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„Nie wieder ist jetzt.“ (S9a:Ep14) (Teil 2)

von | 2023 | 12. November | Die Serie, Staffel 9a - Little Oblivions

(Foto: „Same“. London. Oktober 2023)

 

 

Teil 2 – Morgen ist heute schon gestern

 

Der historische Treppenwitz des Jahres,
vielleicht des Jahrzehnts,
dürfte in dieser Woche,
zumindest in Deutschland,
dann dieser hier gewesen sein:
Regierungskreise diskutieren
die Einführung
eines deutschen „Veteranentags“.

Auf Treppenwitzstufe eins:
Lanciert wurde diese Meldung
exakt am US-Veteranen-Gedenktag,
dem „Veterans Day“.
Während die USA
WW1,
WW2,
Vietnam,
Korea,
Irak
und Afghanistan
befeiern,
soll Deutschland
dann genau welchen Veteranen gedenken?
Afghanistan?
Jugoslawien?
Den übrigen ja wohl hoffentlich nicht,
oder?
Ach, was soll’s!
Lasst die großen Reiche
doch dann auch mitfeiern!
Bundeswehr,
Wehrmacht,
Kaisertruppen,
egal!
Alles eine Wichse.
Hauptsache ist:
Der Militarismus
wird wieder schick gemacht.
Deutschland
„muss wieder kriegstüchtig werden“.
Das sage nicht ich.
Das sagt Boris Pistorius,
der beliebteste Politiker der Nation.
Und ich sage nur:
Oha.

Und auf Treppenwitzstufe zwei:
Lanciert wurde diese Meldung
nur einen Tag nach
dem Neunten November.
Während noch alle
im Jetzt
des Nie Wieders
erstarrt waren,
wurde das andere
Nie wieder (Krieg)
in die Vergangenheit befördert,
wo sein Echo
jetzt
in der Ewigkeit verhallt.

 

Kriegsprotokoll. Schreibtisch. Deutsche Heimatfront. Letzte Reihe. Woche 88.
Die x-te Rückkehr des Donners. Montag: Odessa wird mit Raketen beschossen. Die Gegenoffensive ist endgültig zum Erliegen gekommen. Bei einem russischen Angriff auf eine Militärzeremonie sind am Wochenende 19 Menschen gestorben. In Kiew stirbt ein ranghoher Adjutant bei einem Bombenattentat. Selenskyj lehnt die Präsidentschaftswahlen im kommenden Frühling ab. Dienstag: Drohnen werden über der Krim abgeschossen. Nikopol (am Kochowka-Staudamm) steht unter russischem Artilleriebeschuss. Die Bundesregierung und die Nato setzen den KSE-Vertrag aus (Rüstungskontrolle), weil Russland. Die dritte (finale?) Angriffswelle auf Awdijiwka steht bevor. Ukrainische Himars-Raketen treffen Cherson. Mittwoch: Russische Angriffe am gesamten Frontverlauf. Ukrainische Soldaten überqueren den Dnipro. Rheinmetall soll 100.000 Mörsergranaten produzieren, sagt die Bundesregierung. In Luhansk stirbt ein russischer Abgeordneter bei einem Attentat, später bekennt sich die Ukraine dazu. Alle freuen sich über die baldigen Beitrittsverhandlungen mit der EU. Die Ukraine verlängert das Kriegsrecht und treibt die Mobilmachung voran. Russland und China bekräftigen die militärische Zusammenarbeit. Donnerstag: Um Awdijiwka stehen 40.000 russische Soldaten. Ukrainische Raketen treffen Skadowsk. Russische Raketen schlagen in mehreren ukrainischen Oblasten ein. Putin ist in Kasachstan, die militärische Zusammenarbeit wird ausgebaut. Pistorius fordert, dass Deutschland das „Rückgrat“ Europas werden soll. Der ukrainische Haushalt sieht im nächsten Jahr mehr Ausgaben für Verteidigung als für Bildung, Soziales und Gesundheit zusammen. Freitag: Stoltenberg erinnert in Berlin: „Ein Stellungskrieg dauert lange und birgt enorme Risiken für die Streitkräfte der Ukraine und für den Staat.“ Scholz pflichtet ihm auf einer Bundeswehrtagung bei: „Wir müssen uns darauf einstellen, dass der Krieg sehr lange dauern kann“ Awdijiwka ist rund um die Uhr unter Beschuss. Auf der Krim finden Seedrohnen ihre Ziele. Kanada stationiert Leopard-2-Panzer in Lettland. Samstag: Vor der Krim sinken zwei russische Landungsboote. Über vielen Teilen der Ukraine ertönt Luftalarm, in Kiew explodiert es mehrfach. In Cherson schlagen Artilleriegeschosse ein. Am Abend gedenkt Selenskyj der Beferiung von Cherson vor einem Jahr. Sonntag: In der Ukraine gibt es zur Stunde 5.000.000 Binnenflüchtlinge. „In Kiew und Washington müssen alle einsehen: Russland ist auf dem Schlachtfeld nicht zu besiegen“, sagt Kremlsprecher Dmitri Peskow, in einer Fernsehsendung die wirklich allen Ernstes so heißt: „Moskau. Kreml. Putin.“ Der ukrainische Militärgeheimdienst meldet die Tötung russischer Offiziere. Um Bachmut rücken die russischen Truppen wieder vor, auch hier war die Gegenoffensive nicht erfolgreich, die Granaten kommen wieder vermehrt von der anderen Seite.

