Dachterasse IfS, Frankfurt am Main. Anfang Juli.
„I am a sinner
who’s probably gonna sin again.
Lord, forgive me,
Lord, forgive me
things I don’t understand.
Sometimes, I need to be alone;
bitch, don’t kill my vibe,
bitch, don’t kill my vibe.“
(Kendrick Lamar. 2012)
Leute,
auch den letzten Anschlusszug für heute
habe ich pünktlich erwischt!
Nach nur zwei Stunden Stehen
in der Regionalbahn
von Sangerhausen
nach Kassel-Wilhelmshöhe
sitze ich jetzt,
kurz nach Mittag,
auf der Treppe
zwischen Unter- und Oberdeck
auf der Fahrt nach Frankfurt am Main.
Draußen setzt sich die Sonne
langsam wieder durch,
heute morgen war es
nach der Affenhitze gestern
und nächtlichen Schauern
schon fast kühl,
auf dem Bahnsteig in Sandersleben
hat es gezogen wie immer.
Und auch die Klimaanlagen
funktionieren bis jetzt übergut.
Mein erster Trip in diesen Sommerferien
geht also in eine Stadt,
durch die ich bis heute
höchstens mal kurz durchgereist bin.
Aber es brauchte nun mal
auch mehr als einen guten Grund,
um mir das Zentrum
des europäischen Kapitalismus
mal etwas genauer anzuschauen,
und aus eben diesen Gründen
gibt es auch diese Spezialepisode hier,
wie Titel und Eingangszitat
bereits unangenehm deutlich ankündigen.
Aber auch die letzten zwei Stunden Stehen
hätten schon Stoff genug geliefert
für eine meterlange Sozialstudie,
die sich in Dutzenden Detailanalysen
hätte verlieren können;
wer quer
mit dem Zug,
in der zweiten Klasse,
an einem Donnerstag
von Sachsen-Anhalt
durch Thüringen
nach Hessen fährt,
kriegt ein ziemlich gutes Bild
vom Bauch dieses Landes,
nicht mehr als ein Schnappschuss,
aber es bleibt faszinierend,
wie kunterbunt diese Salatschüssel
anscheinend immer noch ist:
rohe Punkerfamilien aus Eisenach,
fahrradfahrende blonde Söhne und kahle Väter,
arabisch sprechende Mütter und Töchter,
ernst blickende Scheitelträger,
ukrainisch sprechende BFFs,
englische Bücher lesende Basecapträger,
blondgefärbte Goth-Girls,
Polohemd und Jeans-Träger,
brilletragende Student*innen,
turnende Backfischsportgruppen
und Omas und Opas
auf der Reise zu ihren Enkelkindern.
Hinter mir gelassen habe ich dafür
die Provinz, in der gerade
der Metal regiert.
Noch bevor die erste Band
gestern auf dem Rockharz
die Verstärker hochgefahren hat,
klafften bereits große Lücken
in den umliegenden Supermarktregalen.
Und auch über die Besucher*innen
eines solchen Spektakels
müsste ich mal eine Spezialepisode schreiben,
aber, ganz ehrlich,
diese Szene ist mir irgendwie zu uniform und eingefahren,
und außerdem kenne ich sie bereits besser
als es sein müsste.
Und so also auch deswegen
bin ich heute unterwegs,
aber dazu erst viel später.
Für jetzt nur noch
eine leise Bemerkung:
In Zügen,
die durch die Eingeweide dieses Landes rumpeln,
kann es unheimlich still sein.
Und überraschend unlaut
ist es auch im Bahnhofsviertel,
den paar Blocks hinter dem Hauptbahnhof,
wo die Kriminalitätsrate
ja bekanntlich erschreckend hoch ist.
An einem Donnerstag Nachmittag
wirkt es hier aber eher traurig
als lebensbedrohlich:
Obdachlosigkeit,
offener Drogenkonsum,
Elend
und höchstens die vierte Reihe Babos,
die die Ecken besetzen.
