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Should I Stay or Should I Go Now? (S9a:Ep11)

von | 2023 | 22. Oktober | Die Serie, Staffel 9a - Little Oblivions

 

Na, wenn das mal kein Wetter
zum Abhauen ist!
Am Tag sucht sich der Regen
seine Wege
durch die umstürmten Dächer,
dichter, kalter Nebel
hängt abends in den Gassen,
und nachts dreht die Melancholie
einsam ihre Runden durch die Stadt.

Also heißt es heute,
zum zweiten Mal
in diesem Jahr
(doppelt hält besser):
Auf, auf!
Gen Westen!
Da hin,
wo es auch nicht besser ist,
aber zumindest mal anders.
Heute jedoch
nicht ganz so weit weg,
sondern nur mal kurz
nach nebenan.
Doch dazu am Ende
noch mal mehr.
Nur so viel vielleicht:
Der Eurotunnel
ist echt lang (50 Kilometer).

Und weitere Gründe
für den Dauereskapismus
gibt es ja nach wie vor
mehr als genug,
sogar die „heute show“
gibt das inzwischen völlig unsarkastisch zu.
Unter all diesen unaufzählbaren Gründen
wird einer aber
gerade am offensichtlichsten:
Die Doppelmoral des „Westens“;
vor der wir einfach nirgendwohin
mehr fliehen können,
weil wir sie überall hin
mit uns tragen.
Privilegiert wie nie eine Menschengruppe vor uns
müssen wir beinahe hilflos dabei zusehen,
wie alle anderen
im Chaos versinken,
oder zumindest
in fiesesten Diktaturen leben müssen.
Und dazu müssen wir
dann auch noch eine Haltung haben.
Kein Wunder also,
dass da auch
der deutsche Starphilosoph der letzten 10-15 Jahre
mal was durcheinanderbringt.
Aber zu RDP schreibe ich ganz einfach
nichts weiter,
ich will dem da nicht ins Wort fallen.

Weiter also mit der Doppelmoral:
Ich könnte diese jetzt
an scheinbar unendlich vielen Beispielen festmachen,
aber ich beschränke mich
auf nur zwei,
von denen ich denke,
sie sprechen für sich.
Zum Einen
die nicht enden wollenden Kriegskredite
und Militärhilfen,
die für die Verteidigung der „Demokratie“
gewährt werden,
bei zeitgleicher Verurteilung
der ganzen schrecklichen Gewalt.
Wo es noch genug zu fressen gibt,
gibt es eben auch noch Doppelmoral.
Zum Anderen
die unfassbaren Verrenkungen,
wenn es darum geht,
die Feindesfront abzustecken.
Absurdester Fall momentan:
Der Sprecher der Israel Defense Forces
erklärt nicht nur Greta Thunberg
(für das Teilen eines Posts,
Solidarität mit den Opfern in Gaza),
sondern auch alle,
die sich mit ihr „identifizieren“,
als „Terror Supporter“.

An dieser Stelle
drängen sich gleich zwei Assoziationen auf,
und ich entscheide einfach nach dem Zufallsprinzip,
denn beide beginnen mit K,
und Prioritäten und Zusammenhänge
sind ja dann doch auch
schon ziemlich 2019.
Anyways,
die Klimakatastrophe jedenfalls
legt eine Pause ein.
An der Ostsee
tobte bis gestern
nur eine Jahrhundertsturmflut,
der Hafen und der Weststrand
bei Vitte (Hiddensee)
standen komplett unter Wasser.
Und in Kanada
beruhigen sich nach nur fünf Monaten Dauerfeuer
die Waldbrände,
bei denen in diesem Jahr dann
nur 186.000 km² abgefackelt sind,
oder eben nur 84 Harze.

