Bild: 100 Jahre Wilde Bode. (Karte und Markierungen: Stadtarchiv Quedlinburg/Hr. Hahn)
„Geht’s nur mir so,
oder schweigen wir
zu laut?“
(Von Wegen Lisbeth: Am wenigsten zu sagen. 2019)
Teil 1 – Schneeball 0
Der letzte Montag vor Weihnachten nahm in diesem Jahr den Zauber der stillen Tage in all seiner Schönheit einfach schon vorweg, als ob sich sogar das Wetter dachte: Irgend ein Zeichen der Hoffnung muss es doch noch geben! Wozu gab es denn alternative Dimensionen, wenn nicht dafür? Also hatte es über das vierte Adventswochenende geschneit wie in einem tiefwinterlichen Gebirgsrandroman. Die Stadt lag unter einer knöchelhohen Pulverschneedecke, Kinder wurden auf Schlitten durch die Gassen gezogen. Den ganzen Tag über rieselte es leise vor sich hin, und die Flocken glitzerten im Lichterschein des geschmückten Sequoias auf dem Weihnachtsmarktplatz.
Kurz nach dem Mittag warteten die vier Thalenserinnen am Ende der Steinbrücke auf die beiden Quedlinburger, die beide in beiden Händen Wegverpflegung hielten, Schmalzgebäck, kandierte Äpfel, gebrannte Mandeln und Zuckerwatte. Rosa und Violetta warfen sich vielsagende Blicke zu, machten sich zeitgleich von den Händen ihrer Mutter und Tante los und liefen ihrem Vater und dem Brillenträger lachend entgegen. „Sagt mal, eigentlich müssten wir doch gar nicht springen. Konnte ja keiner ahnen, dass es in diesem Jahr schon vor Weihnachten mal klappt.“ Der Buchträger gab den anderen schnell zu verstehen, dass ihm bewusst war, wie zu nahe liegend diese Bemerkung gewesen war. Karoline nahm Rosa wieder an die Hand. „Ja. Aber. Und außerdem wisst ihr noch nicht, was ich schon weiß.“ Violetta sah ihre Tante skeptisch an. „Noch mehr Weiß?“
„Ja, noch viel mehr! Vor hundert Jahren hatte es schon wochenlang geschneit, alles lag im tiefsten Winter. Was meint ihr, was damals rund um die Altenburg los war. Winterrodelwunderland!“ Die Mädchen klatschten aufgeregt in ihre Fäustlinge. „Wo springen wir?“
Eine halbe Stunde später kamen sie hundert Jahre früher aus den dichteren Bäumen des Stadtwalds. Überall waren Menschen auf Skiern oder Holzschlitten zu sehen, Familien, Pärchen, Cliquen. Schneebälle flogen weiter oben über den Wanderweg. Und trotzdem war es seltsam still. Als trauten die Menschen dem Frieden auch nach sieben Jahren immer noch nicht. Als ob die nächste Katastrophe nur eine Flussbiegung entfernt lag.
Nach mehr als zwei Stunden, in denen die Erwachsenen sich beim Wiederhochziehen der Schlitten abgewechselt hatten, waren die Mädchen zum Schneemannbauen übergegangen, wobei sie bereits erstaunlich gut ohne die Hilfe der anderen zurechtkamen. Karoline saß neben dem Brillenträger auf dem Schlitten, beide rauchten unauffällig und wärmten ihre Hände an warmen Kaffeetassen. Marie und der Buchträger saßen ihnen gegenüber und hörten den beiden schon seit einigen Minuten gespannt zu. Gerade fasste Karoline die in diesem Augenblick erst noch kommenden Ereignisse zusammen: „Niemand, wirklich niemand hatte damit gerechnet. Wir sind hier gerade die einzigen, die davon bereits wissen. Von unserem Heute aus betrachtet kann das Hochwasser 1925 ganz sicher als Vorbote nicht nur der Klimakatastrophe gesehen werden. Wer denkt daran, dass ausgerechnet hier, nur eine Woche nach so viel Winterweihnachtswunderland kurz mal die Welt untergeht, und zwar die ganz eigene, die vor der Haustür. … Und wo wir schon mal dabei sind: Meint ihr, wir schaffen noch einen Spaziergang?“
„Wir haben noch gute zwei Stunden Licht. Wo soll’s denn noch hingehen?“