Mein Hotel liegt mittendrin
und heißt deswegen auch Grand Hotel Downtown.
Seine besten Tage hat es jedoch hinter sich,
auch wenn die Flure
mit „Hundertwasser“-Fliesen aufgehübscht sind.
Vom Fenster im vierten Stock
höre ich den Klang
von auf dem Asphalt rollenden Glasflaschen.
Und ich stelle sogar hier oben fest,
was mir schon auf dem Bahnsteig
und auf dem Weg hierher aufgefallen ist:
Frankfurt am Main riecht gut,
zumal an einem Sommerabend.
Sämtliche Zivilisationsgerüche
sind zugedeckt mit einem schweren Dunst
von hauptsächlich Moschus und Vanille.
Überpünktlichkeit ist man am IfS
anscheinend nicht gewohnt,
und so warte ich noch eine halbe Stunde,
zunächst vor dem Büro des aktuellen Institutsdirektors,
an dessen Tür blaue Notizzettel kleben,
die offensichtlich
von einer Schreibanfängerin beschrieben wurden,
und dann noch für eine Zigarette auf der Dachterasse,
über der Spitze des Main Towers
steht die Abendsonne.
Pünktlich um 18 Uhr geht es dann los
in Sitzungssaal 1.
Zwischen einem voll mit alten Büchern bepackten Wandregal
und einem großen Flachbildschirm
stehen abgenutzte, große Holztische
im akademischen U,
Fenster und Tür
sind weit geöffnet.
Die Hauptreferentin
winkt vom Bildschirm,
live from Cardiff University, Wales:
Anja Giudici,
Professorin der Erziehungswissenschaften
und ausgemachte Expertin auf dem Gebiet
der Forschung zu „Rechter Bildungspolitik“,
der Titel ihres Vortrags:
„Über Parteien hinaus“.
Sowohl die zehn Menschen im Sitzungssaal
als auch die zehn per Zoom zugeschalteten Zuhörer*innen
lauschen dem Testlauf zu einer Systematisierung
des Forschungsfeldes.
Und schnell ist allen klar:
Gerade bei den Rechten
sind die Grenzen
zwischen „Bildung“ und „Politik“
relativ schwammig.
Klar, denn zwei Sachen auf einmal zu denken
fällt den meisten Vertretern ja eher schwer.
Innerhalb der nächsten Stunde
lernen die meisten hier nicht wirklich etwas neues,
außer vielleicht,
dass „Rechte Bildungspolitik“
absolut nichts neues ist.
Denn dass sich die Rechten,
was ihre „Bildungsarbeit“ angeht,
zunehmend auf der „metapolitischen Ebene“ bewegen,
das wissen wir spätestens
seit es Martin Sellner
vor vielen Jahren
ausgeplaudert hat.
Ergo:
Das „Problem“ an der „Bildung“
ist für die meisten Rechten
die Schule.
Klar also,
dass schon eine der allerersten öffentlichen Schriften
des Nachkriegsfaschismus
diesen Feind markiert.
Der Urahn des „Think Tanks“ in Schnellroda (Sachsen-Anhalt)
war das INSPE in Italien,
am Anfang der letzten 60er.
In „Die Probleme der italienischen Schule“
manifestierte sich damals das Playbook,
das bis heute von Menschen
wie Björn Höcke und Götz Kubitschek
auswendig gelernt werden muss:
Zuerst muss ein Kulturwandel stattfinden,
dann erst lässt sich die Politik verändern.
So weit, so Gramsci.
Und das geht, auch laut Rechten,
am effektivsten in der Schule.
Nur müsse sich da eben
ideologisch mal was zurechtsrücken lassen:
Die „Rekonstruktion der Persönlichkeit“,
besonders durch den Geschichtsunterricht,
sollte sich dabei möglichst
an der „Gentilischen Lehre“
(Bildungsminister unter Mussolini)
orientieren,
bzw. sie eins zu eins umsetzen,
denn Bildung
ist für Rechte
nun mal das Gegenteil von Diskurs;
aber wie gesagt,
bei denen ist vieles relativ schwammig.
