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Attack on Memory (S9a:Ep1) (Teil 1)

von | 2023 | 27. April | Die Serie, Staffel 9a - Little Oblivions

 

„Die Objektivierung der Zeit hat sich insofern auf die Literatur ausgewirkt, als es uns daher normal und unkompliziert vorkommt, uns Ereignisse, die (vorläufig) nicht zusammenhängen, als Vorgänge im selben Erzählungszeitraum vorzustellen. Die Leser*innen werden dadurch zu allwissenden Beobachter*innen, die imstande sind, diese sich unabhängig entfaltenden Ereignisreihen zusammenzuhalten.“

(Charles Taylor: Quellen des Selbst. 1994)

 

 

Stereo Mind Game

 

„Don’t you understand?
Your mind is not your friend (again).
It takes you by the hand
and leaves you nowhere.“

(The National: Your mind is not your friend. 2023)

 

 

Here. We. Are.
Again.
Zum achten Mal
spannen #DieDoppeltenZwanziger
die Bögen für einen neuen Abschnitt.
Und sie stehen dabei,
wie jedes Mal,
wieder vor dem Problem
des immer noch steigenden Selbstanspruchs.
Vor dem Verlangen danach,
noch mal einen drauf zu setzen.
Noch besser zu werden.
Noch vielseitiger.
Noch deeper.
Noch reflektierter.
Noch literarischer.
Noch lesenswerter.
Jedes Mal, wenn ich mich
an die ersten Staffeln zurück erinnere,
kann ich mir zumindest einreden,
dass mir das bis hierhin jedes Mal gelungen ist.
Zumindest aus meiner Sicht,
aber immerhin
bin ich mein kritischster Leser.
Mit jeder neuen Staffel
wächst aber auch die Furcht,
an diesem Anspruch zu scheitern
und einfach nur ein Plateau erreicht zu haben,
von dem aus es dann
irgendwie,
irgendwann
nur wieder abwärts geht,
und der Traum vom Schlüsselwerk
der deutschsprachigen Post-Postmoderne
sich letztendlich doch noch
als die midlife-crisis Lachnummer herausstellt,
die sie niemals werden wollte.

Denn vielleicht
war es doch keine so gute Idee,
sich vom Zeitgeist
an die Hand nehmen zu lassen,
um etwas von Bedeutung
schreiben zu können.
Das ist natürlich
einzig und allein
die Schuld des Zeitgeits,
aber meinem Geist
geht der Zeitgeist immer mehr
auf die unangenehme Weise
auf den Geist.
So sehr, dass ich inzwischen
auch geistlose Wortspiele durchgehen lasse,
solange sie noch einen Funken
Wahrheit in sich tragen.

Das haben #DieDoppeltenZwanziger
also nun davon:
Abgestellt,
irgendwo im literarischen Nirgendwo,
fragen sie sich fortlaufend,
woher sie eigentlich kommen
und wohin die Reise denn noch gehen könnte,
während sie weiter und immer weiter
die Ereignisse zusammenreihen,
immer in der Hoffnung,
wenigstens ihre eigene Selbstnarration
noch glauben zu können,
ohne dabei den Faden zu verlieren.
Oder, wie ein Deutschlehrer
kürzlich einer achten Klasse nahebringen wollte:
Erinnerungen sind das,
was uns zu den Menschen macht,
die wir sind und werden können.
Also etwas, dass es absolut zu beschützen gilt,
ohne Kompromisse.
Und wobei es vor allem darauf ankommt,
die guten von den schlechten zu unterscheiden,
und die guten noch wachsamer zu behüten.
Um die Gegenwart zu überstehen,
indem wir aus der Vergangenheit
Hoffnung für die Zukunft
schöpfen können.