Die beiden Quedlinburger sahen sich ratlos an, als sie eine halbe Stunde später an der letzten großen Flussbiegung der Bode standen, bevor diese geradewegs auf Quedlinburg zufließt. „Wo sind wir hier? Was ist das?“ Der Buchträger hatte zuerst begriffen: „Nein, nein. Was war das?“
Karoline hatte den schmalen Hefter bereits aus ihrem Rucksack geholt. „Bereit für noch eine kleine Geschichtsstunde?“ Sie stellten ihre Schlitten an der kleinen Flussuferpromenade vor der kleinen Ausflugsgaststätte ab, vor der ein paar Leute an ein paar Tischen saßen, die Beine in Wolldecken eingewickelt und vor sich Kaffee und hausgemachten Kuchen. „Aber ich muss euch vorwarnen, damals hatte ich ein ziemliches Schreibtief.“ Der Brillenträger horchte auf: „Ich glaube, ich erinnere mich. … Der Ort hier hatte sogar einen Namen. … Ach, ich komm nicht drauf. Siptenhort? … Bad Siptenhort?“ Karoline schüttelte amüsiert den Kopf. „Fast.“
22. Dezember
Schneeball 1
(Babylon Münzenberg 402)
Sogar der Schnee
vermag es nicht
mehr,
meine Stimmung aufzuhellen.
Zu lange schon
sind die Tage kürzer geworden,
und die längste Nacht
fühlt sich an
als gehe sie nie zu Ende.
Noch nie,
seit ich hier bin,
habe ich Wien mehr vermisst,
die Kleinstadt setzt mir zu
mit ihren engen, kalten Gassen
und ihrer gespielten Sorglosigkeit,
auf die ich nicht einmal mehr neidisch sein kann.
Als würde schon alles gut gehen.
Was sollte denn jetzt noch passieren?
Schlimmer als vor ein paar Jahren
kann es doch wohl nicht werden.
Ich solle das Weihnachtsfest
mal nicht unterbewerten.
Immer öfter antworte ich nicht mal mehr,
wenn die Menschen im Laden
mir schon mal vorsorglich ein frohes Neues wünschen.
Als ob die letzten Wochen und Monate
nicht passiert wären.
Keiner spricht mehr
als er muss
über den Zustand der Reichsregierung.
Oder die Räumung von Köln.
Oder über Locarno.
Immerhin
mehr gute als schlechte Nachrichten.
Wer nichts sagt,
hat genug gelobt.
Sehen sie nicht kommen,
was nicht zu übersehen ist?
Oder bin ich nur
die armselige Kassandra geworden,
die ich nie werden wollte?
Ein halbes Jahr nach Erscheinen
dieses Machwerks
müssten doch genug Leute
Bescheid darüber wissen,
was passieren wird,
wenn wir es nicht rechtzeitig verhindern.
In einem Jahr
soll bereits der zweite Teil erscheinen,
und sogar hier in der Provinz
wird schon ganz offen danach gefragt.
Nicht mal ein Jahr nach der Neugründung
seiner unsäglichen „Partei“
hat der „Volkskanzler“
die Aufmerksamkeit der Zeitungen
und somit das Ohr der Masse
wieder für sich.
Und womit?
Mit Hass, Hetze und roher Gewalt.
Das wird sich nicht durchsetzen?
Dass ich nicht lache,
das wird sich genauso schnell durchsetzen
wie es das immer tut,
wenn die Not nur groß genug ist.
Und der GDJB
will sich im nächsten Sommer umbenennen:
Hitlerjugend.
Meine Besorgnis war selten größer.
Aber mir bleibt nichts weiter
als ebenfalls einzustimmen
in den scheinheiligen Gesang
der Kirchenchöre ringsumher.
Ich packe Geschenke ein,
ich backe Plätzchen,
ich putze den Baum,
ich summe Weihnachtslieder,
wenn ich im Laden die Bücher abstaube.
Und ich gehe spazieren.
Immer öfter wünsche ich mir dabei
einen Hund,
dem ich das alles erzählen könnte,
ohne eine resignierte Antwort zu bekommen;
wirkliche Freunde habe ich im Winter kaum
und damit bin ich nicht allein.
Wie in jedem Winter
stelle ich mir dabei den Sommer vor:
Ich spaziere die Bode hinauf,
durch den voll ergrünten Brühl,
der Bärlauch ist sein Wochen verblüht,
ich laufe die Chaussee entlang,
links neben mir spielen Hunde auf der großen Wiese.