Wie auch immer,
die Rechten wollen aber gar nicht zuerst
in der Schule selbst wirken,
sondern viel mehr auf das schulische Umfeld,
genau, auf die Familien der Schüler*innen.
Und das machen sie heute,
ob in Italien, Frankreich oder Deutschland,
genau so,
wie es sich irgendwelche Altnazis
vor 70 Jahren schon ausgedacht haben.
Zum Beispiel der Front Nationale,
oder wie die sich gerade nennen:
Regelmäßig werden im politischen Vorfeld
(Vereine, Freundeskreise)
„Vorlagen für Interventionen“ verteilt,
mit denen dann auf Elternabenden und Schulversammlungen
losgeschwurbelt werden soll.
Dazu gibt es dann noch
„Vorlagen zur Korrektur von Fehlern in der Schule“.
Kurz:
Die Eltern und Schüler*innen
werden aufgehetzt.
Gegen die Schule.
Gegen „Autorität“,
gegen „politische Propaganda“,
gegen diese verdammte Vielfalt,
den Islam
und das gottverfluchte Gendern!!1!
Aber auch Lehrer*innen werden
dumm gemacht:
Es gibt rechte Lehrergewerkschaften,
und im Philologenverband
sitzen bekannterweise
auch nicht wenige Protofaschisten.
Die abschließende Diskussion
beginnt mit einem maximal lustigen Versprecher,
über den niemand lacht:
Eine Teilnehmerin
im Sitzungssaal 1 des IfS (Institut für Sozialforschung)
fragt danach,
ob es in Deutschland,
neben dem IfS (Institut für Staatspolitik) in Schnellroda,
oder der „Kubitschek-Bubble“,
noch andere bekannte „Think Tanks“ gebe,
die sich „Bildung“ auf die Fahne geschrieben haben,
so wie eben dieses „Institut für Sozialpolitik“
in Sachsen-Anhalt.
Am Ende stehen dann zwei „neue“ Erkenntnisse:
Erstens:
Rechte legen anscheinend mehr Wert auf Bildung,
also zumindest in ihrem sehr engen Verständnis davon,
denn es macht schon einen Unterschied,
was da gebildet wird:
Mündige Menschen
oder eben das Fußvolk einer faschistischen Ideologie.
Und zweitens:
Ja, der Antisemitismus
der Neuen Rechten
ist kein groß zu beschreibendes Phänomen (mehr).
Denn zum Einen halten die damit
strategisch hinter dem Berg
und zum Anderen gibt es für die
einen viel schlimmeren Feind,
nämlich den Islam.
Am nächsten Morgen
sitze ich, zum zweiten Mal nach gestern Abend,
am Mainufer,
dieses Mal an einer Biergarnitur
im Schatten der Bäume
eines noch ungeöffneten Promenadencafés
kurz vor dem Eisernen Steg.
Ab und zu rollen Fahrräder, Lastenräder oder E-Scooter vorbei,
auf dem Rasen liegen noch Kürbiskernschalen,
Jogger*innen traben gemütlich vor sich hin,
bald pensionierte Oberstudienräte
flanieren mit ihren Frauen,
am anderen Ufer streiten sich Schwäne
und kleine Gruppen von Frauen
mit Hidschab schwatzen
auf den Bänken
vor der Skyline
in der Vormittagssonne.
Das Kunst- und Museumsviertel
in Frankfurt am Main
ist überraschend groß
und erstreckt sich an beiden Seiten des Flusses.
Dementsprechend schnell gebe ich es auf,
mich für mehr zu interessieren
als ich mir vorgenommen habe.
Zuerst zieht es mich ins Caricatura,
das mit einer Sonderausstellung
zu Michael Sowa aufwartet:
„Fragile Idyllen“.
Selten hört man so viel (unterdrücktes) Lachen
in einem Kunstmuseum.
