria auf der ganzen Welt, ins „Mother India“ in Glasgow, an ein Mittagsbuffet im indischen Kerala, an den Dönerladen am Quedlinburger Bahnhof, nach Seattle in den Central Saloon. Wie lange würde es auch nur eines davon noch geben können? Noch zwanzig Jahre? Noch zehn? Noch weniger? Also genossen sie im Hier und Jetzt, das Handy schlummerte draußen auf dem Parkplatz.
Früh in der ersten Nacht dieses ersten von zwei Wochenenden saß der Brillenträger noch ein paar Minuten an der weit geöffneten Balkontür und ermüdete seine Augen vor einem Schwarzen Spiegel mit den letzten Aufregern dieses Wochenendes: Möchtegern-Kanzler in spe, Friedrich Merz, hat das multinationale Preussenbashing erfunden: Kreuzberg ist nicht Deutschland. Sagt der auf dem bayrischen Gillamoos. Absurder geht es aber immer: Olaf Scholz gibt im Bundestag den Piratenkapitän (unstylische Augenklappe wegen Verletzung am Auge): Er will einen „Deutschland-Pakt“ und die Opposition jetzt aber endlich mal mit ins Boot holen. Blöd daran ist auch, dass sowohl NPD als auch DVU genau das gleiche auch schon mal wollten. Nicht deswegen aber klagt die Union jetzt vorm Bundesverfassungsgericht, sondern wegen des Warburg-Skandals. Olaf Scholz wünscht sich gleich noch eine Klappe für das zweite Auge und Kopfhörer mit maximalem Noise Canceling. In Sachsen wird nämlich auch schon wieder viel zu laut gebrüllt: Kretschmer ordnet das „Asylproblem“ ein. Laut ihm ist es nämlich das wichtigste, weit vor der Energiekrise oder diesen ganzen anderen nervenden Sachen. Volker Völkisch und seine Kumpels klatschen; wählen dann aber trotzdem die Nazis. Und in Bayern kann man dabei jetzt auch endlich zwischen zwei Parteien wählen, die zusammen momentan bereits auf 30% kommen. Die Freien Wähler unter Hubert Aiwanger legten nach der Aufdeckung von dessen Faschovergangenheit in den Umfragen deutlich zu. Als Letztes gibt dann also auch noch Gregor Gysi ein weiteres seiner Ämter ab.
Warum der Brillenträger während dieser paar Minuten an dieses seltsame Gebilde denken musste, das er vor wenigen Stunden das erste Mal in seinem Leben gesehen hatte und von dessen Existenz er nie etwas geahnt hatte, obwohl es so weit verbreitet war, das erahnte er mehr als dass es ihm bewusst war. Gemeinsam mit dem Bunthaarigen hatte er auf der Herrentoilette des griechischen Restaurants im tiefsten Sachsen-Anhalt neben den Pissoirs vor einem breiteren Becken gestanden, das auch für über zwei Meter große Männer irgendwie zu hoch hing. Auf Kopfhöhe und mit schulterbreitem Abstand waren zudem an der Wand über dem Becken zwei solide Haltegriffe montiert, und dazwischen, ebenfalls auf Stirnhöhe, eine große Spültaste. Die beiden sahen sich an. „Denkst Du auch, was ich denke, was das ist?“ Beide nickten sich zu und schüttelten dann mit dem Kopf. Wie eklig kann etwas eigentlich sein?
Aber nicht bei allem, das der Schwarze Spiegel ihm zeigte, kam ihm das gute Essen wieder hoch, wie man das damals nannte, wenn man die Nachrichten las. Zwischendrin fand er immer wieder kleine Meldungsbröckchen, die diese permanenten Henkersmahlzeiten wenigstens auch mal gut schmecken ließen. Indien, zum Beispiel, stand kurz davor seinen Namen zu ändern, und zwar hin zum viel besser klingenden Bharat. Endlich wird dann auch mal eines von diesen „die soll sich mal nicht so haben“-Arschlöchern angezeigt: Der jetzt Ex-Chef des Spanischen Fußballverbandes wird von der Spielerin, die er ungefragt geküsst hatte, vor ein Gericht gezerrt. Und den Reichen geht es auch an den Kragen: Die deutsche Beitragsbemessungsgrenze soll angepasst werden, „Reiche“ zahlen also bald mehr in die Sozialkassen ein, vielleicht. Und die IG-Metall fordert offen die Vier Tage Woche… In diesem Moment frischte der Herbstwind spürbar auf, und der Brillenträger folgte diesem Zeichen ins Bett. Doch auch da gelang es ihm noch nicht, die Welt schon loszulassen, der schwarze Spiegel leuchtete noch einige Minuten länger. Und brachte wieder weniger gute Meldungen: Der Katapult Verlag stand vor der Insolvenz. So wie auch die Zeitung „Neues Deutschland“ und die „Titanic“. Printmedien waren also wirklich endgültig am Absaufen. Den richtig fürchterlichen Rest scrollte er dann, schon bald halb im Schlaf, nur noch runter, ohne noch wirklich zu lesen, was sich ihm da noch aufdrängen wollte.