Unter der Schafsbrücke
plantschen Kinder in der sanften Strömung,
und ich biege nach rechts ab.
Bis zum Sommerbad sind es nur noch wenige Minuten,
über die Brücke eilen andere Badegäste
auf die große Flussbiegung zu,
wo Eiskaffee und Schatten auf sie warten.
Nur vor dem nächsten Sommer,
und vor denen danach,
fürchte ich mich.
So sehr,
dass ich heute lieber Schneebälle geformt habe;
ein ganzes Munitionslager Pazifismus
wartet hinter dem Schuppen
auf Bad Dippenword.
Karoline saß noch einige Minuten alleine auf dem Schlitten. Der Brillenträger und die anderen spielten am Flussufer, die Mädchen warfen Schneebälle in die sich biegende Strömung. Vor hundert Jahren hatte sie sich direkt nach dem Schreiben dieses Textes für nur wenige Stunden hingelegt und war dann doch noch spontan zum Bahnhof gegangen, um am nächsten Morgen in Wien anzukommen, wo sie bis kurz nach Weihnachten geblieben war, bevor sie beinahe beseelt wieder zurückkehrte. Ihrer Familie ging es noch gut und auch ein paar alte Freunde hatte sie noch getroffen. Die Stimmung war jedoch wie überall, wo nicht aktiv weggeschaut wurde oder gar schlimmeres. Was aber dann geschehen war, hatte ihre gesamte Aufmerksamkeit gefesselt und sie bereute es auch hundert Jahre später noch, den Roman über diesen Vorboten der Katastrophe nie begonnen zu haben. Bis diesen Text und einige Notizen und Zeitungsberichte war der Hefter zum Hochwasser 1925 leer. Denn sie konnte die Ereignisse jederzeit heraufbeschwören, ohne auch nur nachlesen zu müssen. Jahrhundertkatastrophen tragen ihren Namen mit gutem Grund:
Kurz nach dem Weihnachtsfest überschlagen sich die Meldungen über eine akute Hochwassergefahr. In allen Zeitungen. In ganz Europa. Kurz vorm Jahreswechsel rollt auch nördlich der Alpen eine ungewöhnliche Wärmewelle über den Kontinent, die zudem begleitet wird von ungewöhnlich starken Niederschlägen. Die Flüsse halten der rapiden Schneeschmelze und dem massiven Regen nicht lange Stand und treten massenweise über die Ufer. Rhein, Mosel und Donau, sowie sämtliche Zuflüsse überschwemmen ganze Länder. Die erste große Schreckensmeldung kommt aus Siebenbürgen, in Klausenburg sterben mehr als achtzig Menschen in den Fluten. Am 29. Dezember erreicht dieses Wetter auch den Harz und Quedlinburg, auf dem Brocken liegen zu diesem Zeitpunkt 130 Zentimeter Schnee bei 3°C und Sonnenschein. Die nächsten Tage sollen „mild, trübe und regnerisch“ werden, so steht es im Quedlinburger Kreisblatt. Am nächsten Tag tritt der Rhein in Köln über die Ufer, die Mosel in Koblenz. Die Katastrophe hat nicht nur Deutschland erreicht, Hochwasser in London, Brüssel, Paris, Warschau, Bukarest und Budapest: „Das fruchtbare Komitat Bekes an der ungarisch-rumänischen Grenze ist in den Weihnachtstagen von der größten Überschwemmungskatastrophe heimgesucht worden, die Europa in den letzten 30 Jahren erlebt hat. Das Dorf Vesztö, das sich unmittelbar an der Überschwemmungsstelle befindet, ist vollkommen vernichtet. Das Wasser steht hier so hoch, dass die Häuser vollkommen unter Wasser sind und nur der Kirchturm und einige hohe Hausdächer aus dem Wasser ragen. In den einsamen Pustagehöften, deren Einwohner von der Flut im Schlafe überrascht worden sind, dürften viele im Wasser umgekommen sein. Der Schaden ist ungeheuer. Hunderte von Häusern sind in den überschwemmten Dörfern bereits eingestürzt. Die Verbindungen nach Rumänien sind vollkommen unterbrochen. Die Telefon- und Telegraphenleitungen sind unbrauchbar. Auf den Eisenbahnstationen stehen überall Sonderzüge bereit.