Nach einer großen Runde
auch durch das Obergeschoss,
wo die Créme de la Créme
der (west-)deutschen, männlichen
Karikaturistenlegenden versammelt ist,
fasse ich im Gift Shop mehr als einmal zu,
für jede*n zu Hause was passendes gefunden.
Vor dem Frankfurter Salon,
Kaffeehaus, Volksküche, Bühne
in der Braubachstraße,
erhole ich meine Sehnerven kurz
beim zweiten Milchkaffee.
„I’m So Happy
You Are Here“
steht auf dem Plakat,
das mir gegenüber am Eingang hängt.
In der ersten Etage des FFFM (Fotografie Forum Frankfurt)
erlaufe ich mir
mehr als 70 Jahre
Fotografie in Japan,
aber von Frauen.
Die Bilder sind so gut,
dass ich viel zu schnell
an ihnen vorbei laufe,
kaum fotografiere
und dann doch das Buch zur Ausstellung mitnehme,
für später mal.
Zurück zum Hotel
laufe ich über die Große Gallus Straße,
also quer durch
durch die Wolkenkratzer
des Banken- und Versicherungsblocks.
Die Klamotten sind etwas strenger,
die Scheitel etwas zackiger,
die Wangen etwas rasierter.
Aber auf Anzug und Krawatte
kann der Kapitalismus
Anfang Juli 2025
anscheinend schon verzichten.
Was sagt es übrigens über das Bankerviertel aus,
dass es sich direkt
an das Bahnhofsviertel anschließt?,
wenn aus der Großen Gallus
die Taunus Straße wird.
Das Rotlichtviertel im Bahnhofsviertel
besteht übrigens aus genau
zwei Straßen,
die sich genau da kreuzen,
wo mein Hotel steht;
aber das weiß ich erst seit gestern.
Gerade jetzt,
der spätere Nachmittag beginnt bald,
sind diese beiden Straßen
frisch aufgeräumt und durchgefegt,
die meisten Obdachlosen,
Junkies und anderen vom System nur anverdauten Menschen
sind freundlich zum Gehen aufgefordert worden
oder bereits vor einem Freitagabend geflohen,
im Hochsommer,
im Bahnhofsviertel
in Frankfurt am Main.
Im Waldstadion
beginnt der erste Freitag Abend
am 4. Juli 2025
(wir sind schon seit drei Tagen
näher an 2050 als an 2000)
bereits um ca. 16.20 Uhr.
Die „Grand National Tour“
hat sich zum Independence Day Weekend Double Doubleheader
in der ehemaligen US-Residenzstadt angekündigt,
knapp vier Stunden vor Beginn der ersten Show
beginnen sich die Ränge langsam zu füllen,
im Innenraum
und im „Golden Cirlcle“,
dem Vor- und Zwischenraum der Bühne
für den die Karten obzön teuer sind,
schließen sich die Lücken nur langsam,
weil in der gesamten Innenstadt
der Verkehr ins Stocken geraten ist.
Der Liter Cola kostet 16€,
Trinkwasser gibt es an spärlich verteilten Brunnen kostenlos.
Nach einer guten halben Stunde
intensiven Studiums
der umherlaufenden Bein- und Fußoutfits
bin ich mir sicher:
Ich trage als einzige*r offene Schlappen,
genauso wie als einziger ein Hemd.
Meinen Sitzplatz auf der Grabowski-Tribüne
habe ich auch schnell gefunden
und kann mich erstmal entsprechend entspannt
auf dem obersten Außendeck über das Geländer beugen
und weiter die nach innen strömenden Menschen studieren:
Immer noch niemand mit offenen Schuhen.
Es gibt nur zwei Möglichkeiten:
Sneaker und/oder (Cowboy-)Stiefel.
Bei gut 28°C.
Okay.
Die ganze Zeit über,
in der ich da so stehe und Leute gucke,
wandelt hinter mir ein Mädchen hin und her
und filmt sich selbst in der Abendsonne,
hin und her, hin und her,
auf ihrem Handy müssen dutzende gleiche Aufnahmen sein,
und dann und wann lässt sie sich von ihrer Mutter fotografieren;
Influencen ist harte Arbeit.