Kriegsprotokoll. Schreibtisch. Deutsche Heimatfront. Letzte Reihe. Woche 79.
Vorrücken, so lange es noch geht. Montag: Resnikow (Verteidigungsminister Ukraine) wird doch noch entlassen, zu teure Winteruniformen waren dann zu viel. Ein Krimtatar (Rustem Umerow) wird sein Nachfolger. Strack Zimmermann schreibt auf X: „Auf was wartet der Bundeskanzler in Gottes Namen?“ Sie meint seine Blockade bei der „Taurus“-Lieferung. Über Kursk und Dnipropetrowsk werden wieder Drohnen abgeschossen. Der Getreidehafen Ismajil wird aus der Luft angegriffen. Vor der Krim werden vier ukrainische Landungsboote zerstört. Die Ukraine rückt weiter Richtung Melitopol vor, auch bei Bachmut werden einige Quadratkilometer zurückerobert. Das ukrainische Schuljahr beginnt mit unzähligen Bombendrohungen an den Schulen. Erdogan trifft sich mit Putin in Sotschi, um über Getreide zu verhandeln, die Gespräche verlaufen „konstruktiv“. Ein ukrainischer Angriff auf ein Wärmekraftwerk in Brjansk wird vereitelt. Putin bezeichnet die „Gegenoffensive“ als gescheitert und berichtet von ebenfalls gescheiterten Versuchen, die Gasleitungen zwischen Russland und der Türkei zu zerstören. Kim Jong Un will sich mit Putin treffen. Um über Waffenlieferungen zu verhandeln. Selenskyj verteilt wieder Orden an der Front. Dienstag: Selenskyj besucht die südlichen Oblaste, dann reist er weiter nach Bachmut. Die EU will in diesem Jahr nur noch 40.000.000.000 Kubikmeter Gas aus Russland importieren. Polen stockt den Militäretat weiter auf. Mittwoch: In der Nacht erneute Raketenangriffe auf Kiew. Odessa und Umgebung stehen ebenfalls unter Feuer. Blinken besucht überraschend Kiew. Italien, Schweden, Spanien und Deutschland entwickeln gemeinsam einen Nachfolger für den Leopoard-Panzer. Armenien kündigt Militärübung mit den USA an. Kostjantyniwka (Ost-Ukraine) wird von Raketen getroffen, es sterben mindestens 17 Menschen auf dem Marktplatz. Später werden berichte bekannt, die die Herkunft der Rakete fraglich erscheinen lassen. Kiew erwägt die Beantragung der Auslieferung der geflohenen Ukrainer (650.000). Washington kündigt das nächste Hilfspaket an (175.000.000). Donnerstag: Wieder nächtlicher Drohnenabschuss, dieses Mal über Rostow. Ismajil an der Donau wird weiter bombardiert. Ukrainisches Getreide wird jetzt über Kroatien exportiert. Sahra Wagenknecht bezeichnet die deutschen Ukraine-Hilfen als „Fass ohne Boden“. In Brjansk wird eine Industrieanlage beschossen. Blinken kündigt in Kiew noch ein Hilfspaket an (600.000.000). An den Fronten weiter nichts Neues. Freitag: Die Unesco stellt 20 ukrainische Kulturgüter unter verstärkten Schutz. Auf Kuba werden Menschen festgenommen, die andere Menschen für den Krieg rekrutieren wollten. In Krywyj Rih, Odradokamianka und Sumy schlagen Raketen ein. Die „Wahlen“ in den besetzten Gebieten haben begonnen. Schleswig-Holstein und Cherson sind jetzt Partnerregionen. Elon Musk hat einen großen Angriff auf Sewastopol verhindert, indem er seine Satelliten nicht zur Verfügung gestellt hat, schreibt er bei X. Selenskyj weiß, dass „er (Putin) Prigoschin getötet hat.“ Samstag: In der Nähe des AKW Saporischija explodiert es. Die Ukraine beschießt Donezk. Japanischer Staatsbesuch in Kiew. Dem Kreml gefällt die G-20 Erklärung aus Indien: „ausgewogen“. Der ukrainische Energiesektor wird für den Winter vorbereitet. Sonntag: 90% der Ukrainer*innen glauben an den Sieg. Umjerow fordert weitere schwere Waffen von allen. Vor der Krim nichts Neues. Größerer Drohnenangriff auf Kiew. In Cherson rücken die Ukrainer weiter vor. US-Generalstabschef Milley zum Abend: Die Ukraine hat noch gut einen Monat Zeit, spätestens dann setzt das Wetter der Gegenoffensive ein Ende.