“ – „Die Schreckensnachrichten von der Hochwasserkatastrophe an der rumänischen Grenze werden immer erschütternder. Der weiße, der schwarze und der stille Körös haben über 200 Hektar Land überschwemmt. Die Katastrophe hat über 100 Menschenleben gefordert. Tausende Stück Vieh kamen in den Fluten um. Nach Bukarest verkehrt keine Bahn mehr, da zahlreiche Eisenbahnbrücken von den Fluten zerstört wurden. Der von der Regierung eingesetzte Kommissar hat über das heimgesuchte Gebiet das Standrecht verhängt.“ – Bukarest, 29. Dezember: „Die Überschwemmungen in Siebenbürgen dauern an und verursachen außerordentlichen Schaden. Zahlreiche Truppen sind an die Unglückstellen gesandt worden. Man verwendet Artillerie, um die Brücken von den verstopften Eismassen zu befreien.“
Den Bericht vom darauf folgenden Tag in Quedlinburg überfliegt Karoline nur flüchtig, während sie die letzte Zigarette raucht, bevor die Mädchen nach Hause wollen, nicht ohne dabei festzustellen, dass Liveticker anscheinend auch vor hundert Jahren schon ein untrügliches Zeichen für großes Unheil waren:
Quedlinburger Kreisblatt, 30. Dezember. „Hochwasser. (Die) Untere Bode, die im Sommer so gemächlich dahin plätschert, hat sich infolge der plötzlichen Schneeschmelze im Harz in einen reißenden Gebirgsstrom verwandelt. Wer heute in den frühen Morgenstunden die Bahnhofs- oder Oeringer Brücke überschritt, dem fiel der außerordentlich hohe Wasserstand und die große Geschwindigkeit der enormen Wassermengen auf, die sich zu Tal wälzten. Seitdem ist das Wasser im Bodelauf erheblich gestiegen und es ist bei der Indruckgabe dieser Zeilen noch beständig im Steigen begriffen. Gegen 9¾ Uhr vormittags wies der Pegel an der Oeringer Brücke einen Wasserstand von 1,90 Meter auf, hatte sich jedoch bereits ¼ Stunde später auf 2 Meter erhöht. An der Bahnhofsbrücke reichte der Wasserspiegel um diese Zeit etwa 70 Zentimeter unterhalb der Brückenbogen. Ein Gang bodeaufwärts ließ den bedeutenden Umfang des Hochwassers aber erst richtig erkennen. Waren schon zwischen der Bahnhofsbrücke und dem sogenannten „Itchensteg“ die Flußufer soweit unter Wasser gesetzt, dass Bäume und Sträucher ziemlich hoch umspült wurden, und die am „Itchensteg“ befindliche Einfahrt in das Bodebett bis an den Ausläufer der Bismarckstraße in Wasser getaucht, so bildete die Stelle am Wasserwerk bereits einen breiten Strom, der von der sonst dort sichtbaren kleinen Insel nichts mehr entdecken ließ. Über die unmittelbar am Bodeufer entlangführenden Wege leckte um diese Zeit bereits das Wasser, ebenso wie über einen Teil des an der Turnstraße gelegenen Turnplatzes und den großen Restaurationsgarten des Brühlrestaurants. Ein Teil der Wegstrecke war um diese Zeit bereits unpassierbar. Auch die Tennisplätze im Brühl zeigten schon hier und da Wasserlachen. Die große Wiese von Bäntsch war ein einziger großer Teich, durch den sprudelnd und rauschend der Bodefluss hindurchströmte. Hinter der bäntschschen Wiese verengte sich das Bodebett wiederum, doch betrug die Breite des Bodelaufs immerhin circa 30-35 Meter. Diese Breite hat die Bode etwa bis Dippenword. Wie uns um diese Zeit aus Neinstedt und auch aus Thale gemeldet wurde, ist die Bode in den dortigen Feldmarken aus ihren Ufern getreten und hat weite Flächen überschwemmt. Wer von den zahlreichen, um diese Zeit im brühl befindlichen Schaulustigen, seinen Rückweg an den Tennisplätzen vorbei antreten wollte, dem war etwa eine halbe Stunde später der Weg abgeschnitten, denn das Wasser war inzwischen derart gestiegen, dass es die in