Auch als kurz nach Sieben
DJ Mustard sein Warmup Set beginnt,
läuft sie weiter hin und her,
die goldenen Stunden dauern noch an.
Im Innenraum wird jeder Hit der Szene abgefeiert,
als ob die Stimmung
nicht noch weiter angeheizt werden müsste.
Und dann wird es um viertel Neun,
(gleich nach der übergroßen Chanel Werbung)
so dunkel wie es im Waldstadion um diese Zeit nur werden kann:
Ein schwarzer Buick
wird mit einer Hebebühne
vor einer riesigen Leinwand platziert,
die Lyrics von „Wacced Out Murals“
schallen schon durch die Arena,
da sitzt Kendrick Lamar noch am Steuer.
Er braucht nur bis zum dritten Song,
und die Massen explodieren ein erstes Mal,
„King Kunta“ has arrived,
knapp 40.000 Menschen (und geschätzte 200kg Make Up)
sind am Bouncen,
was Waden, Arme und Nacken so hergeben.
Darunter auch ein Vater und sein Sohn,
die neben mir bouncen.
Papa versucht gar nicht erst sich zu beherrschen,
und Junior ist das ganze auch nur eine kurze Weile peinlich,
textsicherer ist er ohnehin.
Und außerdem ist gerade Setwechsel,
SZA findet den gleichen Weg auf die Bühne,
nur dass der Buick über und über mit Grün bewachsen ist,
„30 for 30“ macht mit Kendrick zusammen
auch noch mal mehr Sinn.
Und gerade noch
bevor der den dritten Akt
mit „Euphoria“ beginnt,
haben es auch drei Studentinnen
endlivh bis zu ihren Plätzen geschafft
und brauchen nicht lange,
um ihren Vibe wieder zu beleben.
So folgen in den nächsten noch gut zwei Stunden
noch sieben weitere Akte,
die aber auch wirklich alles abbrennen,
was sich in knapp drei Stunden abbrennen lässt,
und da habe ich die massive Pyrotechnik
und ungezählte Tüten
noch gar nicht erwähnt.
Eine Doppelshow
krass wie 400 Block Parties auf einmal,
Moshpits, Schweiß und Tränen
geben sich das Mikro in die Hand.
Und viel zu viele
legen ihr Handy gar nicht mehr aus der Hand;
die Visuals sind aber auch zu gut,
Compton liegt nun mal
nicht so weit von Hollywood entfernt.
Um ca. 16.20 Uhr am folgenden Samstag
sitze ich bereits im zweiten Zug,
nur zwei Stunden später als geplant,
aber dazu gleich.
Durch erneut geglücktes Pokern beim Masseneinstieg
auf Gleis 1 in Kassel-Wilhelmshöhe
habe ich sogar einen kleinen Tisch ergattert
in einem kleinen Großraumabteil
am Ende des RE9 nach Halle (Saale).
Mit mir sitzen hier noch 14 weitere Menschen
und ein wuscheliger Hund.
Sechs davon sind eine Familie,
Vater und Mutter sitzen sich schweigend gegenüber,
an der Schulter der ältesten Tochter
versucht der zweitjüngste Sohn gerade einzuschlafen,
seine beiden Brüder und seine große Schwester
sind mit ihren Schwarzen Spiegeln beschäftigt.
So wie noch vier andere im Abteil.
Meine Nachbarin zur rechten
kramt seit zehn Minuten
verzweifelt in ihrem großen Rucksack.
Neben ihr versucht eine der beiden anderen,
die keinen Bildschirm vor der Nase haben,
ihren nicht gut klingenden Husten zu unterdrücken.
Zwischen den Füßen der anderen
döst der Hund.
Wie sehr ich wieder „zurück“ bin
im richtigen Leben,
das hat mich der Bahnhof in Kassel Wilhemshöhe
auf die ihm ganz eigene Art wissen lassen.
