Am Karsamstag saß der Brillenträger bereits kurz nach Mittag am Schreibtisch. Die Sonne hatte sich nach wenigen Stunden wieder hinter eine dicke weiß-graue Wand verzogen, und im Hof räumte eine Mutter das Spielzeug ihrer Kinder auf. Schon die ganzen Osterferien war sie immer wieder daran verzweifelt, die beiden miteinander zu versöhnen, was ihr jeweils nie länger als eine halbe Stunde gelungen war. Urlaub im Weltkulturerbe. Kaum fünf Meter weiter schob sich der erste größere Touristensturm der neuen Saison durch die engen Gassen.
Als auch die erste Hummel des Jahres auf seinem Balkon vorbeischaute (aber noch keine Blüten vorfand und deshalb schnell wieder weiterflog), stand auch für den Brillenträger fest: Der Winter hatte sich endgültig verabschiedet, und alle konnten erneut versuchen, einen Sommer zu erleben, der diesen Namen nicht nur wegen der angenehmen Temperaturen vertragen würde.
Zwei Tage lang hatten auch sie genau damit schon begonnen. Von Mittwoch, über Gründonnerstag, bis Karfreitag. Auf der Terrasse war es eigentlich noch zu frisch gewesen, dennoch hatten sie sie die Tagesstunden meist dort verbracht, im Haus selbst wollten sie nicht rauchen. „Wo hast du die Bude nochmal aufgetan?“
„Mensch, zum dritten Mal: Über den AirBnB-Account von T. Und weißt du, was D und D geschrieben haben, als ich denen ein paar Fotos von hier geschickt habe? … ,Gay as fuck!‘ Also vor 30 Jahren.“ Der Brillenträger ließ seinen Blick ins Innere der Ferienwohnung schweifen: Großflächige Pop-Collagen an allen freien Wänden, blutrote Fliesen über der mattschwarzen Küchenzeile, eine riesige lilafarbene Eckcouch, ein beeindruckender Gummibaum, ein raffinierter Esstisch, zwei Kuhfelle auf dem Dielenimitat, schwere, blickdichte bronzefarbene Vorhänge. Von außen war das Haus mit Sicherheit das unauffälligste der ganzen Einfamilienhaussiedlung. „Cooles Versteck, oder? D kennt die Besitzer. Ein ausgebautes Elternhaus. Die Eltern leben nicht weit weg in einem neuen.“
„Okay, cool. Und warum genau nochmal machen wir ausgerechnet in Harsum Urlaub? In einer Einfamilienhaussiedlung?“
„Mensch, weil TWP und T nur zwanzig Minuten weit weg bei ihren Eltern sind.“
„Soll ich fragen, warum du nicht auch da bist?“
„Weil es besser für alle ist, wenn ich das nicht bin.“ Der andere Brillenträger hätte sich auch gerne eine Zigarette angemacht, hatte sich aber was vorgenommen.
Am Morgen der Wochenmitte war der Brillenträger früher als geplant in Richtung Westharz aufgebrochen. Bereits der erste Zug nach Halberstadt war für ihn überraschend voll. Der sich anschließende, nach Goslar, stand dem in nichts nach. Von einem Sitzplatz verabschiedete er sich mehr als einmal, die Massen rückten unverschämt schnell nach, und an jedem Bahnhof füllte sich der Zug mehr als dass er sich leerte. Also lehnte er an der Gepäckablage, hatte seine Kopfhörer aufgesetzt (mit denen er dem Soundtrack zu „The Boy and the Heron“ lauschte) und widmete seine restliche Aufmerksamkeit dem Buch in seiner Hand.