der Nähe liegenden Weg bereits überflutete. Um ½11 Uhr war der Wasserstand kaum mehr 25 Zentimeter niedriger, als bei dem Hochwasser vom 12. Januar 1920, als bekanntlich die Wasserhöhe ein Plus von 1,22 Meter des normalen Standes erreichte. – Um 11.45 Uhr erhalten wir aus Weddersleben die telephonische Nachricht, dass das Hochwasser auch dort bereits einen bedrohlichen Umfang angenommen hat, so dass die Feuerwehr mit Pumparbeiten eingreifen musste. In Quedlinburg hat das Wasser um 11.45 Uhr bereits einen Teil der Turnstraße überschwemmt, die an dieser Stelle ungangbar geworden ist. Die dortigen Gärten stehen vollkommen unter Wasser; auch hier ist die Feuerwehr fieberhaft tätig. Die uns auf telephonischen Anruf erteilten Auskünfte der Firmen Bienert und Kratzenstein lassen den Umfang des Hochwassers sehr bedenklich erscheinen. Die Halberstadt-Blankenburger Eisenbahn teilt uns auf Anfrage mit, dass, falls das Wasser noch um 30 Zentimeter steigen sollte, der betrieb auf einer Teilstrecke eingestellt werden müsse. Infolge eines Dammbruchs zwischen Neinstedt und Weddersleben ist die Papierfabrik Keferstein(?) zur Stunde ebenfalls stark gefährdet. Aus allen vorliegenden Meldungen kann der Schluss gezogen werden, dass das Hochwasser um 12 Uhr mittags bereits höher ist, als am 12. Januar 1920. Hoffentlich sind die riesigen Wassermengen im Harz erschöpft, ehe die Überschwemmung noch bedrohlichere Formen annimmt. Besonders bodeabwärts muss sich Hochwasser bedenklich auswirken, da dort das Bodebett weitaus flacher ist als bei uns. Stand des Hochwassers um 12½ Uhr nachmittags: der größte Teil des Brühls ist überschwemmt. Ein Zugang zum Brühl ist nur noch von der Brühlstraße aus möglich, während der Weg vor dem Brechtdenkmal unter Wasser steht. Der Hauptweg im Brühl ist zur Zeit noch passierbar. In Dippenword ist man beim Bau von Notdämmen. Stand des Hochwassers um 12¾ Uhr: der rechts vom Hauptweg befindliche Teil des Brühls ist überschwemmt. Das Mühlgrabenwehr am Wasserwerk ist überflutet. Das Bodewasser trat durch den Kanal im niedrig gelegenen Teil des Neuen Weges aus, überschwemmte den Neuen Weg in voller Breite und versperrte den Eingang zum Dippeschen Gehöft. Eine große Menschenmenge verfolgt das Steigen des Hochwassers. – Wie uns kurz vor Redaktionsschluss noch gemeldet wird, ist die gesamte Feuerwehr zur Hilfeleistung auf Bad Dippenword alarmiert.“
Teil 2 – Schneeball 2
Zwei kleine Schneebälle zerplatzten neben Karoline an den Hörnern des Schlittens und rissen sie aus ihren Erinnerungen, die für alle anderen um sie herum noch in der Zukunft lagen, abgesehen von denen, die sie gerade beworfen hatten. Rosa rief sie zu sich ans Ufer. Marie begrüßte sie mit einem Treffer am linken Knie. „Na, wieder aufgetaucht? Was ist denn hier nun genau passiert? Ich kannte die Stelle selbst in hundert Jahren noch nicht.“ Karoline blickte wehmütig über das ruhig dahinfließende Wasser und dachte ein letztes Mal an den vorletzten letzten Sommer. Wie sie sich von der Bode um die Biegung hatte tragen lassen, bevor sie ihr Herz hier vergrub. „Das erzähle ich euch auf dem Rückweg. Am besten wir springen gleich, bevor das Licht ganz weg ist. Vielleicht nur noch ein kleines Stück die Bode hinauf. Keine Beobachter.“
Hundert Jahre später überquerten sie erneut die Schafsbrücke, und bogen nach rechts ab auf die hohen Bäume zu, die Mädchen saßen ruhig auf den Schlitten und beobachteten den Schnee dabei, wie er im letzten Abendlicht anfing zu schmelzen; im Laufe des Tages war es unerwartet warm geworden.