Vorweg ein paar wichtige Besonderheiten des Bahnhofs:
Er hat ziemlich lange Bahnsteige
zumal für den Fernverkehr.
Er hat auffällig viele Zigarettenautomaten
und auffällig viele Bänke.
Es gibt sogar einen Raucherbereich
mit mehreren Bänken.
Ihr ahnt warum.
Die Hauptexistenzweise der Menschen
am Bahnhof Kassel Wilhelmshöhe
ist das Warten.
Und dass ich gerade das besonders gut gelernt habe,
beweist die Reihenfolge der Ereignisse:
Da ich eher als geplant
in Frankfurt am Main losgefahren bin,
das übrigens doch stinken kann,
und zwar nach einer Freitag Nacht,
habe ich mehr als 90 Minuten Wartezeit
auf den Anschlusszug zurück durch Thüringen
nach Sachsen-Anhalt.
Ich nehme am sonnigen Ende des Bahnsteigs Platz
(Abschnitt A)
und verhindere, dass meine Mate zu warm wird.
Ununterbrochen halten neben mir sehr lange ICE,
ungezählte Menschen steigen ein und aus.
Ein Zug hat gerade so viel Zeit,
dass die Frontscheibe mal gesäubert werden kann.
Ich schaue pünktlich auf die Anzeige,
aber kein Zug ist zu sehen.
In der nächsten Sekunde springt die Anzeige um,
mein Zug ist nicht aufgetaucht.
Beziehungsweise ist er aufgetaucht,
nur eben nicht in dem Abschnitt,
in dem ich gerade noch vom Waldstadion geträumt habe,
sondern nur in den Abschnitten E-F
(also am anderen Ende des Bahnsteigs).
Das muss ich mir von einem
Bahnmitarbeiter erklären lassen.
Der Zug hat also einfach die Fahrtrichtung gewechselt,
ohne dass ich auch nur die Chance hatte
ihn zu sehen.
Die nächsten zwei Stunden Leben vergehen
also weiter mit Warten
(und Schreiben).
Bevor ich dann drei Stunden später als geplant eingestiegen bin,
ist mir noch ein T-Shirt aufgefallen,
auf dem Bahnsteig gegenüber,
ein Echo aus einem anderen richtigen Leben,
in rot auf weiß: Gloria!
„Scared of forever,
you know nothin‘ else is gon‘ pass.
I just gotta let you know:
Whenever you want me,
you got me ‚til the end of time.
Ooh,
just gotta let you know.“
(Kendrick Lamar. 2024)
Gut,
und was fehlt jetzt noch
zu so einer richtigen Spezialepisode,
die sich mal so richtig Zeit nimmt
für das richtige Leben?
Genau,
nicht einfach nur irgendwas,
sondern irgendwas
mit einem Hund.
You’re Welcome.
Sascha und die Schaffnerin
(Hidden Story)
Der Brillenträger hatte nach nur drei Worten der Schaffnerin erkannt, dass auch sie mit diesem Zug nach Hause fahren würde. Beim Einsteigen grüßte sie die bereits sitzenden Fahrgäste freundlich urlaubsreif, stellte ihre Tasche auf einem der letzten Sitze am Zugende ab und verschwand dann wieder nach vorne. Als der Zug bereits losgefahren war, kam sie mit einer großen Frau im Schlepptau zurück. An einem der noch freien Plätze angekommen übernahm sie den Hund, damit sein Frauchen noch einmal umkehren konnte, um ihre schwere Tasche zu holen. Er blieb bei ihr als ob sie sich schon hundert Mal gesehen, gehört und gerochen hätten. Die älteste Tochter der Familie, die jetzt neben einem Hund saß, lachte ihn ebenfalls an. Und nur wenige Minuten nach denen alle im Abteil seinen Namen gehört hatten, schlief er ein, und der Zug rumpelte am Südharz entlang Richtung Nordhausen.

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