„Denk mal über das Buch nach – ich meine die Technologie des Buchs, die eigentliche physische Gestalt des traditionell gedruckten Buchs. Die bleibt nichts anderes übrig, als es zu lesen wie vorgeschrieben, von vorn nach hinten, linear, der Reihenfolge nach. Du hast dabei keinerlei Handlungsfreiheit. Um dir ein Buch zu erschließen, musst du dich der Tyrannei des Autors unterwerfen. Damit sind Leser traditioneller Bücher an ihrer eigenen Unterdrückung und Unterjochung beteiligt.“
(Nathan Hill: Wellness. 2023)
Ab Goslar saß er vor zwei männlichen Twentysomethings aus der Gegend, was unschwer an ihrem nicht vorhandenen Dialekt zu erkennen war. Die beiden Maschinenbaustudenten unterhielten sich über die Formel 1, so wie sie es schon seit bestimmt mehr als zehn Jahren taten, und wie es ihre Väter schon vor ihnen getan hatten, darüber wen sie abkönnen, und wen nicht, welche Modelle so ihre sind, und welche eher nicht so. Und wann sie zuletzt mit wem viel zu früh aufgestanden waren, um dabei zuzusehen, wie am anderen Ende der Welt andere Männer mit sehr schnellen Autos in Schlangenlinien immer im Kreis fuhren. Der Brillenträger scrollte auf seinem Handy, March Madness war in vollem Gange. Die Feeds quollen über vor Berichterstattung: Caitlin Clarke sei nur der Anfang! Basketball, egal wer es spielte, war weiter auf dem Weg, geschlechter- und generationsübergreifend die wichtigste, die größte und natürlich die schönste Sportart der Welt zu werden. Die jungen Männer vor ihm waren inzwischen bei irgendwas mit Computern angelangt, Kryptowährungen oder Gaming, er hörte nur halb hin.
Um dreiviertel Elf verließ er die Bahnhofshalle in Hildesheim. Die Sonne strahlte, er hatte seine Sonnenbrille aufgesetzt und bemerkte nach einem kurzen Fußweg nach Süden, dass ihn der Stadtaufbau an Halle (Saale), auf der anderen Seite des Harzes, erinnerte. Vom Bahnhof aus führt erst eine eher richtig hässliche Fußgängerzone bis zu einer großen Kreuzung, gefolgt von einer schon weniger hässlichen, und dann um die Ecke: der ziemlich hübsche Markt, auf dem er sich in einem Café niederließ, schräg gegenüber der Hildesheimer Allgemeinen Zeitung. Der Sonnenschein war angenehm, das Gespräch des Rentnerpaares am Nebentisch ebenfalls. Wenig später fand er einen Weinhandel für später und danach einen Comistore, der ihn dazu veranlasste, seinen Frust über das jämmerliche Angebot auf der Leipziger Buchmesse zu vergessen: Zwei „Sandman“-Bände („Im Reich der Träume“ und „Die Traumjäger“), eine Graphic Novel („Auf der Suche nach Peter Pan“) und ein weiteres Meisterwerk von Cixin Liu („Yuanyuans Blasen“). Glücklich nahm er eine halbe Stunde später auf den Stufen der ehemaligen Post gegenüber des Bahnhofs Platz und blätterte in den Büchern und Heften bis der andere Brillenträger und C ihn um dreiviertel Eins mit dem Mietwagen abholten. Das tragische Busunglück auf der A9 bei Leipzig hatte sich erst vor wenigen Stunden ereignet, als er davon kurz auf seinem Handy las.
„So weit ist das nicht von hier bis zum Dom, das können wir auch laufen.“ Der andere Brillenträger und C sahen sich nur ein paar Sekunden lang an: „Egal, wir suchen das Parkhaus in der Arneken Galerie und laufen von da.“
„Genau, das sagt auch mein Navi. Der Tag ist bereits durchkuratiert, vertrau uns.“
Der Brillenträger stand zunächst allein vor der riesigen Eisenpforte des Hildesheimer Doms. Als C und der andere Brillenträger ihn gefunden hatten, rätselten sie gemeinsam mit einem älteren Mann über das bestimmt vier Meter hohe Relief. „Das ist doch der Marsch durch Jerusalem, oder?“
„Auf der rechten Seite vielleicht, aber links sind irgendwie auch Adam und Eva zu sehen. Also eher altes Testament.“
„Aha, beide Bücher! Jedes auf einem Flügel. Nice.“
„Schön. Und wo ist jetzt der Kreuzgang?“
C wies sie zur anderen Seite des Kirchenschiffes, vor dem Altar hatten die Vorbereitungen für die kommenden Tage begonnen, regenbogenfarbene Schriftzüge wurden an die Kirchendecke projeziert. Im Hof standen sie vor einem hochgewachsenen Rosenstock. „Alter, immerhin: 1000 Jahre alt!“ Alle drei bestaunten stumm die gerade erst wieder zum Leben erwachende Pflanze, die sich an einem dicken Turm dem blauen Himmel entgegenreckte. Vor der Kirche wuselte ebenfalls des Leben: der ganze Domplatz wimmelte von freundlich wirkenden Menschen, die sich auf ein großes Fest vorbereiteten.
