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… Leaving the World Behind (S10:Ep1)

von | 2023 | 31. Dezember | Die Serie, Staffel 10 - But Here We Are ...

(Foto: Geschlossene Brücke. Quedlinburg. Dezember 2023)

 

 

 

„Kids love farts, don’t they? Even today, with all the drugs and sex and violence you hear about on TV, they still get a kick, such as we used to, out of a fart. Maybe the world hasn’t changed so much after all. It would be nice to think there were still a few eternal verities around.“

(Philip Roth: The Great American Novel. 1973)

 

 

Das fünfte Jahr
der Niederschrift
von #DieDoppeltenZwanziger
beginnt bereits
eine Woche vor dem Jahreswechsel.
Es ist der Abend des ersten Weihnachtstages,
kurz vor halb Zehn.
Und ich habe mir gerade den Traum erfüllt,
den nächsten Schlüsseltext dieser Chronik
mit einem klugen Zitat
über’s Furzen zu eröffnen,
you’re welcome.

Willkommen zurück
sagen auch meine Fingerspitzen,
in denen es einfach
schon wieder zu sehr juckt,
und das obwohl
sie sich doch noch länger erholen wollten,
aber das kennen wir ja
aus den letzten Jahren
zur Genüge;
sorry,
not
sorry.

Ihr könnt Euch also
auf den nächsten Rekordversuch einstellen,
auch was die Episodenlänge angeht.
Denn die erste kleine Jubiläumsstaffel
peilt nebenbei auch
das Erreichen der 2.000 Seiten-Marke an
und hat sich,
wie immer,
mal wieder
viel zu viel vorgenommen.

In diesem Sinne
falle ich auch
gleich mal mit der Tür
durch die vierte Wand:
Der Staffeltitel
ist selbstredend kein Zufall.
Denn nicht nur
ist die Rockmusik
tatsächlich aus dem Mainstream verschwunden,
sondern mit ihr
auch gleich noch
der Mainstream selbst.
So jedenfalls
lautet meine momentane
Gegenwartsananlyse.
Und genau das wiederum
soll eine der grundlegenden
(noch sehr wackligen) Thesen
der nächsten gut zwanzig Texte werden:
Der Weltgeist
ist zerbrochen.
Es existieren nur noch
Milliarden Schwarze Scherben,
in denen sich
Milliarden Narrative
spiegeln.
(Marshall McLuhan und Francois Lyotard
klopfen sich in der Differènce
resigniert auf die Schultern,
als Albert Einstein,
auf einem Quantenstring vorbeisurft
und ihnen zuruft:
Kopf hoch,
wir sind schließlich immer noch da.)
Die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten,
vor allem was das Schreiben einer Chronik anbelangt,
sollen ein weiteres Thema dieser Staffel sein,
wobei ich jedoch versuchen werde,
dass dieser theoretische Quark
nicht allzu viel Raum einnimmt;
„meta“ ist auf die Dauer
ja auch irgendwie anstrengend.

Und wenn wir einmal
auf dem Grund
dieses Spiegelkabinetts von Chronik
angelangt sind,
also bei den richtig dicken Brettern,
den wichtigen Fragen
und den unbequemen Antworten,
also bei unseren Sehnsüchten,
dann müssen wir uns eingestehen,
dass, im Angesicht des zerbrochenen Weltgeistes,
unser Wunsch nach Gewissheit und Verlässlichkeit
wohl niemals zu unseren Lebzeiten
größer gewesen sein dürfte.
Kein Wunder deswegen auch,
wenn liberal erzogene Kids
sich taufen lassen,
sobald sie achtzehn sind,
bald dreihundert Jahre nach
der Aufklärung.
Die Pointe des Eingangszitats
dürfte sich somit auch noch erschließen
(verities = Wahrheiten).