Der zweite Teil dieses ersten Wochenendes begann dann damit, dass der Brillenträger ausschlief, was inzwischen bedeute, erst um acht Uhr aufzustehen. Auf dem Markt aber hatten die Aufbauarbeiten gestern Abend schon begonnen, das Weltkulturerbe putzte sich raus zu einem zweitägigen inoffiziellen Stadtfest: Bürgerfrühstück und Abendprogramm am Samstag, Tag des offenen Denkmals und wieder Abendprogramm am Sonntag; wenn die Bühne einmal steht. Das Wetter schien mitzuspielen, und Quedlinburg freute sich auf ein Paar volle Tage; zumindest wurde alles getan, um diesen Eindruck aufrecht zu rehalten.
Der Brillenträger nutzte den Trubel in der Stadt, um sich in Ruhe um seine Wohnung zu kümmern: Wäschemachen, Putzen, Aufräumen. Und nebenbei auf allen Kanälen der Welt lauschen, während er im satten Frieden der Provinz (s)ein Glück in der Entschleunigung suchte. Der Kontrast nahm immer nur noch zu: Die G20 hatten beschlossen, das Wirtschaftswachstum noch weiter zu beschleunigen, indem sie eine Konkurrenzstrecke zur “Neuen Seidenstraße“ ins Leben riefen (40% schnellerer Handel). In Den Haag kam es zu 2.000+ Festnahmen (Extinction Rebellion blockierte erneut große Straßen). In Marokko starben 2.000+ Menschen beim nächsten Jahrhunderterdbeben in diesem Jahr. In Israel waren erneut 100.000+ gegen die Justizreform auf der Straße (die in der folgenden Woche von einem Gericht beurteilt werden sollte), während zeitgleich eine der wichtigsten Errungenschaften des israelischen Lehrplans wieder aus den Schulen verschwand: Versöhnung. Und in Halle gab es schon wieder einen Faschoangriff auf einen CSD. Den Rest des Tages machte der Brillenträger nicht mehr viel. Dösen, Lesen, noch eine Folge „Diener des Volkes“ schauen (und sich über die Absurdität dieses irrwitzigen Kulturartefakts zu wundern). Und während der Lärm der Bühne auf dem Markt durch die Gassen und über die Dächer seinen Weg durch sein Fenster fand, schlief er früh und sehr tief ein.
Am Sonntag dieses ersten von zwei Wochenenden dann saß er im Garten seiner Familie in Thale, der mehr in voller Pracht nicht hätte stehen können. Für dieses Jahr waren die Bauarbeiten und Renovierungen abgeschlossen, das Paradies hinter den Bahngleisen wieder ein wenig schöner. Er hatte sein Handy im Rucksack gelassen und lag stattdessen wieder mit dem „Systemsturz“ auf der Hollywoodschaukel. Die Nachrichten rannten so schnell weiter in die falsche Richtung, dass ihm sein Ignorieren wie blanke Notwehr seines Geistes erschien. Wenn er nicht hinschaute, betraf ihn das alles auch nicht. Dass trotzdem alles mit allem zusammenhing, aber nichts mehr zusammen gehörte, machte es ihm nicht leichter, dem Zeitgeist keine Sinnlosigkeit mehr zuzuschreiben. Und wenn es doch einen gab, dann war dieser Sinn vor allem kein optimistischer.