Den Wein und Crémant für den Abend hatten sie dann schnell ausgesucht, und der Verkäufer war mit so viel Laienwissen und so wenig Anspruch nur leicht überfordert gewesen. Auf der kurzen Fahrt nach Harsum ließen sie sich dann nur kurz über die wenig dörflichen Dörfer rings ums Hildesheim aus, die vielmehr großen Wohnsiedlungen glichen, in denen nur Gäste Miete zahlten.
Angekommen auf der Terasse genossen sie zunächst die Ruhe der westdeutschen Provinz. In den Gärten hinter den Häusern war niemand zu sehen, die Rasenflächen warteten noch auf ihren ersten Schnitt. Ungewollt flog der Korken des ersten Crémants über den flachen Gartenzaun.„Erzählst du noch was von deiner Wohnungsbesichtigung im Tacheles?“
„Kann ich machen, aber habe ich eigentlich auch schon von meinem Besuch bei der Auflösung des Groove-Magazins erzählt?“
„In Ansätzen.“
„Na gut. Tacheles kennste, ne?“
„Nee? Erzähl mehr!“
Der andere Brillenträger setzte sich etwas aufrechter hin. „Jut, also: 1908 eröffnen an dieser Stelle in Berlin, zwischen Friedrichstraße und Oranienstraße, die Friedrichsstraßenpassagen. Shoppen wie in Wien. Nur für viel zu Reiche. Dann Kriege, Teilung, Verfall, dies, das. Nach der Wende aber: Besetzung, Punk, Techno und Kunst auf über hundert Floors. Der Solarplexus der deutschen Neunziger. Wowi hat’s dann irgendwann verkauft, sexy aber arm, ne? Für lächerliche zwei Millionen. Und jetzt gehört es irgendwelchen schwedischen Investoren, die anscheinend noch nicht genug Geld haben: Es ist eine ganz neue Passage entstanden, dem ersten Publikum im Anspruch verpflichtet, vorne ist Porsche eingezogen. Ansonsten eher eine Gated Community, mit Supermarkt und allem drum und dran. Wohnungen zu Preisen, die mehr als nur lächerlich sind und für die man sogar Werbung auf ebay findet. Seelenlos. Alles gekachelt oder Parkett. Die kleinsten Wohnungen siebzig Quadratmeter, die größten mehr als einhundertfünfzig. Mieten starten bei zweitausendachthundert. Kalt. Aber! Da die Stadt verlangt hat, dass wenigstens noch sieben Prozent der Fläche für Kunst genutzt werden müssen, gibt es in der Nachbarschaft auch kleinere und größere Galerien und natürlich einen großen Museumsshop. Auf der Eröffnung der pinkgewaschenen „Fotografiska“ hat Peaches gesungen.“ Alle schwiegen für einige Momente und dachten an die Neunziger zurück. Der andere Brillenträger ergänzte dann noch etwas leiser: „Ganz schön traurig.“ Alle nickten fast unmerklich. Sie verließen die Terrasse, der Brillenträger nahm etwas Kaminholz mit nach drinnen.