Karoline hatte gerade noch davon erzählt, wie auch sie zum Jahreswechsel 1925/26 immer öfter die Familien gesehen hatte, von denen in den Zeitungen berichtet wurde. Die Obdachlosigkeit hatte sogar in Thale solche Ausmaße angenommen, dass ganze Kommunen wie Nomaden durch die Gegend zogen, auf der Suche nach Schutz vor der Kälte. Nicht wenige davon hatten ihr Lager auch im Brühl aufgeschlagen. Jetzt hielt sie einen kleinen Zeitungsausschnitt in der Hand und blieb kurz stehen, um den anderen vorzulesen: „Und ja, der Text ist hundert Jahre alt. Mal sehen, wer den Unterschied zu heute bemerkt. Oder eben nicht. – Beilage zum Quedlinburger Kreisblatt, 2. Januar 1926. Das Schicksal aber bedient sich manchmal harter Maßnahmen, die Menschen zum Nachdenken und auch zu der Dankbarkeit zu bringen, die er(sic) dem Lenker aller Lebenswege schuldet. Oft aber scheint es in unserer im Übermaß auf Unterhaltung und Vergnügen gerichteten Zeit auch, als sei den Menschen nicht anders beizukommen als durch tieferschütternde Ereignisse, die alles und alle mit sich zu reißen drohen, wie sie vor allem in entfesselten Naturgewalten uns begegnen.“ Der Brillenträger kratzte sich an der Stirn: „Himmel, wie schlimm ist es denn noch geworden?“ Auch die Mädchen waren auf ihren Schlitten wieder hellwach. Karoline ging voran. „Es hätte deutlich schlimmer kommen können. So weit ich bis heute weiß, gab es keine Todesopfer, auch wenn es wohl einige Male sehr knapp gewesen sein muss. Am Nachmittag des 30. war es für die meisten noch lustig genug, um sich die steigende Flut persönlich anzuschauen. Auf der Oeringer Brücke standen noch Menschen als die Gischt schon über die Fahrbahn spritzte. Am Abend dann lachte aber niemand mehr. Im neuen Jahr stand in den Zeitungen über Quedlinburg das gleiche wie über so viele Städte in den letzten Tagen. Am Abend war die Bode im Brühl bald 25 Meter breit. Um acht Uhr erreichte die Flut vom Word aus den Markt. Gegen neun Uhr standen so gut wie alle Keller in der Innenstadt unter Wasser, der Kleers war ein großer See. Mit der Nacht kam auch noch der Sturm, die Wellen an der Schafsbrücke sind meterhoch, bevor sie von ihnen mitgerissen wird. Zwei Menschen sollen dabei richtig Glück gehabt haben. Noch vor Mitternacht wird mit der Räumung einiger Teile der Innenstadt begonnen, die Menschen im Neuen Weg müssen sich ein höher gelegenes Nachtquartier suchen, das Erdgeschoss der Mummentalschule wir ebenfalls komplett geräumt, es wird versucht, so viel ins neue Jahr zu retten wie nur irgend möglich. Sämtliche Hoftiere der Stadt stehen die ganze Nacht bis zum Hals im Wasser. Kurz nach Mitternacht bricht die Bahnhofsbrücke unter Last der angeschwemmten Bäume zusammen, und wieder gibt es dabei keine Opfer. Auch die Menschen, die immer noch Brühlwärterhäuschen eingeschlossen waren als die Pegel ab drei Uhr nachts wieder fielen, überstanden die Katastrophe, vom Sachschaden mal abgesehen.“ Karoline blieb stehen, denn sie hatten eben genau dieses Brühlwärterhäuschen gerade erreicht. „Mit den Aufräumarbeiten konnten wir erst fünf Tage später beginnen, erst dann gab es deutschlandweite Entwarnung.“
„Und was war mit dem Laden?“, der Buchträger kannte seinen Einsatz. „Der Laden? Na ja, wir sind mit ein paar feuchten Bänden davon gekommen; nichts was ich vermisst hätte.“
„Und Bad Dippenword?“
„Das vermisse ich seitdem. Jeden einzelnen Sommer.“