Ein bekanntes Symbol
für unseren Wunsch nach Verlässlichkeit und Gewissheit,
nach Weltversicherung,
ist die Uhr.
Wenn schon nicht der Weltgeist,
so lässt sich doch der Zeitgeist
wenigstens überprüfen.
Deswegen sind sie wahrscheinlich auch
so beliebte Weihnachtsgeschenke.
Eine davon
wurde im letzten Jahr
in meiner Familie verschenkt
und hat es geschafft,
innerhalb von nur zwei Tagen
mit einer Last an Bedeutung aufgeladen zu werden,
die ich so auch noch nicht erlebt habe.
Es gibt kein Entkommen
vor der Zeit,
und jeder Versuch
ist zum Scheitern verurteilt.

Womit wir auch schon
beim nächsten Basisthema der Staffel angelangt sind,
das seinen ersten Ausdruck
bereits im Episodentitel findet.
Und mit dem
#DieDoppeltenZwanziger
dann doch
den letzten Fluchtversuch beginnen:
Good Bye,
Eskapismus!
Wir haben es lange genug miteinander ausgehalten,
hier trennen sich unsere Wege.
Ich werde dich schon schon noch im Auge behalten,
aber erklimme die nächste Stufe,
den Post-Eskapismus.
Und wenn das auch nicht helfen sollte
(wovon auszugehen ist),
dann gebe ich die Flucht auf.
Dann stelle ich mich einfach
allen Narrativen
und schaue mir beim „Weitermachen (aka Scheitern)“ zu,
stoße mit Kassandra an
und drücke Sisyphos weiterhin die Daumen.
Ich werde zum Wasser
des über die Ufer getretenen Mainstreams,
auf dem Weg in einen Ozean,
der nicht mehr länger mehr ist,
sondern nur noch
die Summe
der einzelnen Teile.

Und damit
dann endlich, endlich, endlich
zurück zur Gegenwart,
genug Literatur für heute,
es ist 2024.
Auch in Quedlinburg.
In Sachsen-Anhalt.
In Deutschland
und im transatlantischen Europa.
Der Post-Eskapismus
zeigt sich nämlich momentan
wohl nirgendwo deutlicher
als hier bei uns,
im „Westen“,
wo sich so Mittelschichtler wie ich
noch ein bisschen darüber freuen können,
wie zu gut es uns verdammt noch mal geht,
und sogar noch Zeit und Muße
in Hülle und Fülle finden,
sich der allgemeinen Weltflucht hinzugeben.

Die Flucht,
vor allem,
vor dem Eingeständnis,
dass der „Westen“ sich was vormacht.
Aber was sag ich „was“?
Ne ganze Menge sogar.
Im Grunde ist er doch dabei,
die globalen Realitäten
ganz und gar hinter sich zu lassen
und sich einfach weiter,
selbstverblendet wie eh und je,
seine ganz eigene(n) zusammenzuschustern.
Dazu hier nur ein paar Beispiele,
die Staffel fängt ja gerade erst an.

Beispiel 1:
Die „westlichen“ Klimamaßnahmen.
Man trifft sich
zum Winterbeginn in der Wüste,
nimmt sich vor,
sich auf „mehr Ehrgeiz“ zu einigen (ACAB)
und kauft im Anschluss weiter Öl
als ob es kein Morgen gäbe.
In Deutschland feiert das
inzwischen sogar Die ZEIT
(die BILD für eingebildete Intellektuelle)
und erfindet das letztgültige Unwort des Jahres,
den „Klimaoptimismus“:
„Die Rettung kommt nicht aus der großen Politik;
nicht von den Klimaaktivistinnen auf der Straße.
Stattdessen kommt sie durch technischen Fortschritt
und die Kräfte der Marktwirtschaft.“

Beispiel 2:
Die selbstbehauptete Bedeutungsschwere
für die globale Politik.
Die permanente Schockdoktrin
des westlichen Kapitals
infolge der Kriegs- und Klimafolgen,
von denen es sich immer wieder
„freikaufen“ (aka verschulden) kann,
fällt angesichts der BRICS-Staaten
irgendwie immer weniger ins Gewicht.