Oder, wie es eines
der beliebtesten Tiere des heutigen Cyperspace
damals (noch in Stereo)
im Mondschein gejault hat:

 

„Daylight,
I must wait for the sunrise.
I must think of a new life.
And I mustn’t give in.
When the dawn comes,
tonight will be a memory too
and a new day will begin.“

(Andrew Lloyd Webber: Memory. 1981)

 

Die vergangenen Wochenenden
waren genauso lang,
wie ich es erwartet hatte,
auch weil jeder neue Tag
länger als der vergangene war,
und dennoch hat es sich erneut gut angefühlt,
den in- und externen Erinnerungsspeicher
mal wieder nicht noch weiter zu überlasten.
Naturgemäß habe ich dabei auch wieder darüber nachgedacht,
doch noch mal den Rhythmus dieser Chronik zu ändern,
Work-Life-Art-Balance und so.
Aber, ebenfalls naturgemäß,
wird daraus wohl auch in Zukunft nichts,
denn die Erinnerungslücken würden einfach zu groß.
Die Schreibpause hatte ja aber auch
noch andere, wichtigere Gründe.
Zu den Abiturprüfungen
schreibe ich allerdings in diesem Jahr nichts,
weil mein Fokus in diesem Jahr
auf den Realschulabschlussprüfungen lag.
Einige werden sich erinnern:
Gerade so 16 sein
und dann innerhalb von drei Tagen
die berufliche Zukunft zementieren müssen.
Aber uns älteren sei versichert:
Wir hatten es, natürlich, deutlich schwerer!!1!
Also mal abgesehen von
Klimakatastrophe,
Jahrhundertpandemie
Krieg,
Digitalem Meltdown,
Inflation
und Demokratieverfall.
Die diesjährigen Prüfungen in Deutsch jedenfalls
hatten die folgenden Themen:
„Großstadtstress“
und
„Gutes Tun“.
Klingt nicht schwer.
War es auch nicht;
für eine Eins musste schüler*in
sich allerdings schon ganz schön strecken.
Immerhin standen Schiller,
ein Podcast,
ein Gedicht der Moderne
und ein humanitärer Zeitungsbeitrag
zur Auswahl.
Die Szene aus „Kabale und Liebe“
hätte genau so
auch Gegenstand der Abiprüfung sein können
(nur die Aufgabenstellung wäre halt komplexer gewesen):
In Akt Zwei, Szene Zwei
entdeckt Lady Milford
mal kurz ihre Mitmenschlichkeit;
immerhin nichts so ganz Selbstverständliches mehr.
Schön, dass die Erinnerung daran
wenigstens in Prüfungen noch aufrechterhalten wird.
Der Rest war nicht ohne Anspruch,
aber mit ein bisschen Grips absolut zu bewältigen.
Insgesamt also absolut der Situation angemessen.
Dementsprechend erfreulich war das Korrigieren.
Und ausgerechnet dabei
hat mal kurz der Weltuntergang wieder angeklopft:
An einem Dienstag Abend
kam es in der gesamten Quedlinburger Innenstadt
zum ersten größeren Stromausfall seit langer Zeit.
Ohne Ankündigung
und genau zum Sonnenuntergang.
Wie selbstverständlich Licht doch ist.
Also saß ich ungefähr eine knappe halbe Stunde bei Kerzenlicht
und blinzelte mich durch die Deutschprüfungen.
In NRW allerdings war das Chaos schon deutlich größer,
denn da musste das Matheabitur
kurzfrustig um zwei Tage verschoben werden.
Der Grund?
Ein Fehler im Download.
Digital first, Prüfungsbedingungen second.
Hier im modernen Sachsen-Anhalt
gab es noch ganz altbackene Druckfehler.

Kurz vor den Prüfungen
hat übrigens noch einer
von Deutschlands unfreiwilligen Hobbypädagogen
einen richtigen Bolzen ins Internet geschissen.
Die Rede ist von Rezo (Youtuber),
aber diesen Rant hebe ich mir noch auf,
für nach den Prüfungen.
Offensichtlich aber
hat Rezos Ringlicht
ihm auch noch die letzten Erinnerungen
an ein Verantwortungsbewusstsein weggebrutzelt.
Na ja, Hauptsache,
wir haben alle was zu tun.

 

„Angenehm ist am Gegenwärtigen die Tätigkeit,
am Künftigen die Hoffnung
und am Vergangenen die Erinnerung.“

(Aristoteles. v.Chr.)

 

Wenn nun also die Gegenwart
immer noch wie die Vergangenheit ist,
nur relativ beschissener,
und die Zukunft auch sehr danach aussieht,
dass aus unseren schlechten Erinnerungen
nur wieder schlechte Prophezeiungen werden,
dann ist es kein Wunder,
dass wir sie am liebsten vergessen würden.
Und vor allen anderen
unsere Erinnerungen
an den gegenwärtigen Krieg.
Aber keine Sorge,
wozu gibt es denn #DieDoppeltenZwanziger,
wenn nicht dazu,
uns an das zu erinnern,
woran wir uns lieber nicht erinnern wollen.
Sorry,
not sorry.