Am letzten Abend vor Weihnachten saß der Brillenträger in seiner Küche und passte auf, dass das Gulasch nicht zu früh anschmorte, für den ersten Weihnachtstag hatte er die anderen zu sich eingeladen. Nebenbei suchte er mit seinem Notebook nach einer Antwort auf die Frage, die ihm der Buchträger vor guten drei Stunden gestellt hatte: „Warum hatte es auch 1925 noch keinen Damm oberhalb des Bodetals gegeben, obwohl doch schon seit 1891 genau dieser Damm gefordert und geplant worden war? Bad Dippenword könnte heute noch existieren.“ Bevor er das Gulasch ein vorletztes Mal umrühren wollte, schrieb er zurück: „Es kommt noch schlimmer: Gebaut wurde die Rappbodetalsperre sogar erst ab 1952, fertiggestellt erst sieben Jahre später.“ Die Antwort zog einen ausufernden Nachrichtenwechsel nach sich: „Wie viel verzerrte Analogie kann so eine Geschichte eigentlich noch aushalten?“
„Rede! Hätte irgendjemand daraus einen Roman gemacht, hätte er sogar die berühmte Kästner-Metapher noch eingeholt.“
„Oh, wieder ganz bescheiden heute, was?“
„Im Ernst. Mehr als dreißig Jahre vorher die Gefahr sehen, und mehr als dreißig Jahre später erst die Konsequenz ziehen. Sounds pretty german to me.“
„Stimmt schon. Und „braune Fluten“ passen auch ganz gut. Anyways, welches Kästner-Zitat überhaupt?“
„Dein Ernst?“
„Ja?“
„Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens(!) 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat. Das ist der Schluss, den wir aus unseren Erfahrungen ziehen müssen: Drohende Diktaturen lassen sich nur bekämpfen, ehe sie die Macht übernommen haben.“
(Erich Kästner. 10. Mai 1958)
„Ach das! Wenn wir doch bloß wüssten, dass die Jahreszahlen auch wirklich analog funktionieren, dann hätten wir noch knapp drei Jahre Zeit.“
„Wofür?“
„Hast du Die letzte Anstalt schon gesehen?“
„Nein.“
„Okay. Sogar die haben jetzt endgültig und eindeutig eine Seite der Geschichte gewählt.“
„Ich komm immer noch nicht drauf?“
„Partei. Verbot. Verfahren.“
„Haben sie das? Und haben sie dabei wenigstens gleich auch an das Schicksal derer erinnert, die vor hundert Jahren auf der gleichen Seite standen? Keine zehn Jahre später stand da fast niemand mehr. Außer Kästner vielleicht.“
„Ja. Aber.“
„Eben.“
„Aber was sagen denn deine Schattenmonster dazu?“
„Till und Konsorten?“
„Eben die.“
„Das willst du nicht wissen.“
„Doch. Will ich.“
„Na die sind weiterhin am Feiern und Geschehenlassen. Die können selber kaum glauben, wie weit sie dem Zeitplan voraus sind.“
„Glaub ich.“
„Besonders wie die Neugründung der Parteijugend abgelaufen ist, hat für große Zuversicht bei der Parteispitze gesorgt.“
„Ah ja, „Parteijugend“. Verstehe. 85% lonesome Incels. Und es heißt Parteiführung.“
„Mir egal, wie das heißt. Till meint auch, Kalle Hohn ist der richtige Mann.“
„Der Brandenburger?“
„Eben der.“
„Aber haben sich nicht alle über diesen Eichwald mokiert?“
„Sollten sie ja auch. Sagt Till. Kalle jedenfalls ist ein ganz sauberer Fascho. Bestens vernetzt mit dem Casa Pound, den Identitären, und sogar mit der Revolte Rheinland. Wahrscheinlich auch noch mit anderen Revolten. Kalle will „kontrolliert rebellisch sein“, wie es sich für einen jungen Sturmbannführer gehört.“
„Vorsicht, nicht mehr reinlesen als da ist.“
„Wie meinen?“
„Na, wer als „Generation Deutschland“ so dumm ist, sich diesen Namen nicht schützen zu lassen, mit dem kann’s nicht allzu weit her sein.“
„Für 40% könnte es reichen.“
„Meinst du? Trotz Höcke?“
„Wegen Höcke?“
„Nee. Ey, der erfindet im Thüringer Landtag einfach mal so einen Schuldstolz. Aus welchem Stroh ist der Mann gemacht?“
„Das spielt auf Social Media aber keine Rolle. Checkst du?“
„Kannst du das mit der Jugendspracheparodie bitte lassen? Das scheint mir doch stark unangemessen.“