Und lichterloh brennt es inzwischen
auch in Neukölln,
und zwar an jedem Abend der Woche.
Die Pro-Palästina-Demos
lassen sich einfach nicht verbieten,
sogar die Bundespolizei wird zur Hilfe gerufen.
Einen „Flächenbrand“ aber,
den will der Kanzler verhindern.
Noch aber nur den im Nahen Osten,
mit deutscher Staatsräson
und humanitärer Hilfe für Gaza.
Bei so vielen guten Ideen
kann er sich dann auch
auf dem Titel des Spiegels zitieren lassen,
wir müssten „endlich im großen Stil abschieben“.
Friedrich Merz kann sich also
auf eine entspanntere Kanzlerschaft freuen.
Zur Feier des Anlasses
wird gleich mal eine ganze Flugzeugladung
in das total sichere Herkunftsland Irak ausgeflogen,
und kaum jemand regt sich darüber noch auf.
Zur Beendung des Krieges,
der dort gleich um die Ecke
heute dann seit über zwei Wochen tobt
(und laut Israel sehr bald in eine „neue Phase“
(aka „Bodenoffensive“
aka Häuserkampf für sehr viele Monate)
eintreten wird),
hat ausgerechnet Friedensprinz bin Salman (Saudi Arabien)
den bis jetzt besten Vorschlag:
Die Rückkehr zu den Grenzen von 1967.
Also genau das gleiche,
das Shahak Shapira vor knapp zwei Wochen schon
in einem winzigen Berliner Club
(und im Internet) unterbreitet hat.
Aber Krieg,
Krieg ist und bleibt
immer gleich.

 

Kriegsprotokoll. Schreibtisch. Deutsche Heimatfront. Letzte Reihe. Woche 85.
Der Krieg als Investitionsoption. Montag: In Cherson ist die Infrastruktur nach gestrigen Angriffen wieder hergestellt, auch in dieser Nacht fliegen wieder Raketen. Christian Lindner hält die US-Finanz- uns Militärhilfe für unverzichtbar. Moskau prahlt mit hohen ukrainischen Verlusten. Dienstag: Putin besucht Peking, lobt die chinesischen Friedensvorschläge und trifft auch noch Orban. In Moskau wird zugegeben, dass „im Grunde alle unsere Drohnen aus China kommen“. Im Süden und Osten der Ukraine werden Flugplätze mit US-ATACMS angegriffen, ebenso in Berdjansk. Mittwoch: In der Nacht fliegen die ukrainische und die russische Luftwaffe Angriffe auf Saporischschja. Xi und Putin bekräftigen in Peking ihre Zusammenarbeit, Putin sieht auch eine weniger aggressive Haltung des Westens und drängt weiter auf Verhandlungen. Lawrow ist derweil in Nordkorea. Die Duma hebt das Atomwaffentestverbot auf. In Charkiw wird die Energieinfrastruktur getroffen. Donnerstag: Mykolajiw wird mit Raketen beschossen, Zivilisten sterben. Scholz bekräftigt das Schnüren des Winterhilfspakets. Die ukrainische Armee kämpft am Südufer des Dnipro. Kuleba rechnet mit weiteren ATACMS-Raketen. Die USA liefern für die Ukraine geplante Munition nach Israel. Freitag: Selenskyj auf X: „Amerikas Investment in die ukrainische Sicherheit wird eine langfristige Sicherheit für ganz Europa und die Welt gewährleisten.“ Biden im landesweiten Fernsehen: „Wir können nicht und werden nicht zulassen, dass Terroristen wie die Hamas und Tyrannen wie Putin gewinnen.“ Moskau ist empört. Am Dnipro und um Awdijiwka nichts Neues. Die Mutter heimat Statue in Kiew trägt ab heute einen ukraininschen Dreizack und keinen Hammer und keine Sichel mehr. Samstag: Der ukrainische Generalstab teilt mit: Bei Awdijiwka sind in den letzten 24 Stunden fast 1.000 russische Soldaten umgekommen. Der UK bewertet die Zerstörungskraft der „Kinschal“ als „schlecht“. Die Ukraine ist mit den ATACMS-Raketen sehr zufrieden. Am Abend wird Krywyi Rih bombardiert. Sonntag: In Charkiw wird ein Verteilzentrum der Post pulverisiert. Über die Krim werden drei Raketen abgeschossen.