„Leute, wir könnten auch woanders sein heute.“
„Ja. Warum?“
„Keine Ahnung. Weil ich mich grade so unaktivistisch fühle.“
„Inaktiv.“
„Nee nee, schon richtig gehört. Ich will jetzt ja gar nicht groß das Politikfass aufmachen, aber …“
„ … Aber machst es trotzdem. Versteh’ schon. Erzähl mehr!“
„Okay? Danke. Wieso sind wir zum Beispiel nicht in Grünheide?“
„Will sich etwa jemand hier einen Tesla kaufen?“
„Das auch. Aber ich meine das Protestcamp. Gegen Tesla. Oder wohl eher gegen Elon Musk. Wenn’s der nich’ wäre, würde sich keiner von denen gegen E-Autos wehren wollen, oder?“
„Kann sein. Und du wärst da gerne wegen was nochmal genau?“
„Na mensch, damit ich wenigstens auf der richtigen Seite nichts erreiche.“
„Genau. Wir könnten genauso gut auch grade auf dem Compact-Volksfest um die Ecke in Velten sein.“
„Könnten wir nicht. Aber erzähl mehr.“
„Gerne. Jürgen Elsässer wollte den Start der ,blauen Welle‘ da feiern. Ihr wisst schon, alles nur keine Machtübernahme. Aber: Die AfD hatte gemahnt! Abgemahnt sogar. Wegen Verwendung des Parteiimages durch mutmaßliche Neonazis. … Kann man sich nicht ausdenken, oder?“
„Habt ihr eigentlich schon ,The Zone of Interest‘ gesehen?“
„Nein.“
„Nein.“
„Ich auch nicht. Aber ich kenne erstaunlich viele Menschen, die den anscheinend grade brauchen.“
„Also ich nicht.“
„Ich auch nicht. In Quedlinburg gibt es sogar Zusatzvorstellungen wegen der großen Nachfrage.“
„Sehnen wir uns nicht alle ein bisschen nach der Idylle hinter der Gartenmauer?“
„Kannst du bitte ab sofort weniger zynisch sein?“
„Sorry. Tacheles und so.“ Den Rest des Abends verbrachten sie mit Gesellschaftsspielen. Auf „Bezzerwizzer“ folgte „Hitster“. Und weit nach Mitternacht hatten die nächsten Hipster die Frührente erreicht.
Gründonnerstag wechselte das Wetter. Der Tag begann und endete unter grauen Wolken, ab und an nieselte es, die Aufenthalte auf der Terrasse wurden kürzer, der Kamin wurde früher angefeuert. C war gegen Mittag abgereist und hatte die Türklinke dem anderen Schlauen in die Hand gedrückt, der gerade aus dem Garten seiner Eltern in der Nähe kam. Er und der Brillenträger genossen es, sich für mehrere Zigaretten ausführlich über Basketball zu unterhalten, während der andere Brillenträger auf der Couch chillte. Später fuhren sie Blumen kaufen und besorgten etwas zu essen für den Abend. Während der Vorbereitungen überarbeiteten sie das Spielkonzept von ,Hitster’, sie führten ein elaborieteres Punktesystem ein, ergänzten die Antwortmöglichkeiten um absurde Geschichten über die Interpreten, für die es extra Punkte geben sollte, wenn die anderen Mitspieler zugeben musste oder wollten, ob und wie die jeweilige Geschichte denn irgendwie ,gut’ gewesen war. Nach dem Essen öffneten sie die letzte Flasche Wein, und der andere Brillenträger machte seinem Unmut dem anstehenden Spiel gegenüber mehr als deutlich Luft. Also verlegten sie sich auf etwas, mit dem sie alle etwas anzufangen gewusst hätten, auch wenn sie alleine oder räumlich getrennt gewesen wären.
„Hallo Leute, willkommen zur ersten Ausgabe des Literarischen Terzetts.“
„Dein Ernst?“
„Mein Ernst. Spielt einfach mit. … Ich begrüße heute die beiden Brillenträger, Applaus, Applaus. Angeblich habe nämlich nicht nur ich, sondern habt auch ihr ein bisschen mehr als Ahnung studiert. Vor uns liegen heute acht Bücher. Macht euch bereit, die Spiele mögen beginnen.“
„Ich beginne dann mal: Am meisten springt mich gerade dieser kleine Diogenes Band an. Thomas Meyer.“
„Das ist ganz bestimmt sein richtiger Name.“
„Bestimmt. Buchtitel: Trennt Euch!“ Der andere Schlaue nur einige Seiten aus dem Buch vor. Schon nach den ersten Absätzen war das urteil gefallen. „Dummstudierter cis-Macker ist nach schwerer Enttäuschung dabei, gleich noch alle anderen Beziehungen mit zu runieren. … Wieso kaufst du sowas?“
„Reines Berufsinteresse. … Ich mach weiter. Hier haben wir einen dunkelpinken Einband. Suhrkamp. Textsorte unbekannt. Ilija Matusko: ,Verdunstung in der Randzone’, schonmal ein guter Titel.“ Der andere Brillenträger las mehr als nur die ersten Seiten, die anderen beiden lauschten andächtig. Nach einigen Minuten waren sie sich einig. „Sehr gut. Und lustiger als ich zunächst dachte. Die Selbstironie geht runter wie Öl. … Was haben wir noch? Ronnja von Rönne? Sag mal, was ist los mit dir?“
„Was meinst du? Nur weil die nicht schreiben kann?“
„Kann sie doch. Aber macht sie leider auch. … Egal. Titel: ,Ende in Sicht’. Hellblauer Einband, im Regal leicht wiederzufinden.“ Mehr als die erste Seite schaffte der Brillenträger nicht zu lesen. Die Sätze waren zu kurz. „Okay, der nächste Titel lautet: ,Ein sicherer Ort’. Worum geht’s?“
„Ums Bunkerbusiness.“
„Ist das ein Ding, ja?“
„Sag mal, wo lebst du denn? Na logisch! … Ist aber einen Schelmenroman, steht jedenfalls hinten drauf. Bock?“
„Nee, was haben wir noch?“
„Russland und Osteuropa.“
„Erst Osteuropa. ,Weiter Sehen’, von Esther Kinsky.“ Der Brillenträger las langsam und betont ruhig vor. Die anderen schwiegen. Das Leitmotiv schaute zum Fenster in die angebrochene Nacht.