 

Kriegsprotokoll. Schreibtisch. Deutsche Heimatfront. Letzte Reihe. Woche 59.
Bachmut ist vorerst gefallen. Nach fast einem Jahr erbittertster Schlacht; trotzdem wird weiter gekämpft. Inzwischen nur noch aus Prinzip. Ostermontag: Nächtliche Bombardierung von Cherson. Dauerfeuer auf Bachmut und Marjinka. Die ukrainische Truppen halten „heldenhaft“ stand. Belarus fordert von Russland Sicherheitsgarantien; für den Fall, dass es angegriffen werde, solle Russland es wie „sein eigenes Territorium“ verteidigen. Die Krim wird zur Festung ausgebaut. Prigoschin sucht neue Freiwillige (2.700€ im Monat). Jeweils 100 Kriegsgefangene werden ausgetauscht. Dienstag: Die „Pentagon Leaks“ zeichnen ein verheerendes Bild: Die Ukraine halte militärisch nur noch wenige Wochen durch, der Gegenoffensive werde kaum Erfolg zugetraut. Wie hoch wird also die Zahl weiterer sinnloser Opfer werden? Womit werden Selenskyj und die Nato dieses Himmelfahrtskommando weiterhin rechtfertigen? Heldentum? Westliche Werte? Ungarn kauft vermehrt russisches Gas. Mittwoch: Moskau testet eine Interkontinentalrakete. Selenskyj fordert die Ukrainer*innen auf, sich „nicht auf den Lorbeeren auszuruhen.“ Melitopol ist zur Festung ausgebaut. Pentagon Leaks: Serbien hat Waffen an die Ukraine geliefert; Berichte über eine Nato-Spezialeinheit IN der Ukraine; Verteidigungsminister Resnikow nennt die Leaks „Mischung aus Wahrheit und Unwahrheit.“ Ein vermeintliches Enthauptungsvideo aus dem letzten Jahr (ein ukrainischer Soldat in russischer Kriegsgefangenschaft) bestimmt die Nachrichten. Laut Selenskyj wäre darauf Russland zu sehen, „wie es ist“. Der Kreml lässt wissen, das sei schrecklich, die Echtheit des Videos wird überprüft. Bachmut bleibt weiter umkämpft. Am Abend ruft Selenskyj den IWF zu einer Schweigeminute für den enthaupteten Soldaten auf. Donnerstag: Die Pentagon Leaks enthalten auch Informationen zu Südkorea, Israel, VAE u.a. Als Urheber berichtet die Washington Post über „etwa zwei Dutzend Männer und Jungen, die eine Liebe zu Waffen, militärischer Ausrüstung und Gott teilen.“ Am frühen Nachmittag meldet Russland die Einkesselung von Bachmut. Finland schließt die erste Militärübung als Nato-Staat ab. Berlin stimmt der Lieferung polnischer Kampfjets an die Ukraine zu; Bartsch (Die Linke): „Die Bundesregierung überschreitet die nächste selbst gezogene rote Linie.“ Der deutsche Verteidigungsminister kann keinen Kurswechsel erkennen. In Messachusetts wird der erste Verdächtige in Sachen Pentagon Leaks festgenommen, ein 21-jähriger Angehöriger der National Guard. Freitag: Offizieller Teilrückzug der ukrainischen Truppen aus Bachmut. Russland versetzt seine Pazifik-Flotte in höchste Alarmbereitschaft; die Gründe bleiben zunächst unklar. Die Ukraine findet immer mehr chinesische Bauteile in russischen Geschossen und Raketen. Anna-Lena Baerbock warnt in Peking vor einem „Horrorszenario“. Finnland beginnt den Bau eines Grenzzaunes zu Russland. Raketen schlagen in Slowjansk ein. Christian Lindner meint in Princeton, die Ukraine könne den Krieg gewinnen. Samstag: Lula fordert in China die USA auf, ihre Militärhilfen für die Ukraine einzustellen. Polen verbietet Getreideimporte aus der Ukraine, um die eigene Wirtschaft zu schützen. Von der Front nichts Neues. Sonntag: Auch Ungarn importiert bald kein ukrainisches Getreide mehr. 45 Angriffe rund um Bachmut. Anti-Nato Demo in Tschechien. Der chinesische Verteidungsminister Li ist in Moskau. Die Beziehungen sind „besser als die militärischen und politischen Allianzen aus der Zeit des Kalten Krieges.“