 

Wir haben immerhin gekämpft,
bis zur letzten Parole.
Aber anstatt sich für Waffenruhen einzusetzen,
wird in Deutschland darüber diskutiert,
ob es vielleicht doch notwendig sein „könnte“ (ACAB),
das größte Krankenhaus Gaza-Stadts
zu bombardieren,
wenn es denn stimme,
dass sich direkt darunter
das Hamas-Hauptquartier befindet.
Ähm?
Nein?
Das wäre nicht notwendig?
Notwendig wäre höchstens
die manuelle „Eroberung“
(Gebäudekampf),
nicht aber die „Auslöschung“
(zu Staub zerbomben),
zumal sich in dem Krankenhaus
weit mehr Zivilisten als Kämpfer
befinden dürften.
Das dagegen weltweit
hunderttausende auf die Straßen gehen,
kann ich irgendwie
ziemlich gut verstehen.
Aber hey,
Nie Wieder ist Jetzt,
ne?

Sogar in den USA
ist nur eine Minderheit
auf Israels Seite,
und das will was heißen.
Und außerdem
ist in die Öffentlichkeit der Staaten
ein Ton eingezogen,
der eher nach
„nicht unser Krieg“ klingt,
als nach Kriegstrommeln.
Mitverdient wird aber gerne.
Und immerhin
läuft es innenpolitisch
doch auch ganz okay:
Unbeachtet der Umfragen,
die Trump deutlich vor allen anderen sehen,
fahren die Demokraten erstaunliche Siege
in roten Staaten ein.
Ohio,
Kentucky (!),
Virginia (!!).
Überall wird bei den Regionalwahlen abgeräumt.
Und das auch noch mit „woken“ Themen.
Der Frisurensohn übrigens
erfindet sich weiter neu,
ist nur inzwischen allerdings
so weit in der Absurdität versunken,
dass er es selbst nicht mehr mitkriegt.
Seine Auftritte vor Gericht
sind Realsatire in absoluter Vollendung.
Zudem hat er seit neuestem
einen ernstzunehmenden Konkurrenten:
Als unabhängiger Kandidat tritt an:
RFK Jr.,
bitte nicht googeln.
25% Prozent in den ersten Polls
sind jedoch mehr als beachtlich,
normalerweise haben Independents
nie mehr als 5%.
Die Comedystuben schießen sich also
schon mal warm,
dieses Duell wird absurd lustig.
Aber:
Die USA können auch anders.
Es folgt eine schier unglaubliche Dopplung.
Beinahe auf den Tag genau
geschehen zwei Dinge:
1.
Einer der größten Büroimmobilienkonzerne der Welt,
wework
(ehemaliger Wert: 47.000.000.000)
meldet Konkurs an.
Es stehen einfach zu viele Gebäude leer.
2.
Auf Netflix
feiert der langersehnte neue
und bis jetzt
teuerste David Fincher-Thriller,
„The Killer“
(Produktionskosten: 175.000.000)
Premiere.
Und wo spielt
gefühlt die Hälfte dieses Films?
Richtig,
in einem leerstehenden Hochhausbüro,
an der Glastür steht:
wework.

In Deutschland undenkbar.
Was wären wir ohne unseren Arbeitsplatz?
Hierhin komme ich aber gleich noch zurück,
wegen Gründen…
Aber auch der Basketball
verlangt seinen chronischen Platz.
Die NBA Saison
hat Fahrt aufgenommen.
Das In-Season-Tournament
hat sich bis jetzt als sehr gute Idee herausgestellt,
die Lakers sind schon wieder am losen,
und Jokic und Doncic
auf dem Weg
zu einem Jahrhundertduell.
Dark Horse Contender
in diesem Jahr:
Die Timberwolves
aus Minnesota,
mark my words.