Er legte auch das Buch beiseite und schaukelte in der Mittagssonne, bis sein Schwesterherz ihn zum Essen rief. Den Gedanken daran, dass es auch ein Zuviel an (ost-)deutscher Kartoffelromantik geben könnte, verscheuchte er zusammen mit den Wespen, die um die offenen Flaschenhälse schwirrten, denn es gab Tüften mit Kräuterquark. Und außer des Quarks, war alles im Umkreis von zwanzig Metern gewachsen, also in Sichtweite. Es schmeckte richtig. Gut.
Zurück in Quedlinburg lag er schnell wieder am offenen Schlafzimmerfenster, durch das die Klänge einer Coverband vom Markt herüber geweht wurden, und verfolgte das deutsche Basketballjahrhundertereignis des deutschen Basketballjahrhunderts. Als er nachschaute, ob der Tagesschau der Weltmeistertitel eine Pushnachricht wert war, erreichte ihn zeitgleich die nächste: Der zweiterfolgsloseste Trainer der Fußballnationalmannschaft war soeben entlassen worden. Der DFB hatte also entweder gar keine Ahnung von irgendwas oder war ein einziges riesiges, neidisches Miststück. Der Brillenträger genoß den Moment trotzdem, wusste er doch, dass die Sportkulturrevolution bereits begonnen hatte; und diese Mannschaft war es wert, dafür ihr Gesicht hinzuhalten.
Doch dieses kurze Aufflackern von Basketball(national)stolz brauchte er nicht einmal selbst wieder zu löschen. Dafür war nur der kürzeste Blick nach rechts schon wieder zu erschreckend, auch an diesem Sonntag: Sachsen-Anhalts second worst (nach Hans-Thomas Tillschneider), André Poggenburg, schrie heute vor dem Brandenburger Tor: „Raus aus der Nato!“, und ärgerte sich bestimmt, dass er noch nicht „Völkerbund“ schreien durfte. Alice Weidel ließ dann als letzte der Faschopartei die Katze aus dem Sack. Allen, die noch an ihrer Gesinnung zweifelten, erklärte sie (mehr oder weniger ungefragt) pünktlich vorm Tatort, dass der 8. Mai für sie kein Feiertag sei, weil sie die „Niederlage des eigenen Landes“ nicht mit einem „Besatzer“ feiern wolle. Der Brillenträger wünschte sich zurück auf die Herren-Toilette des griechischen Restaurants im tiefsten Sachsen-Anhalt und wünschte sich auch, nicht erkannt zu haben, dass „AfD“ nicht nur „Alternative für Deutschland“ heißen konnte, sondern bei vielen Wählern inzwischen wohl eher „Alles für Deutschland“. Und da wusste er noch nicht, wie sehr dieser „Halbsatz“ die politische Debatte des Herbstes dominieren würde. Entsprechend unruhig schlief er ein, wie in einem Zug, von dem er wusste, dass er auf einer falsch eingestellten Weiche die falsche Richtung genommen hatte. Am nächsten Morgen erst würde wenigstens er selbst wie von allein wieder die richtige Spur gefunden haben: Kurzstrecke. Wenig Weichen. Kein Autopilot. Keine selbstverschuldeten Katastrophen.
Am frühen Morgen des zweiten Samstags dieser beiden Wochenenden saß der Brillenträger in einem im Zug in Richtung Halle (Saale). Neben ihm und gegenüber lagen schlafende Menschen im bequemeren Teil eines Waggons eines privaten Bahnunternehmens. Die Abfahrt dieses Zuges war auf den Fahrplänen des Bahnhofs in Halberstadt nicht verzeichnet, bis zu Gleis Fünf hatte er sich durchfragen müssen und hatte den Zug nur knapp nicht verpasst. Die Sonne stand noch flach feuerrot über dem Nebel der Felder vor den Panoramafenstern, aber alle Mitreisenden, die sich in seinem Blickfeld befanden (und die nicht schliefen), schauten mit müden Augen auf einen Schwarzen Spiegel. Nachdem er die Kopfhörer aufgesetzt hatte, um seit gestern Abend zum x-ten Mal das brandneue Album von „Explosions in the Sky“ zu hören, für dessen Titel sich die Band für „End“ entschieden hatte. Dann klappte er sein Notebook auf und drückte auf dem Display seines Handys auf Play, während der Zug immer schneller nach Osten fuhr.