Beispiel 3:
Die angebliche militärische Überlegenheit,
und die dadurch heraufbeschworene
„Vermeidung“ des Dritten Weltkriegs;
doch dazu später
noch mehr als genug.

Beispiel 4:
Die innere Stärke
der westlichen Demokratien.
Dazu nur Andreas Voßkuhle
(tatsächlich auf der Titelseite
der vorvorgestrigen BILD):
„Es kann durchaus sein,
dass sich unsere westliche Demokratie
nur als eine kurze Phase
in der Geschichte der Menschheit erweist.“

So.
Und wer hat Schuld?
Klar,
der Kapitalismus,
und zwar der westliche.
So einfach ist das,
wenn niemand versucht,
sich was vorzumachen.
Mit lieben Grüßen aus der Mittelschicht.

 

„Während aber der Kapitalismus des Westens in den letzten vierzig Jahren von schwachen Wachstumszahlen, sinkenden Lohnquoten und einer immer weiter auseinanderklaffenden Schere zwischen Arm und Reich gekennzeichnet war, setzte in China tatsächlich ein trickle-down-Effekt ein (oder viel schöner: a rising tide lifts all boats). Zwar wuchsen auch hier (nach dem Beitritt Chinas zur WHO) die Vermögensungleichheit und die Zahl der Milliardäre. Aber während der Gini-Koeffizient, der globale Ungleichheitsindikator, in den USA und auch in Deutschland im Zuge der Agenda 2010 (SPD) erheblich angestiegen ist, ist die Ungleichheit in China seit anderthalb Jahrzehnten wieder rückläufig.“

(Ingar Solty: Im Reich der Mittelschicht. 2023)

 

 

Gut.
Soweit erstmal.
Dann also doch nochmal kurz zurück zum (literarischen) Post-Eskapismus.
Ein sinnstiftendes Sinnbild dafür nämlich
dürften einige von Euch vielleicht kennen:
Der (oder die) Stapel
von zwar gekauften aber noch nicht zu Ende gelesenen Büchern
rund ums Bett.
Ich lasse Euch kurz
durch das Loch in der vierten Wand blinzeln,
und so sieht meine aktuelle Fluchtroute aus,
bevor ich abends die Augen schließe:

Das Geld (Georg Seeßlen, 2023) – The Great American Novel (Philip Roth, 1973) – Die Privilegierten (Thomas von Steinaecker, 2023) – Die Glasglocke (Sylvia Plath, 1963) – The Plot Against America (Philip Roth, 2004) – Operation Shylock (Philip Roth, 1993) – Ein von Schatten begrenzter Raum (Emine Sevgi Özdamar, 2021) – Die Nächte der Pest (Orhan Pamuk, 2021) – Die Elenden (Victor Hugo, 1862) – Keine Messer in den Küchen dieser Stadt (Khaled Kalifa, 2013) – Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann? (Ece Temelkuran, 2013) – The Giver Quartet (Lois Lowry, 1993-2012)

Ganz so eklektisch,
wie diese Aufzählung wirkt,
ist das eigentlich gar nicht.
Und der mittelschichtlerische Intellektuellenflex
zum Staffelbeginn
ist immer noch
nicht abgeschlossen.
Denn kurz vor den Feiertagen
ist mir eine Geschichte
beim Doomscrolling (aka Nachrichten lesen)
vor die Finger gefallen,
die sich sofort
als absoluter Volltreffer
für einen Romanstoff
herausgestellt hat.
Für einen Roman
über das deutsche Bildungsverständnis
zu Beginn der Zweitausendzwanziger.
Innerhalb von Minuten
ist in meinem Kopf alles fertig:
– Story:
Sieg bzw. Scheitern der „Individualisierung“
– Plot:
Aufstieg und Fall der Alemannenschule im Schwarzwald
als Internats- und Bildungsroman
(nur unwesentlich verschleiert)
– Idee:
Radikale Kritik des aktuellen deutschen Bildungsbürgertums
– Haupt- und Nebenfiguren:
Das Kollegium, die Schüler*innen, die Elternhäuser
– Notwendige Recherche:
Digitalisierte „Bildung“, Schwarzwald, Schwäbische Mundart
– Umfang:
Leser*innenfreundliche 350 Seiten
(auch als Trilogie möglich)
– Benötigte Zeit:
Viel zu viel.