„Six-Seven my ass! Till meint übrigens auch, dass es eine super Idee von Frohmeyer war, zum MAGA-Treffen in die USA zu reisen, um sich von denen einen Preis verleihen zu lassen.“
„Faschismus geht auch transatlantisch.“
„Sagt Till?“
„Sagt Orwell.“
„Also kommt die Flut tatsächlich?“
„Letzter Deutschlandtrend sagt: Ja.“
„Und wieso zögern wir wieder?“
„Weil Schweigen und Beobachten bequemer ist?“
„Oder unauffälliger.“
„Ja, vielleicht werden wir ja doch noch verschont.“
„Von der Flut?“
„Das hast du jetzt geschrieben. … Ich kümmer mich mal wieder um mein Gulasch und die letzten Geschenke.“
„Mach das. Bis morgen.“
„So viel Heimlichkeit, … „
Karoline saß am nächsten Morgen als erste unter dem Baum in Thale und kämpfte mit der Lichterkette. Auch sie freute sich auf die beginnenden Feiertage. Die stillen Tage, wie sie diese für sich selbst immer noch nannte. Denn auch wenn die Welt nie still stand und jeder Tag weiterhin neue Nachrichten mit sich brachte, die auf das Gegenteil hindeuteten, hatte die Weihnachtszeit bis heute überdauert, egal welche Seite gerade gegen sie Krieg führte. Vor hundert Jahren war ihr diese Gewissheit schon einmal begegnet und sie hatte sich deren Trost zum ersten Mal seit vielen Jahren wirklich hingegeben. Wie schön die Tage dann waren. Wie unbeschwert und sorgenfrei. Alles ging seinen gewohnten Lauf, die nächste neue Zeitung erschien erst in ein paar Tagen. Die Zeit verlangsamte sich. Wenn sie schon nicht stehen bleiben konnte. Karoline graute beim ersten Gedanken daran, wie oft dieser Trost sie in den dann folgenden Jahren immer wieder enttäuscht hatte, die Katastrophe hatte gerade erst wieder begonnen, seine nächsten Anfänge zu finden. Damals konnte sie nur ahnen. Heute wusste sie, dass auch das Wissen darüber nicht ausgereicht hätte. Lawinen oder Fluten, beides hält nichts und niemand auf, sobald es zu spät dafür ist.
Als die Mädchen ins Wohnzimmer kamen, hatte sie die fertig angehängte Lichterkette gerade wieder ausgemacht. „Na ihr? Bis heute Abend müsst ihr noch warten. Schafft ihr das?“ Violetta und Rosa zogen beide die Augenbrauen zusammen, sagten aber nichts. „Sehr gut. Vorfreude muss trainiert werden.“ Sie warf einen letzten Blick auf den Baum und rief dann: „Marie? Der Baum könnte noch ein paar Kugeln gebrauchen. Meinst du, die Mädchen schaffen das allein?“ Aber da hatte Violetta schon die erste Kugel in der Hand und gab sie Rosa, die zielsicher den größten Ast auswählte.
In der letzten hellen Stunde des Tages saß Karoline dann erneut an der Flussbiegung kurz vor der Schafsbrücke. Die letzten Schneereste harrten unter den Bäumen am Ufer aus. Wäre ihr Leben ein Zeitreiseroman, der es mit der Physik nicht allzu genau nimmt, hätte sie sich hier und jetzt selbst begegnen müssen. Kurz bevor sie nach Wien aufgebrochen war, war sie ein letztes Mal hierher gekommen, wie um Abschied zu nehmen. Niemand war in diesen frühen Morgenstunden hier gewesen, die Bode floss fast flüsternd durch den Schnee. Vielleicht hatte sie sich aber auch nur knapp selbst verpasst, denn zu ihrem Weihnachtsritual gehörte von je her, an den stillen Tagen so wenig wie möglich auf die Uhr zu schauen.
Im letzten Licht des Heiligen Abends schrieb sie die letzten Karten, die für die anderen. Auf jeder fand sie einen neuen Anfang, nur das Ende beließ sie immer gleich: „Und ich werfe die letzten Schneebälle ins tauwarme Wasser. Mit liebsten Grüßen von der Biegung des Flusses!“
P.S.
An dieser Stelle ein großes Dankeschön an das Stadtarchiv Quedlinburg und besonders an Herrn Hahn für Zeit und Insight.

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