17. September
S9a:Ep9(u) – Moving On (second track of „End“)
It’s getting hot in here
– Jahrhundertnaturkatastrophen der Woche:
Zunächst 5.000 Tote in Darna, Libyen:
„Daniel“ bringt biblische Überschwemmungen,
10.000e Vermisste,
tagelang unzählige Leichen in der Brandung
(insgesamt wahrscheinlich bis zu 20.000 Tote).
Enorme Erdrutsche in China,
dutzende Tote,
ganze Landschaften sind für immer umgestaltet.
– Ein viel zu großer Riss im Gotthardt-Tunnel,
tagelange Komplettsperrung.
– „The Tyre Extinguishers“ schlagen in Berlin zu
(dutzenden SUVs wird die Luft abgelassen).
– EU-Grüne können sich CO2-Speicherung vorstellen.
– Beim 13. Globalen „Friday for Future“
gibt es in Deutschland 250 geplante Aktionen,
20.000 demonstrieren in Berlin
(unter ihnen ein „dankbarer“ Herbert Grönemeyer).
Noch unbetitelte Rubrik
(Krise im Pflege- und Gesundheitssystem)
– Nicht mehr nur drohende Pleitewelle in Pflegeheimen.
– Der nächste Medikamentenengpass hat begonnen
(Schmerzmittel und Fiebersaft),
alternative Medien schieben
den missbrauchenden Jugendlichen die Schuld zu.
– Familienministerin Paus fordert dreieinhalb Jahre
nach Beginn der Multikrise
„Mental Health Coaches“ an Schulen.
Home away from home going upside down (AT)
– Kevin McCarthy (Speaker of the House)
will endlich ein Impeachementverfahren gegen Joe Biden,
wegen dessen Beziehungen zu seinem Sohn:
– „Hunter Biden’s gun-related legal troubles relate to a firearm he purchased in October 2018. While buying a revolver at a Delaware gun shop, he lied on a federal form when he swore that he was not using, and was not addicted to, any illegal drugs – even though he was struggling with crack cocaine addiction at the time of the purchase.“
– Der erste große Streik bei den US-Autobauern kündigt sich an.
Burning Democracy
– Es gibt Asylstreit mit Italien:
Die, die es bis nach Deutschland geschafft haben,
sollen nicht wieder zurück ins Land dürfen,
was Deutschland aber gerne so hätte.
– Der nächste Notstand auf Lampedusa,
die Stimmung könnte kippen.
– Giorgia Meloni verlangt von der EU,
dass irgendeine Marine
die vielen Boote von der Insel fernhält.
– Deutschland bezieht also doch (viel) russisches Öl
über Indien, das seinen Import
auf 40% gesteigert hat (von 2% vor einem Jahr).
AfD Rising (AT)
– Björn Höcke steht bald in Halle vor Gericht,
wegen „Alles für Deutschland“.
Das ordnet er für seine Fans so ein:
„Deutschland hat seinen Kompass verloren“;
die Erinnerungskultur hat sich bereits auf bald 178° gedreht.
– Die AfD in Brandenburg legt laut Forsa um 9% zu,
und steht jetzt mit 32% einsam an der Spitze;
bei der Umfrage finden übrigens nur 5%
„Bildung“ am wichtigsten.
– Zum 156. Geburtstag des „Kapitals“
kracht es laut in Thüringen:
Die Brandmauer hat ein großes Loch.
CDU, FDP und AfD
beschließen als „kleine Koalition“
Steuersenkungen für Menschen,
die so viel Geld haben,
sich eine Immobilie und/oder Land zu kaufen,
der Antrag kam von der CDU,
die damit ein Modell für den Bund vorschlägt;
Lindner (FDP) sieht die Verantwortung bei der CDU,
Merz schweigt auch Tage später noch.
Tanz mit dem Tiger
– In Kerala, Indien kommt es zum vierten Ausbruch
des Niphavirus innerhalb der letzten fünf Jahre;
Enzephalitis steigt gerade auf der Liste der Todesmöglichkeiten
rapide nach oben.
Some Sort of Good News, I guess? (AT)
– Am Freitag ist es vollbracht:
Die Lager sind abverkauft,
das Katapult-Magazin ist vorerst gerettet
und ist jetzt komplett neu aufgestellt,
bis zur nächsten Krise.
– TikTok muss 345 Millionen Strafe an die EU zahlen;
für 13-17jährige ändert sich soweit aber nicht weiter viel.