Denn ich habe ja auch
noch was anderes zu tun.
Neben #DieDoppeltenZwanziger
versuche ich auch immer noch,
das Gegenteil eines/des „Volkslehrers“ zu sein.
Und weil ich mich an Weisheit
einfach nicht satt fressen kann,
mache ich demnächst auch
gleich noch in „Volksrichter“.
Ganz konkret bedeutet das,
ich bin zum Schöffen gewählt worden
und darf ab März
meinen Teil dazu beitragen,
dass das Recht in Quedlinburg kommt.
Wie viel ich dann darüber schreiben kann,
das kann ich allerdings noch nicht abschätzen.
Als Abschluss
der fertig geflexten Einführung in die neue Staffel
konnte ich das hier jedoch nicht unerwähnt lassen.

So.
Jetzt dann aber.
Sorry,
not sorry.
Bevor sich die Chronik dann aber wirklich
nahtlos fortsetzen kann,
kommt sie nin mal nicht umhin,
noch schnell die Lücke zu schließen,
die der Dezember gerissen hat,
also all das nachzutragen,
was wir mit dem gestrigen Feuerwerk
hinter uns gelassen
und gleichzeitig wieder vor uns haben.

 

Kriegsprotokoll. Schreibtisch. Deutsche Heimatfront. Letzte Reihe.
Wochen 94 und 95.
Das „Jahr des Sieges“ ist vorbei, natürlich ohne Sieg. Montag: Belgorod wird erneut von der „Legion der Freiheit Russlands“ angegriffen. Rheinmetall verkauft 10.000 Geschosse für hunderte Millionen in die Ukraine, bis 2025. An der Front wird die Artilleriemunition knapp. Boris Akunin (russischer Schriftsteller) wird als „Terrorist“ geführt, wegen Kremlkritik. Dienstag: Das UN-Hochkommissariat geht von inzwischen 10.000 getöteten Zivilisten seit Kriegsbeginn aus. Kupjansk ist nicht mehr weit von der „Rückeroberung“ entfernt. Putin signalisiert erneut Gesprächsbereitschaft, zu Russlands Bedingungen. Erdogan erpresst die Nato mit Kampfjetforderungen für den Beitritt Schwedens. Die Ukraine will 500.000 weitere Soldaten rekrutieren. Im US-Senat herrscht weiter Streit um die Militärhilfen. Mittwoch: Über Kiew werden erneut Raketen abgeschossen. In Charkiw und Cherson schlagen andere ein. An der Südrfont wird anscheinend Gas eingesetzt. Donnerstag: Drohnenschwärme greifen in mehreren ukrainischen Landesteilen an. Die Ukraine denkt über die Mobilisierung von im Ausland lebenden Männern nach. Die EU zahlt die letzten 1,5 Milliarden (von 18) aus, die weitere Finanzierung ist zunächst unklar. Freitag: Stoltenberg behauptet, Putin habe die Ukraine für immer verloren, ganz so als ob er Putin „die Ukraine“ jemals besessen habe. Kiew steht wieder unter Drohnenbeschuss, ein Hochhaus steht in Flammen. Polens neuer Außenminister kommt trotzdem zum Antrittsbesuch vorbei. Die Ukraine will drei russische Jagdbomber abgeschossen haben. Selenskyj will weiter „die Herzen der Menschen überzeugen“. Odessa wird erneut mit Drohnen attackiert, im Gegenzug wird Donezk angegriffen. Samstag: Der deutsche Botschafter in Moskau beklagt Putins mangelnde Verhandlungsbereitschaft. In der Ukraine wird ein größerer Betrug bei der Waffenbeschaffung aufgedeckt. Ukrainer spenden dieses Weihnachten an das Militär. Die Einkesselung Awdijiwkas zieht sich weiter in die Länge. ACAB weiß immer noch, dass Putin „die Ukraine vernichten“ will. Heiligabend: Unverminderter Drohnenbeschuss in Cherson, Kurachowo ist ohne Strom. Die russische Luftabwehr holt vier ukrainische Kampfjets vom Himmel. Die Ukraine feiert zum ersten Mal das westliche Weihnachten, Selenskyj: „Am Ende wird die Dunkelheit verlieren. Das Böse wird besiegt.