„Jetzt Russland. Katerina Poladjan: ,In einer Nacht, woanders’.“ Weit kamen sie nicht.
„Los, nicht schlappmachen, zwei haben wir noch.“
„Helfen die?“
„Eins davon ganz sicher. Das andere heißt: ,Poor Dogs’, Ute Cohen.“ Nach wieder nur wenigen Seiten protestierten alle. „Fifty Shades of Grey, aber in genauso peinlich. Dafür weniger Seiten.“
„Auch traurig.“
„Gut, Leute, das war’s für heute. Wir schließen mit unserem momentanen Lieblingsbuch, auch wenn es euch schon zu den Ohren wieder rauskommt.“
„Mit wem redest du eigentlich? Nimmst du etwa wirklich auf?“
„Vielleicht. Sit back, relax and listen. Der Kronprinz der westlichen Literatur höchstselbst erzählt.“
„Als sie sich nach dem Privatleben, der beruflichen Laufbahn und der Weltsicht ihrer Versuchspersonen zu erkundigen begann, fand sie heraus, dass die Menschen im Allgemeinen völlig verwirrt, überfordert, müde und ausgelaugt waren. Sie lebten in einer Landschaft voller Verzweiflung und Misstrauen, einer Welt, in der Giftbrühe ins Grundwasser sickerte, Feinstaub in der Luft hing, die Ozeane voller Mikroplastik, der Himmel von CO2 und Strahlung durchsetzt, die Lebensmittel mit Pestiziden, Füllstoffen und Müll vergiftet waren, Ärzte die keine Zeit für sie hatten, Politiker, die sie anlogen, Fernsehjournalisten, die sie anlogen, unbefriedigende Arbeitsverhältnisse, Schuldenberge, nur eine Arztrechnung von der Privatinsolvenz entfernt, und niemand schützte sie davor, die Regulierungsbehörden steckten mit denen von ihnen regulierten Unternehmen unter einer Decke, die Mächtigen schützten die Mächtigen, während die kleinen Leute litten. Und während sie sich diese Geschichten anhörte, entschied Elizabeth, dass der Glaube an Trenddiäten, mystische Chakren oder Energiekristalle eigentlich eine ziemlich rationale und vernünftige Reaktion auf den systemischen Zusammenbruch war: Wenn einen niemand schützte, musste man es eben selbst übernehmen. Man musste an irgendwas glauben. Man musste aus irgendwas Hoffnung schöpfen.“
(ebenda)
„Amen. … Ist dann jetzt eigentlich schon Karfreitag?“
Der andere Brillenträger sah auf die Uhr: „Noch nicht.“
„Na dann hab’ ich noch eins. Ich hab’s nur nicht hier.“
„Egal, erzähl mehr.“
„Es ist nämlich so: Ich schreibe natürlich über die paar Tage hier.“
„In deinem Blog.“
„In meinem Versuch von Gegenwartsliteratur, genau. Und weil ich schon lange mal ausführlicher über Bücher schreiben wollte, und weil ich Literaturblogs so dröge finde, und weil sich das für so planvolle Schriftsteller wie mich gehört, hab ich auch schon vor ein paar Wochen damit angefangen. Zeit ist ja relativ. Jedenfalls, ob ihr’s glaubt oder nicht, es gibt sogar schon die Idee für genau diese Szene hier. Drei Dudes lesen sich was vor. Und ein Beitrag sollte dann das hier sein: Ingersoll Lockwood: ,Baron Trumps wundervolle Reise in die Hohle Erde’.“
„Als ob!“
„Kein Scheiß! Die Wiederentdeckung des Jahrzehnts! Der zweite Teil der Baron Trump Erzählungen. 1893.“
„Erzähl mehr, bitte.“