 

Und weil auch der Ukrainekrieg
gerade dabei ist,
nur noch ein weiterer Krieg zu sein,
den wir immer leichter vergessen,
und um das auszubremsen,
hier gleich noch die nächstfolgende Woche:

 

Kriegsprotokoll. Schreibtisch. Deutsche Heimatfront. Letzte Reihe. Woche 60.
Bachmut ist auf der „Ramsteinkonferenz“ schon kein Thema mehr. Montag: 13 slowakische Kampfjets wurden an die Ukraine übergeben. Dafür untersagt das Land ebenfalls Getreideimporte. Heusgen (SiKo) fordert vom Westen, bei der militärischen Unterstützung „auf’s Ganze“ zu gehen. Das nächste Treffen der Ramstein-Konferenz wird vorbereitet, Selenskyj sagt, den „Aussichten“ soll sich „nach Kräften“ genähert werden. Die russische Armee schützt die Flanken von Wagner in Bachmut. Dienstag: Die Ukraine sperrt große Teile der Front für Journalisten. Immer noch schwere Angriffe auf den Rest von Bachmut. Selenskyj erstattet Awdijiwka einen Osterbesuch ab. In Russland steht auf Hochverrat wieder lebenslange Haft. Weitere, kleinere Schritte der Gegenoffensive (Raketenbeschuss in Donezk). Mittwoch: Nächtliche Drohnenangriffe auf Odessa. Der Oblast Donezk will Handelsbeziehungen mit Belarus aufbauen. In Bachmut wurden kürzlich angeblich mehrere Wohngebäude durch ukrainische Streitkräfte gesprengt, was zu zwei Dutzend zivilen Opfern führte. Auf der Krim wurde eine Sabotageakt verhindert. Die ukrainische Staatsanwalt untersucht inzwischen 80.000 mutmaßliche Kriegsverbrechen. Ukrainische Frontsoldaten erhalten ab sofort 2.500€ zusätzlich im Monat. Donnerstag: Ukrainische Grenzsoldaten werden von Westen nach Osten verlegt. Ununterbrochene Gefechte und Drohnenangriffe rund um Bachmut. Stoltenberg ist überraschend und erstmalig zu Besuch in Kiew; der Nato-Beitritt der Ukraine wird auf dem nächsten Gipfel (im Juli) diskutiert. Die ukrainische Staatsverschuldung liegt aktuell bei knapp 80% des BIP. Der „Petersburger Dialog“ ist Geschichte. Freitag: Selenskyj fordert die „wohlverdiente Einladung“ in die Nato. Putins Antwort: Das ist einer der Kriegsgründe. Pistorius: Die Entscheidung wird nicht übers Knie gebrochen. In der Nacht landesweiter Luftalarm, Drohnenangriffe auch auf Kiew. Retro-Twittervideo der Ukraine: „Hallo zusammen. Wir müssen reden – wieder einmal. Sie haben Ihre Angst überwunden, uns Panzer zu schicken. Aber jetzt hören wir, dass Sie sich Sorgen machen, uns Kampfjets zu schicken. Machen Sie sich keine Sorgen mehr.“ – Die Tagesschau lobt den Humor der Ukraine. Rest-Bachmut wird endgültig eingenommen. Ramsteinkonferenz: Ampel und EU fordern Fortsetzung der Unterstützung; Frankreich stänkert ein kleines bisschen beim Umfang der Waffenlieferungen, ansonsten gilt Parole „Durchhalten“. Selenskyj nimmt die Einladung zum nächsten Nato-Gipfel: „Gebt uns die Werkzeuge, und wir erledigen den Job.“ Samstag: Neue Brigaden für die Gegenoffensive werden vorbereitet. Peskows Sohn hat an der Front für Wagner gekämpft; eine Nachricht für einen 800-seitigen Roman. Melnyk meldet sich wieder zu Wort: „Die Ukraine braucht zehn Mal mehr, um die russische Aggression dieses Jahr zu beenden.“ Sonntag: Die letzten Straßenzüge in Bachmut werden erobert/befreit. Im Dniprodelta fassen erste ukrainische Truppen auf der Ostseite des Flusses des Fuß. Wuhledar wird wieder vermehrt von russischer Seite beschossen. Raketenangriffe auf Charkiw. Auch Awdijiwka wird weiter ununterbrochen attackiert. Die Frontlinien bleiben allerdings unverändert.