“ Erster Weihnachtstag: Drohnenangriffe im Überfluss, Russland sieht sich im Rüstungswettlauf vorn. Die Ukraine holt die nächsten Kampfjets vom Himmel. Russland hat Marjinka eingenommen. Zweiter Weihnachtstag: Die Ukraine landet im Südosten der Krim (Feodossija) einen Volltreffer und zerstört ein mit Munition voll beladenes Kriegsschiff der russischen Schwarzmeerflotte. Die Ukraine setzt das Alter für Reservisten von 27 auf 25 herab. Pistorius prüft „Modelle einer Wehrpflicht“. Die Türkei verabschiedet sich von seiner Blockade des Nato-Betritts von Schweden. Russland beschießt den Bahnhof in Cherson. Mittwoch: Drohnenangriffe as usual auf Cherson und Odessa. Russland schickt selbstfahrende Haubitzen zunächst in die Massenproduktion, dann an die Front. Die Bundesregierung hat in diesem Jahr Rüstungsexporte für mindestens 11,71 Milliarden Euro genehmigt und damit einen neuen Rekord aufgestellt. Mehr als ein Drittel der genehmigten Ausfuhren ging mit 4,15 Milliarden Euro an die Ukraine, die ihre Rüstungs-produktion im letzten Jahr verdreifacht hat. Russland und Indien kooperieren demnächst noch enger bei der Aufrüstung. Kretschmer (CDU Sachsen) schlägt einen Waffenstillstand mit vorübergehendem Gebietsverzicht vor, die Ukraine reagiert: „Zugeständnisse bei Gebieten führen unweigerlich zu einer größeren Aggression durch Russland, die fraglos über die Grenzen der Ukraine hinausgehen wird.“ Die USA geben die wohl letzte Tranche der Militärhilfen frei (250 Millionen Dollar). Donnerstag: Die Drohnenangriffe halten an. Unweit der Donau-mündung wird ein Frachter von einer Seemine erwischt. Freitag: Die „Vergeltung“ für den Krimtreffer ist verheerend: Die Ukraine wird mit dem größten Luftangriff seit Kriegsbeginn überzogen. In Odessa, Lwiw, Charkiw und Kiew sterben fast vierzig Zivilisten bei Raketen-angriffen, im Norden und Süden des Landes gibt es keinen Strom mehr. Der Westen reagiert nicht nur entsetzt: Bundeswehr-Generalmajor Christian Freuding resümiert nach bald zwei Jahren Krieg: Man habe „die Durchhaltefähigkeit der Russen am Anfang nicht so gesehen, wie wir sie heute beurteilen. Wir haben auch nicht gesehen, dass ihnen gelingen wird, was wir jetzt klar beobachten: Dass sie ihren militärisch-industriellen Komplex hochfahren, ausbauen, Produktionskapazitäten, trotz des drakonischen Sanktionsregimes, steigern.“ Am Abend tagt der UN-Siherheitsrat. Russland läuft Sturmangriffe auf Awdijiwka und einen Brückenkopf in Cherson. Samstag: Über Belgorod werden ein Dutzend Raketen abgeschossen, Russland spricht von ukrainischem Terror, es sterben fast zwanzig Zivilisten. Ischinger (ex-Siko) fordert die sofortige Lieferung von Taurus-Systemen. Silvester: In Belgorod sollen ukrainische Streubomben gefallen sein, als Vergeltung wird Charkiw bombardiert. Der Papst fordert in Rom das Ende des Krieges. Putin verkündet in seiner Neujahrsansprache, Russland werde „niemals“ zurückweichen, und Schoigu sekundiert: „Der Kern der unbeugsamen Entschlossenheit und des Siegeswillens war und ist der Soldat der Russischen Armee.“