Und mit dem Sport
dann zurück an die Heimatfront:
Harry Kane (Brite)
ist der Mann der Stunde.
17 Tore
in gefühlt nur drei Spielen;
der FC Bayern
im Hurra-Modus
und wieder an der Tabellenspitze.

Gut.
Genug Leichtigkeit für heute,
alles andere wäre
Gegenwartsverzerrung.
Und neben
Nie wieder
war hierzulande
in dieser Woche ja auch noch
der endgültige „Migrationsgipfel“:
Das „Migrationsgesetzbuch“ kommt.
Und noch ein „Digitaler Flüchtlingsausweis“ obendrauf.
Der Bund zahlt vorläufig
pro Jahr für jeden „Flüchtling“ 7.500 Euro.
Dafür gibt es weniger Sozialleistungen,
der Anspruch auf Bürgergeld wird zeitlich nach hinten verschoben,
aber es gibt mehr Sachleistungen.
Ausgerechnet einem SPD-Landrat aus MV
ist das aber immer noch nicht hart genug
und er tritt aus.
Die FDP will die Mittel
ja eh immer senken,
da erwarte ich nichts anderes.
Aber auch der Volkspartei CDU reicht das nicht,
Merz erklärt den Deutschland Pakt
umgehend wieder für beendet.
Asylrecht?
Mitgefühl?
Großmut?
Humanität?
Willkommenskultur?
Auch nur noch Parolen
aus der Vergangenheit.

Jetzt geht es auf dem politischen Parkett
munter weiter,
die einen so,
die anderen so:
Nie wieder
Schwarz-Grün in Hessen,
stattdessen kommt die Groko zurück.
Nie wieder
Ampel im Bund,
stattdessen ein geplanter FDP-Mitgliederentscheid
gegen die Grünen.
Die SPD will mal wieder den Spitzensteuersatz anheben
und auch noch die unteren 95% entlasten.
Dafür dürfen die oberen 5%
dann bald gar keine Stromsteuer mehr bezahlen.
Dieses Wirr-Warr
führt inzwischen dazu,
dass 41 Prozent der Deutschen
für Neuwahlen sind.
Und das ist eine große
Kritische Masse.

„Extremer Andrang“
war wahrscheinlich nur deswegen
gestern in Köln.
Denn mehr als schönzusaufen
ist das alles nicht mehr.
Denn noch
spricht sich der aktuelle Kanzler
gegen eine Rückkehr der Wehrpflicht aus,
der nächste allerdings
wird die entsprechende PR-Strategie
und Rede aber schon fertig haben.
Beide sind sich jedoch bereits einig:
Rüstungsausgaben sind gut
für’s Wirtschaftswachstum.
Der MIK dankt.

„Kriegstüchtig“ also.
Die letzte Regierung
die dieses Wort öffentlich benutzt hat,
das war übrigens die,
wegen der es
jetzt wieder
Nie Wieder
heißt,
und zwar in jedem Sinne.
Das ist den Redenschreiber*innen von Pistorius
aber wahrscheinlich nur so reingerutscht,
denn eigentlich
sollten sie ja das hier sagen:
„In der Zeitenwende (ja doch!)
wird die Bedeutung der Bundeswehr
für unser (sic) Land
besonders sichtbar.
Wieder (sic!!) sichtbar.
Und es wird deutlich:
Wir müssen
unsere (sic!) Bundeswehr
wieder (sic!!) auf Landes- und Bündnisverteidigung ausrichten
und ihre Einsatz- und Abschreckungsfähigkeit
spürbar erhöhen
– damit wir auch morgen noch
in Frieden und Freiheit leben können.“

Oder eben:
Si vis pacem para bellum.
Abgeschrieben haben Pistorius’ Redenschreiber*innen das,
wie so viele Militarist*innen vor ihnen,
natürlich bei Platon,
konsenseuropäischer Ideengeber allerersten Ranges
und Erfinder der demokratischen Wehrpflicht:
„So muss sich jeder
nicht erst im Kriege,
sondern schon in Friedenszeiten
auf den Krieg einüben,
und darum muss eine verständige Bürgerschaft
in jedem Monat
nicht weniger als einen Tag Kriegsdienste tun,
wohl aber noch mehrere,
wenn es den Behörden nötig erscheint,
und dabei weder Frost
noch Hitze scheuen.“

Gehalten hat Pistorius diese Rede
übrigens im Bendlerblock.
Veteranen und so.
Das war’s dann Jetzt
wohl wirklich erstmal
mit Nie Wieder
Krieg.

*ernsthaft enttäuschtes Räuspern*

 

„It happened today.
Hooray! Hooray!
It happened.
Hip, hip, hooray!“

(R.E.M.: It happened today. 2010)

 

 

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