 

So.
das Internet vergisst also tatsächlich nichts.
Deswegen stopfen wir jetzt
auch noch die größten Erinnerungslücken
der schreibfreien Zeit.
Für eine Rubrifizierung dieses Reuploads
der kürzlich erst vergangenen Gegenwart
würde ich gerne jeden einzelnen Titel
der letzten Super-Serie („Beef“) klauen,
aber für heute halte mich zunächst respektvoll zurück
und belasse es bei einem
schlichten Bericht über die Highlights
der vergangenen Wochen.

Deutschland ist
nach 40 Jahren grünem Kampf
endlich atomkraftfrei.
Der konservative Rest des Landes schäumt vergebens.
Sogar Söder nutzt die Gunst der Stunde,
um noch mal anti-Grünen Zeugs zu fordern,
das sich nicht umsetzen lässt:
Bayern will Isar-2 zurück ans Netz bringen,
aber nur ans bayrische;
denn schon im Oktober ist Landtagswahl,
da muss das Feindbild hochgehalten werden.
Und außerdem wird das Verbot
eh nicht allzu lange halten,
denn die nächste Generation der Reaktoren
ist schon in der Mache.

Die Singularität bleibt ein Topthema:
GPT-4 verbraucht einen Liter (Kühl-)Wasser
auf 60 Fragen.
Elon Musk hat jetzt natürlich auch
seine eigene Version am Start.
Der Name kann grotesker nicht sein,
bedenkt man den Kontext:
TruthGPT.
Aber ein Typ,
der die Explosion
eines seiner 11 Millionen Dollar-„Starships“
mit einem Lächeln zur Kenntnis nimmt,
dem kann die Wahrheit ja auch egal sein.
Derweil gewinnt die KI
schon internationale Fotografiewettbewerbe:
Boris Eldagsen (Deutschland)
hat auf seiner Website verraten,
dass er den Preis nicht annehmen kann,
da das von ihm eingereichte Bild
(ein wirklich sehr berührendes Portrait
von zwei Frauen aus zwei Generationen)
von einer KI erstellt worden ist.
Abschließend stellt er also fest,
dass die Kunstwelt
einfach nicht bereit für die KI ist.

Das absolute Spitzentopthema aller Spitzentopthemen
war aber die größte Medien-Kampagne,
die jemals gegen den Springer-Verlag geführt wurde.
Frei nach dem Motto,
jeder erntet, was er sät,
schlägt es bei Döpfner und Co.
seit fast schon zwei Wochen
im Stundenrhythmus ein.
Geleakte Döpfnerchats werfen
ein vernichtendes Bild auf den Konzernchef,
nichts überraschendes wirklich,
aber in dieser Deutlichkeit bis heute selten.
Parallel dazu veröffentlicht
Alt-Popliterat Benjamin von Stuckrad-Barre
sein neuestes Machwerk.
„Noch wach?“ ist natürlich keine
literarische Verarbeitung
des #metoo-“Skandals“ um Julian Reichelt (Ex-Bildchefredakteur),
sagt der Schriftsteller,
und verrät allein durch diese Lüge seine Kunst,
denn wahre Kunst muss bekanntlich lügen,
wenn sie die Wahrheit sagen will.
Flankiert wird die Veröffentlichung
durch eine Spiegel-Titelstory
und veredelt durch ein Promi-mash-up-Video
für die social-media-Kanäle.
Der Todesstoß ist dann ein Podcast,
der seit zwei Wochen bei Spotify läuft,
den gesamten „Komplex Springer“
nach Strich und Faden auseinandernimmt
und den passendsten Titel
für diesen Scheißhaufen von Medienmachern
gefunden hat:
„Boys Club“.
Der allererste Podcast übrigens,
den ich wirklich höre
und von dem ich nicht nur gehört habe.
Als kleine Randnotiz sei hier noch erwähnt,
dass es genau eine Bundespartei gibt,
die in dieser Zeit auch öffentlich
noch näher an den Springer-Verlag heran gerückt ist.
Richtig, die FDP.