 

Der Krieg setzt sich weiter
nahtlos fort.
Und während sich Deutschland
vorerst auseinander gestritten hat,
wie mensch sich seit dem 7. Oktober 2023
zum „Nahostkonflikt“ zu äußern habe
(wobei dankenswerterweise
Die Anstalt und Das Magazin
das letzte Wort hatten,
nämlich Shapiras Ode auf Baklava),
breitet sich der Flächenbrand
immer weiter aus.
Die letzten zwei Wochen
im Zeitraffer:
Die Kommandozentrale der Hamas in Gaza-Stadt
wird noch vor Weihnachten erobert,
erste Bilder des berüchtigten Tunnelsystems
gelangen an die Weltöffentlichkeit.
Dann ist kurz von Frieden die Rede,
allerdings weiter südlich,
im Jemen.
Im Gaza-Streifen
herrscht inzwischen der Hunger,
die WHO schlägt sämtliche Alarmglocken.
Am Heiligen Abend dann
bombardieren die IDF
das Flüchtlingslager in al-Maghasi,
ein Massaker,
das Israel kurz nach Weihnachten
sogar noch offiziell „bedauert“.
Als nächstes legt Ägypten
einen mehrstufigen Friedensplan vor,
ohne nennenswertes Echo.
Am ersten Weihnachtstag
bombardiert die Türkei dann Rojava,
die USA bombardieren iranische Stellungen im Irak
und Israel sieht sich plötzlich in einem Mehrfrontenkrieg
mit dem Libanon,
dem Irak,
dem Iran,
dem Jemen
und der Hamas.
Über Bande sind da also gerade
mindestens 8 Staaten
im Krieg miteinander.
Wahrscheinlich deswegen
vergleicht der türkische Kriegsherr
den israelischen Kriegsherrn
auch mit Hitler
(kein Witz).
Direkt nach Weihnachten
schwört dann der Iran
Rache für einen getöteten General.
Südafrika zieht vor den IStGh und klagt:
Israel begehe Völkermord.
Und am Silvestermorgen dann:
Die IDF stürmen das Hauptquartier der Hamas
in Chan Junis
und kündigen an,
die Operation noch weiter
nach Süden ausdehnen zu wollen.
Der Krieg geht in die zehnte Woche,
und die Rache
hat ihre Befriedigung
lange hinter sich gelassen.

 

 

31. Dezember (Fünf Sekunden vor Zwölf)

 

S10:Ep1,2,3,4(u) – Wann kommt die Flut? (Remix 23)

 

– Wahl zum Deutschen Wort des Jahres:
„Krisenmodus“ noch vor „Antisemitismus“,
aber knapp.

– Zeitgleich zieht auf:
mega Sturmtief Zoltan,
Schulschließungen im Norden,
sämtlichste Flüsse treten über die Ufer,
zu viel Regen trifft auf viel zu frühe Schneeschmelze,
Evakuierungen in Thüringen,
der Oker-Staudamm ist bei 100%,
aber auch die Sperre in Kelbra hält,
die gesamte Süd-West-Staulage des Harzes ist bedroht,
in Thüringen bleiben die Feldbetten leer,
alle Evakuierten kommen privat unter,
es ist schließlich Weihnachten,
und über die Tage dann:
eigentlich steht ganz Niedersachsen unter Wasser,
aus dem Serengeti Park werden die Tiere evakuiert,
sämtliche Deiche sind vollgesogen,
und neuer Regen zieht auf.
Zu Silvester ruft Mansfeld Südharz
den Katastrophenfall aus.
Die Lage bleibt seit einer Woche „angespannt“.