„Es geht dabei um einen Jungen deutscher Herkunft namens Wilhelm Heinrich Sebastian Von Troomp, der mit einem reichen Mann namens Don nach Russland fährt und dort durch ein Portal eine andere Welt betritt.“
„Wirklich?“
„Wirklich. Und jetzt ratet mal, was seit ein paar Wochen bei Reddit und Konsorten abgeht.“
„Kranker Mist?“
„Exakt. Und ihr wisst auch, wie Trumps jüngster Sohn heißt, der erst vor ein paar Tagen achtzehn geworden ist?“
„Warte. … Alter, der heißt doch Barron, oder?“
„So heißt der. Und, geht es nach den ganz schrägen Vögeln im Internet, dann ist er natürlich was?“
„Ganz klar: Ein Zeitreisender!“
„Boah nee! Das Genre ist so ausgelutscht. Echt mal!“
„Das ist kein Genre, das ist für viele die Realität.“
„Traurig, alter, ganz, ganz traurig.“
Nach Mitternacht dann, also am frühen Karfreitag, waren sie bei den schönsten Erinnerungen angelangt, der Wein war alle, sie vergaßen Wasser zu trinken. Sie versanken für einen kurzen Moment im Rausch der Neunziger, der Nuller und der frühen und späten Zehner. Sie tanzten selbstvergessen in den Clubs der Großstädte, beschworen Bilder herauf, vom weitläufigen Blick von der Galerie im Berghain oder von den engen Treppenaufgängen in Schlanstedt, überall nur Menschen im Taumel der Farben, verloren in ihrem eigenen Trip, unter dem Dröhnen der immer wieder neu einsetzenden Bässe. Musik hörten sie dabei nicht. Die Collagen an den Wänden lagen im Schatten. Der Kamin war seit Stunden aus. Draußen regnete es auf die Dächer der Einfamilienhäuser, während die drei sich auf die Suche nach ihren Träumen begaben.
Die beiden Brillenträger fuhren noch vor dem Mittag zurück nach Thale. Der andere Schlaue war vor einer halben Stunde in sein Uber gestiegen, das Haus war besenrein, der Müll sortiert und in den jeweiligen Tonnen. In seiner Nachricht an ihren Vermieter informierte der andere Brillenträger über diesen Zustand, sowie darüber, dass leider ein Weinglas zu Bruch gegangen war. Ansonsten: Fünf Sterne.
Sie fuhren nicht über die Autobahn, sondern bewunderten die Gegend von den Landstraßen aus. So bekamen sich auch vom Großbrand in Goslar nichts mit, der nur wenige Kilometer südlich den Westharz in Atem hielt. Am Hessendamm passierten sie die ehemalige Grenze. Sie unterhielten sich gute zwei Stunden nur mit sich selbst und wussten kurz vor Quedlinburg wieder, wie es ihnen wirklich ging. Der Abschied im Mummental war wie immer zu kurz. Als der Brillenträger seinen Briefkasten aufschloss, rutschte ihm sein Lieblingsmagazin entgegen. Der Titel: Nie wieder Frieden! Die deutsche Zeitenwende. Daneben schön anzusehende Luftballons vor einem blauen Horizont, zum Glück nur drei, dafür aber in camouflage.
Früh am Abend entschied er sich dann dafür, vielleicht doch erst morgen zu versuchen nicht an seiner Chronik weiter zu schreiben. Stattdessen versuchte er, die dritte Folge von ,Three Body Problem’ zu verstehen. Noch war die Fastenzeit nicht vorbei. Auf den Wiesen und in den Bergen vor der Stadt funkelten die Osterfeuer und verhaltene Feuerwerke erleuchteten das dunkle Grau der hereinbrechenden Nacht.