Gegen solches Feuerwerk für die Synapsen
können die anderen jüngsten Meldungen
natürlich nicht mithalten.
Erwähnt werden sie trotzdem,
aber eigentlich ja genau deswegen:

Der Heiße Frühling bleibt weiter kühl.
Es gibt zwar den ein oder anderen Bahnstreik,
die Letzte Generation kämpft
seit dem 19. April „unbefristet“
auf den Berliner Straßen
und versammelt sich am 23. April
vielzählig vor dem Brandenburger Tor.

In Frankreich konnten wir dann beobachten,
wie viel Erfolg auch die größten Massenproteste der letzten Jahre hatten:
Macron unterschreibt in einer Nacht und Nebel Aktion
die Rentenreform
und lässt die Leute
einfach noch ein bisschen weiterprotestieren.

Auch in Israel halten die Demonstranten
seit mehr als 16 Wochen durch.
Das Ergebnis?
Es juckt keinen.

Denn schließlich hat die Welt
auch schon wieder den nächsten Krieg.
Im Sudan explodiert es an allen Ecken,
und es spielt schon gar keine Rolle mehr,
wer da eigentlich gegen wen kämpft.

So weit, so schlecht.
Ich hoffe, ich habe nichts wichtiges vergessen.
Aber hey,
wozu gibt es denn das Internet?

Und damit vorerst abschließend
zur Buchmesse.
Denn die hat endlich,
endlich auch wieder
in Leipzig stattgefunden.
Ganze vier Jahre
liegt das letzte Schaulaufen
der Cosplayer*innen,
Bücherwürmer
und des geballten Verlagsapparats zurück.
Über 4.000 Aussteller.
Die ganze Stadt ist vier Tage lang
im literarischen Ausnahmezustand.
Compact und Antaios
liefern keine Suchergebnisse
auf dem online Messe-Programm;
sehr gut.
Dafür ist das Gastland 2023:
Österreich.
In der Glashalle gibt es
großartige Käs-Fleischnudeln
mit Krautsalat, Schinkenwürfeln
und brauner Butter,
die hässliche Flecken
auf Jacken machen kann.
Die unwichtigste Frage
in diesem Jahr war deswegen auch:
Wo ist eigentlich Jürgen Elsässer?
Ich habe ihn so sehr nicht vermisst,
dass ich ihn nicht mal ausrufen lassen wollte.
Am ersten Messetag
mit diesen nervigen Besucher*innen,
die immer nur gucken und nie was kaufen,
waren die Gesichter an vielen Ständen noch lang,
dafür tummelten sich davor,
und vor Kameras,
unfassbar viele schöne und/oder intelligente Menschen,
und noch viele mehr, die gerne dafür gehalten werden wollten.
Hier aber kurz meine diesjährige Ausbeute;
ich stelle sie unter den Titel
„Wegen Gründen“:
Als erstes habe ich beim C.C.Buchner Verlag
schnell das neueste Philosophielehrbuch
für die Oberstufe gezockt.
„Sie unterrichten Philosophie?
Dann kriegen sie 50% Rabatt.“
Die Denkfabrik dankt.
Danach habe ich mich im Politikbereich schlau gemacht.
Eine großformatige Graphic Novel
zur Entstehung des modernen Faschismus
1920 in Triest;
„Die schwarze Flamme“.
Gleich nebenan,
an einem kleinen Stand aus Österreich:
Das „Handbuch gegen den Krieg“;
keine 100 Seiten dick.
Wozu auch?
So schwer sollte das ja nicht zu verstehen sein.
Kurz nach dem Mittag
hab ich mich dann auf die Manga-Comic-Con getraut.
Ohne Quatsch,
in der gesamten Halle 1
gab es nicht ein einziges Comic/Manga.
Sondern ausnahmslos Merch
(u.a. ein sehr verlockendes Model
von Ken Kaneki (Tokyo Ghoul) für schlappe 500€)
und Cosplayzubehör.
Erst nebenan, in Halle 3
bin ich dann fündig geworden.
Und wie.
„Crossover“ (Donny Cates und Geoff Shaw)
ist mindestens das nächste „Fables“.
Und der Topcatch des Tages
ist eine Comicversion von “Schlachthof 5“,
an der aber wirklich mal alles zum Niederknien ist;
und nicht nur weil das Original
einer der wichtigsten Anti-Kriegsromane überhaupt ist.
Und ganz oben
auf der köstlichen Wiedereröffnungstorte
meines Lieblingsbuchladens
steht ein grandioser Dialog zwischen zwei Jungs
(vielleicht so 10, 11 Jahre alt):
„Ey, guck mal da, Spiderman!“
„Was? Als Comic??“