– Zu Beginn der Ferien noch
sind erstmal alle froh,
dass der Vorweihnachtsstress vorbei ist,
alle waren am Limit.
In den Schulen schlug
die letzte Pisastudie ein,
Achtklässler fragen ernsthaft,
ob sie etwa dumm sind,
Deutschlehrer beruhigen:
Die USA sind noch schlechter.

Trump wird in Colorado von den Vorwahlen ausgeschlossen,
geht umgehend in Berufung vorm Supreme Court,
da zieht Maine schon nach,
egal, er zitiert inzwischen munter Hitler,
auch ohne Mein Kampf gelesen zu haben,
sein Ex-Buddy Rudy Guiliani
meldet derweil Konkurs an,
er ist zur Zahlung von 148 Millionen Dollar
verurteilt worden (Verleumdung).
In Südmexiko setzt sich
zu Heiligabend ein „Flüchtlingstrack“
in Bewegung,
die Republikaner freuen sich
über das Geschenk.

– In Wächtersbach (Hessen)
geht am Heiligen Abend eine „Flüchtlingsunterkunft“
in Flammen auf,
nur wenige Tage zuvor
ruft Björn Höcke
auf einer Wahlveranstaltung
zum Vollenden seiner Lieblingsparole auf,
in Pirna stellt die AfD ab sofort
den Oberbürgermeister,
und in Quedlinburg
schmückt sich das Pfarramt in der Hölle
mit einem Bild-Artikel aus dem November,
als der „Querdenkerpfarrer“
drei Kinder auf seinem Hof getauft hatte.

– Auch bereits im November,
bis jetzt aber kaum beachtet,
greift Giorgia Meloni
in Italien erneut zur Macht
und kündigt eine Verfassungsänderung an:
die künftigen Wahlsieger*innen
erhalten automatisch 55% der Parlamentssitze;
das Ende der westlichen Demokratie
wie wir sie kennen.

– Post-Demokratie
auch in Brüssel:
Olaf Scholz schickt Viktor Orban
in die Kaffeepause,
damit er bei einer ziemlich wichtigen Abstimmung
einfach mal nicht im Raum ist,
und bekommt dafür auch noch Applaus.

– Das Compact-Magazin
kündigt 2024
als „Jahr der Patrioten“ an,
mit Trump und Höcke auf dem Cover.
Die beiden hat auch konkret
auf dem ersten Heft des Jahres,
dazu aber auch noch den Rest der Bande
(also: Milei, Meloni, Wilders, Orban, Le Pen …
aber nicht: Putin),
das „Superwahljahr“ hat begonnen.

Polen räumt auf:
eine Medienreform wird in Gang gesetzt,
die mit der Auflösung des ÖR beginnt,
auf die dann eine Neustrukturierung erfolgen soll.

– Das TIME Magazine verkündet
die Person of the Year:
Zum Glück ist es
nur Taylor Swift.

– Auf Island reißt die Erde auf:
am 19. Dezember,
ein vier Kilometer langer Riss,
aus dem die Lava
bis zu hundertdreißig Meter hoch sprudelt.

– Argentinien weiß noch wie’s geht:
die größte Gewerkschaft des Landes
ruft zum baldigen Generalstreik auf.

– GDL erstreitet hierzulande die erste Arbeitszeitsenkung,
kündigt längere Streiks an
(Titanic: „GDL-Jugend als Terrororganisation eingestuft“).

– „Die Bauern“ organisieren
den ersten Treckerkonvoi in Berlin
(gegen die wegfallenden „Dieselsubventionen“).
Und am 8. Januar
soll’s dann richtich scheppern:
„Ampelabschaltung“
und schon wieder
ein „Tag der Wende“.

– dem Kapital geht es derweil
weiterhin blendend,
neuer Dax-Rekord am 14. Dezember,
auch Andy Scheuer hat endgültig nichts mehr zu befürchten,
das Untreueverfahren wird eingestellt,
und das „Bürgergeld“
gibt’s nur noch für Leute,
die sich wirklich jeder „Arbeit“ zwingen lassen
(der Entwurf ist übrigens von der SPD).