30. März
S10:Ep9(u): Killing in the Name of
– Bauern randalieren weiter in Brüssel,
obwohl die EU ihnen immer weiter entgegenkommt
– Frankreich ist so verschuldet wie Griechenland oder Italien…
– Kakao so teuer wie nie!
– Trump und die Kaution,
verscherbelt Bibeln für 60 dollar („god bless the usa bible“)
– Assange wird weiterhin nicht ausgeliefert, zwei Monate Atempause
– Thema der Woche:
verheerender Brückeneinsturz in Baltimore (nach Containerschiffskollision)
– „Chaos“ in Haiti dringt weiterhin nicht durch
– monströse Erdrutsche in Brasilien
– Bahn und GDL einigen sich (35 Stunden Woche kommt 2029, mit Wahlmodell)
– Schlagzeile der Woche:
Südkorea: Neue Super-U-Bahn soll Geburtenrate steigern
– Die UN-Sonderberichterstatterin für die Palästinensischen Gebiete, Francesca Albanese, sieht „vernünftige Gründe“ für die Annahme eines israelischen Völkermords im Gazastreifen: „Anatomie eines Völkermords“
– UN-Resolution zu sofortiger Waffenruhe (USA enthalten sich)
– Gantz: das hat keine operative Bedeutung
Kriegsprotokoll. Schreibtisch. Deutsche Heimatfront. Letzte Reihe.
Woche 109.
Das Ende taucht im Osten auf. Montag: In Odessa bricht die Stromversorgung zusammen. In Rostow brennt ein Elektrizitätswerk. In Kiew fliehen die Menschen wieder in die Luftschutzräume. Der Großangriff auf Tschassiw Jar beginnt. Dienstag: Über Belgorod werden ein Dutzend Raketen abgeschossen. Der FSB (Russland) hat einen Selbstmordanschlag in Samara vereitelt. Die Ukraine will ein Drittel aller russischen Kriegsschiffe im Schwarzen Meer zerstört oder beschädigt haben. Mittwoch: Artillerie- und Raketenbeschuss von Cherson bis Charkiw. Selenskyi besucht die Schützengräben in Sumy. Donnerstag: In Prag wird die angebliche, russische Propagandaschmiede „Voice of Europe“ ausgehoben. Putin stellt klar: „Die Vorstellung, dass wir irgendein anderes Land angreifen werden – Polen, die baltischen Staaten und die Tschechen haben auch Angst – ist völliger Unsinn.“ Constanta (Rumänien) plant die Erweiterung des Militärflughafens, was Russland als Vorbereitung der Nato wertet, den kommenden großen Krieg vorzubereiten. Altkanzler Schröder will mit Putin reden, dem Kreml gefällt das. Moskau teilt auf Telegram mit, es lägen „Beweise“ für die Verbindungen (Finanzierung) der Attentäter (IS-Anschlag in Moskau) zu „ukrainischen Nationalisten“ vor. Entlang der gesamten Frontlinien vom Süden bis zu den östlichen Teilen der Ukraine sind insgesamt 48 Gefechte aufgeflammt. Selenskyj erwartet den Beginn einer neuen Offensive. Freitag: Unter anderem in Dnipro gehen die Angriffe auf die Infrastruktur weiter. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages klärt auf: Wenn ein Nato-Staat, ohne Nato-Zustimmung, in der Ukraine eingreift, werden die anderen nicht automatisch zu Kriegsteilnehmern. Ab Montag startet in Russland eine neue Einberufungskampagne. Über der Ostsee werden russische Flugzeuge von Nato-Jets abgefangen. Samstag: Selenskyj befürchtet den Rückzug der ukrainischen Truppen, wenn die Unterstützung aus dem Westen nicht steigt.
– Russland brüstet sich vor aller Welt mit Extremfolter von Terroristen,
die Mehrheit der Russ*innen findet das gerechtfertigt,
und wer „Guantanamo“ sagt, wird gecancelt
– Israel holt immer weiter aus:
der Libanon, Syrien, das Westjordanland
stehen inzwischen unter Dauerbeschuss
– die Tagesschau ändert ihre Überschrift binnen Stunden:
aus „naiv“ wird ganz schnell noch „einseitig“
als es um die Forderungen der Ostermärsche geht
– die konkret titelt: Nie wieder Frieden!

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