Kriegsprotokoll. Schreibtisch. Deutsche Heimatfront. Letzte Reihe. Woche 80.
Die Oper ist noch nicht zu Ende, solange Lady Macbeth noch singt. Montag: ACAB besucht ein wieder aufgebautes Umspannwerk bei Kiew. Kim Jong Un trifft sich mit Putin in Wladiwostok? Die „Wahlen“ wurden mit ca. 70% von der Partei „Geeintes Russland“ (Putin) gewonnen, Moskau strebt „legale Machtstrukturen“ an. Rheinmetall bekommt den nächsten Großauftrag (Instandsetzung von Marder-Panzern). Kiew meldet die Rückeroberung von Bohrinseln vor der Krim. Berlin und Kiew werden Partnerstädte. Die deutschen humanitären Soforthilfen werden um 20.000.000 augestockt. Estland und Lettland kaufen gemeinsam ein deutsches Luftabwehrsystem. Dienstag: Die New Yorker Metropolitan Oper hat beim ukrainischen Komponisten Maxim Kolomiiets eine Oper über nach Russland verschleppte Kinder in Auftrag gegeben. Kim Jong Un trifft in Russland ein. Ukrainische Drohnenangriffe in der Nähe des AKW Saporischschija. Im Süden steckt die ukrainische Armee noch nicht fest. Russisches Artilleriefeuer trifft Wohnhäuser in Donezk. Deutschland importiert weiter russisches Öl, über Indien. Die EU beschafft weitere Rüstung für 300.000.000. Dänemark hilft der Ukraine bis 2025 mit 780.000.000. Österreich möchte gerne deutsche Luftabwehr kaufen. Mittwoch: Die russische Armee rückt bei Kupjansk und Kreminna weiter vor. Sewastopol wird von ukrainischen Raketen getroffen, eine Werft steht in Flammen. Der Hafen in Ismajil steht unter russischem Beschuss. Putin und Kim Jong Un treffen sich am Weltraumbahnhof Wostotschny und reden über Weltraumtechnik. Putin erhebt ein Glas: „Einen Toast auf die künftige Stärkung der Zusammenarbeit und der Freundschaft zwischen unseren Ländern.“ 20 deutsche Marder sind in der Ukraine eingetroffen. Der ukrainische Botschafter in Deutschland weiß: „Als Ex-Unterstützerin Putins und Propaganda-Mithelferin bei der Donbas-Besetzung trägt Frau Netrebko persönliche Mitverantwortung für den russischen Angriffskrieg.“ Ihre Auftritte in Berlin stehen auf der Kippe. Bei Marjinka und Awdijiwka verstärken die russischen Truppen ihre Angriffe. Donnerstag: ACAB besucht einen Nato-Stützpunkt in Texas. Drohnenangriffe überall, Explosionen auf der Krim. Ein Brief (Strack-Zimmermann, Hofreiter, Schwarz) soll Druck auf Scholz machen, die „Taurus“-Lieferungen zuzulassen. Pax Christi will in Deutschland für Friedensverhandlungen demonstrieren. Putin nimmt eine Einladung nach Nordkorea. (bei Bachmut) wird von ukrainischen Truppen eingenommen, nur kurze Zeit später wird das dementiert, gestorben wird trotzdem. Freitag: Die „Taurus“-Lieferung rückt näher, Pistorius will noch ein paar darüber Tage nachdenken, weiß aber schon, dass Sicherheitsgarantien für die Ukraine ganz wären. Peskow verkündet, es gibt keine Verträge mit Norkorea. Putin und Lukaschenko treffen sich in Sotschi. Klitschko besucht Berlin. Andrijiwka ist nun doch zurückerobert. Der „Westfälische Friedenskongress endet mit einem Apell, die internationalen vereinbarungen sollen eingehalten werden. Samstag: Selenskyj bestätigt die Einnahme von Andrijiwka, Moskau bestreitet das. Anna Nebtrebko gibt in der Berliner Staatsoper die Lady Macbeth unter Buhrufen und Applaus. Kim Jong Un trifft Schoigu in Wladiwostok. Klitschko drängt in Berlin auf „Taurus“-Lieferungen. Russische Truppen werden von der norwegischen Grenze ab. Sonntag: Zwei Getreideschiffe schaffen es in ukrainische Häfen. In Uman versammeln sich 35.000 jüdische Pilger*innen aus aller Welt zu Rosch Haschana. Jens Stoltenberg erinnert die Deutschen per Zeitung daran, dass die Rüstungsausgaben zu Zeiten des Kalten Krieges fast doppelt so hoch wie jetzt waren. Die ukrainische Artillerie tötet mindestens fünf Zivilisten in Donezk. In Odessa schlagen russische Raketen ein. Die zweite „Verteidigungslinie“ an der Südfront (Tokmak) wird verstärkt. Südlich von Donezk wird weiter erbittert geschossen; nichts Neues weiter. Der US-Generalstabschef verkündet, die Gegenoffensive sei erfolgreich gewesen. Gewesen?