Intellektuell jedenfalls
gab es am ersten Messetag
soweit nichts groß zu verpassen.
Sämtlichste Brillenträger*innen,
die hier was auszustellen haben,
wirken noch etwas verkatert
von der inoffiziellen Eröffnung gestern,
oder versuchen, nicht allzu genervt
von den ganzen Schulklassen zu sein,
die hier mit ihrer Frühlingslaune rumlaufen.
Drei Veranstaltungen auf der Aspekte/DLF-Couch,
gleich am Westeingang,
habe ich mir trotzdem so halb angesehen.

1. Gerd Scobel sitzt
im feinsten rosa Zwirn
zwischen den Gästen
und philosophiert mit ihnen über die KI.
Bedrohung oder Chance?
Die Antwort ist einstimmig:
Ja.
2. Eine Frau befragt einen Mann
zum Thema „Depressionen und ähnliches“,
und sie haben auch super Tipps fürs Publikum:
„Lächeln Sie doch einfach mal die Person neben ihnen an.“
„Summen Sie den Gedanken „Ich bin ein Loser“
einfach auf die Melodie von „Alle meine Entchen“.“
Wo ist Kurt Krömer,
wenn man ihn braucht?
3. „Die Welterklärer –
Über Väter, Verschwörungstheoretiker und Vergangenheit“
Jap, das war genauso fürchterlich,
wie Ihr gerade denkt.

Und dann habe ich doch
leider, leider, leider
das große Aspekte-Interview mit Joachim Gauck verpasst.
Mein Namensvetter (Jo)
wird aber einen okay-ishen Job gemacht haben
und hat dabei so viel verdient,
wie meinereins in zwei Monaten.
Aber kein Neid, nur Mitleid.
Ich war dafür in der Gegenwart von 30 Teenagern,
die nach knapp fünf Stunden
glücklich von einer Buchmesse
wieder nach Hause gefahren sind.
Unbezahlbar.

Es gibt sie also,
die guten Erinnerungen,
und gleich habt Ihr noch eine mehr,
you’re welcome:

Meine Oma
hat mir schon sehr früh sehr regelmäßig vorgelesen.
Auf der Couch, am warmen Ofen, unter einer dicken Decke.
Eine meiner liebsten Erinnerungen.
Und meine Oma hat immer gesagt,
ihr Deutschlehrer hätte immer gesagt,
wir müssen gute Erinnerungen sammeln,
so viel wir können.

 

„Hinter sich,
über die weite Entfernung von Raum und Zeit,
aus der Richtung, aus der er gekommen war,
glaubte er ebenfalls Musik zu hören.
Aber vielleicht war es nur ein Echo.“

(Lois Lowry: Hüter der Erinnerung. 1993)

 

Am liebsten würde ich jetzt noch
einen ellenlangen Text
über die Bedeutung von Musik
für unsere Erinnerungen schreiben.
Ach was, ein ganzes Buch,
das nur aus Songs
und den Geschichten dazu besteht.
In dem ich mich um Ich-Narrative drehe,
deren Ereignisreihen
durch Melodien und Texte
über alle Zeitformen hinweg
zusammengehalten werden.
Den großen Roman
vom Widerhall der Vergangenheit
im Ausblick auf eine Zukunft,
die auf ihr Ende zugeht.
Auf dem Cover wären Stereo-Kopfhörer zu sehen,
links Vergangenheit,
rechts Zukunft
und zwischen den Ohrmuscheln
eine verwelkende Welt.

Aber
die Schreibpause ist vorbei.
Ab Sonntag beginnt
das Trommelfeuer der Gegenwart auf ein neues.
Und das Echo des Weltuntergangs
erwischt uns wieder kalt von hinten.
Erinnerungen sind gnadenlos.

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