– ein Krisengipfel wie aus alten Zeiten:
wegen zu hohen Atemwegserkrankungszahlen
wird sich in Berlin beraten,
Ergebnis:
die Hausärzte sollten jetzt bitte nicht auch noch streiken.

– Kapitalismus, aber in geil:
das In-Season-Tournament der NBA
war ein voller Erfolg,
und, wer sonst?,
die Lakers dürfen sich als erste
den brandneuen Wimpel in die Halle hängen.
Nach bald der Hälfte der Saison
sind die Timberwolves
tatsächlich das beste Team im Westen,
wo Draymond Green
seine Warriors in shambles prügelt.
Ansonsten liefert sich Luka Doncic
einfach Duelle mit allen Ligagrößen
und feuert im Christmas Game
gegen die Suns
ein 50/6/15/3/4 raus (und knackt die 10.000 Punkte Marke).
Und die Clippers sind auch wieder mal da,
James Harden hat wieder Spaß am Spiel.
Die Pistons beenden zum Jahresende
eine Niederlagenserie von 28 Spielen;
Storylines, bei denen kein Auge trocken bleibt.
Marc Cuban verkauft
einen Monat vor Weihnachten dann
73% seiner Mavericks
an Investoren aus Las Vegas,
für 3,5 Milliarden Dollar;
gekauft hatte er das Team
vor 23(!!!) Jahren
für fünfzehn mal weniger,
und dann kam Dirk Nowitzki
und wurde World Champion.

– einen Tag vor Heiligabend,
Prag ist festlicher geschmückt denn je,
erschießt ein Philosophiestudent
an seiner Fakultät,
mitten in der Stadt,
mehr als ein Dutzend Menschen
und dann sich selbst.

 

Ja, und auch hier,
rund ums Weltkulturerbe
knallt es jetzt
schon den ganzen Tag vor sich hin,
Silvester ist in wenigen Stunden vorbei,
im Radio läuft
die Ode an die Freude,
bis zum Ende ausgespielt,
wie sich das für 2023
anscheinend so schickt.

Und noch weiß ich nicht,
ob der Kölner Dom
morgen noch steht,
oder ab morgen
Neu-Kölln wieder überall ist,
oder ob der fulminante Signa-Crash
kurz vorm Jahreswechsel
dann doch den Anfang
der nächsten Finanzkrise kennzeichnet,
oder ob es wirklich stimmt,
dass die abgestorbenen Waldflächen im Landkreis Harz
ab bald mit Windrädern zugeflakt werden.
Denn noch weiß ich ja eigentlich
gar nichts,
nur das,
was wir
ab hier
hinter uns lassen.

Gut möglich,
dass dieser Orkan von Jahrzehnt
im neuen Jahr
erst noch zu seiner wahren Größe anwächst,
möglich bleiben aber auch
alle anderen Szenarien.
Und deswegen ist es tatsächlich klug
von Olaf Scholz
in seiner Neujahrsansprache
die Flucht ins Metaphernmeer anzutreten,
außerdem kennt er sich da langsam ganz gut aus:
Unruhig und rau
ist die See,
doch wir kommen
auch mit Gegenwind zurecht
und „wir,
in Deutschland,
kommen da durch.“

Gut, dann weiß ich ja wenigstens,
bei wem ich mich beschweren kann,
wenn meine Finger wieder mal streiken wollen,
weil einfach kein Durchkommen mehr ist,
durch die zahllosen Schwarzen Scherben,
aus denen unsere Zeit besteht.
In diesem
und in jedem anderen Sinne:
Zur Not schreibe ich auch
mit den Zehenspitzen weiter.
Also,
2024,
Bring.
It.
On.

 

„Don’t stop breaking my heart
so I can sing about it!“

(Biffy Clyro: Fingers and Toes. 2013)

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