Einige Minuten bevor sie Halle erreichten, fuhren sie an einem noch nicht abgeernteten Sonnenblumenfeld vorbei. Die alten Köpfe der Pflanzen ließen erschöpft vom langen Sommer die gelb-braunen Blütenblätter hängen. Die Menschen neben und gegenüber dösten noch vor sich hin, der Zug ruckelte angenehm, der Magen des Brillenträgers verlangte nach mehr als nur Kaffee. Bis zur Ankunft machte er sich noch schlau, welche Gleise er auf welchen Straßen würde überqueren müssen, um in die Sporthalle am Holzplatz zu kommen.
In den folgenden Stunden saß er dann mit gut zwanzig anderen Männern (zwischen 16 und 60) auf harten Holzbänken. Gemeinsam interpretierten sie Basketballregeln und kommunizierten untereinander, was sie jeweils unter „Love for the Game“ verstanden und wie man auf nervende Trainer*innen reagiert. Bei Lauf- und Regeltest schlug sich der Brillenträger so gut er konnte; zum Lernen war ihm keine Zeit/Lust geblieben, seine Lizenz wurde dennoch verlängert.
Selbstzufrieden schlenderte er anschließend durch die Stadt zurück, machte einen Halt im Buchladen auf dem Markt, erwischte eine Ausgabe von Liv Strömquists „Im Spiegelsaal“ und sonnte sich beim Anlesen noch einige Minuten auf dem kleinen Hang am Riebeckplatz. Die Bahnhofshalle begrüßte ihn dann mit einer kryptischen Überraschung zurück: Auf einem Plakat hinter den weit geöffneten Schiebetüren las er: „Tag der Schiene“. Bis zur Abfahrt scrollte er schnell durch die Meldungen des Tages und blieb nur bei einer hängen: In Göttingen waren tausend Antifas gegen „Querdenken“ auf der Straße. Schnell brannten dabei Barrikaden, die Faschos mussten abbrechen. Keine Festnahmen. Niedersächsische Verhältnisse. Der Brillenträger setzte seine Kopfhörer wieder auf, steckte das Handy in seinen Rucksack und las weiter „Im Spiegelsaal“.
In Halberstadt fuhr der vordere Zugteil nach Goslar weiter. Der Brillenträger bestaunte bei einer Zigarette den lautlosen Abkopplungsmoment und setzte sich dann in den Großraumwaggon zurück nach Quedlinburg.
Den letzten Sonntag dieses zweiten von zwei Wochenenden verbrachte der Brillenträger mit seinen liebsten Regelmäßigkeiten: Chorprobe, Mittag bei der Familie in Thale, den letzten Rest Wäsche machen und dann noch ein wenig über den Niedergang schreiben: Ursula von der Leyen reist nach Lampedusa, um sich die Katastrophe selber anzuschauen und dann gegen die bösen Schlepper zu wettern. Neben ihr, eher im Hintergrund, steht Giorgia Meloni und freut sich, dass sich auch mal eine andere die Hände schmutzig macht. In Österreich müssen die Faschos das wohl bald wieder selber machen, denn die FPÖ steht aktuell bei 32%. Kanzler in spe, Heribert Kickl, könnte seine Rhetorik langsam wieder runterfahren, macht er aber nicht. Und am kommenden Sonntag wird in Nordhausen (Thüringen) vielleicht schon der nächste AfD-Bürgermeister gewählt. Der Brillenträger zögerte lange, bis er die Sätze doch noch aufschrieb, die er so lange vor sich hergeschoben hatte, weil er sie nicht wahrhaben wollte: Die Regeln haben sich geändert; Die Weiche wurde passiert; Die Geschichte hat das Gleis gewechselt.

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