 

Gut.
Kommen wir zu
den guten Nachrichten der Woche,
denn von denen
gab es tatsächlich auch
auffallend viele.

Das Ringen und Würgen
um die Linkspartei ist endgültig vorbei,
morgen stellt Sahra Wagenknecht
ihr neues Projekt vor,
bei dem es irgendwie um Gerechtigkeit und Vernunft,
vor allem aber um Sahra Wagenknecht gehen soll.
Können die Genossen
den Laden also endlich dichtmachen
und vorher noch ausknobeln,
wer dann das Licht ausmachen darf.

In Italien gibt es demnächst
eine neue Geschlechterquote.
Die Anzahl der Direktorinnen an Schulen
ist der Regierung zu hoch,
also sollen wieder mehr Männer ran müssen.
Nicht deswegen,
sondern wegen echter Probleme
in allen Bereichen,
gab es am Freitag
tatsächlich einen handfesten Generalstreik,
zumindest für ein paar Stunden.
Denn dann redete das Land
wieder über Giorgia Meloni,
die die endgültige Trennung
von ihrem Partner bekannt gab,
der irgendeinen sexistischen Scheiß
im Fernsehen abgesondert hatte.

Apropos Sexist.
Für Jim Jordan lief es im US-Kongress
ebenfalls erfreulich schlecht.
Drei mal trat er tatsächlich an,
drei mal wurde er nicht
zum neuen Speaker of the House gewählt.
Wie es weitergeht,
weiß wieder keiner.
Dafür aber geht’s auf „Truth Social“ weiter!
Auf Trumps Privattwitter
hat der neue Account von Biden und Harris
nach nur wenigen Tagen
mehr Follower als der Frisurensohn,
der dazu auch noch
die erste 5.000 Dollar Strafe aufgebrummt bekommen hat,
weil er es einfach nicht lassen kann,
seine „Feinde“ anzupöbeln,
auch wenn ein Gericht das befohlen hat.
Um sich als Opfer hinzustellen
muss er sich also schon ganz schön was einfallen lassen.

Nicht leichter
hat es gerade auch Sebastian Kurz
(zur Erinnerung: Österreichs „Mini-Trump“),
das macht dem aber nichts:
Vor Gericht sagt er aus,
seine angeblichen Falschaussagen
seien absichtlich falsch ausgelegt worden.

Die größten Jubelschreie aber,
die gibt es seit einer Woche
in Polen,
das verhältnismäßig weit nach links gerückt ist.
Die PiS-Partei hat ihre absolute Mehrheit verloren
und Duda kann eine Koalition gegen sie schmieden.
Immerhin 74% der Polen haben das so entschieden.
Ex oriente lux!
Vielleicht.

So.
Warum denn dann nun
schon wieder nach Westen abhauen,
wenn es doch gerade gar nicht
soo viele Gründe für diesen Kurzeskapismus gibt?
Ganz einfach,
weil ich mir schon länger Sorgen mache,
und eine gewisse Stadt
seit Monaten
weder angerufen hat
noch ans Telefon geht,
weswegen ich jetzt einfach
unangekündigt hinfahre.

Und auch wenn Bobby Charlton
fast sein ganzes (bis gestern dauerndes) Leben
in Manchester gespielt hat,
Weltmeister war er immerhin
an der Themse geworden.
Und dahin werde ich dann auch fliehen,
falls es (wie gestern) wieder hundertausend Menschen werden sollten,
die sich erfolglos
gegen den Einmarsch Israels
in den Gazastreifen versammeln.

 

„The ice age is coming,
the sun is zooming in
Meltdown expected,
the wheat is growing thin.
Engines stop running,
but I have no fear.
‚Cause London is drowning
and I live by the river.“

(The Clash: London Calling. 1979)

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