My head’s a fuckin‘ carnival
Zweiter Akt
Tag/außen
Quedlinburg, westliches Ende der Kleerswiese
Punkt 12 Uhr mittags
Die letzten drei Glockenschläge.
Der schwarze Rauch hat sich schnell auf beiden Seiten der Straße ausgebreitet und die Menschenmengen gehen ungläubig einige Meter zurück.
Sie können ihren Blick aber dennoch nicht von dem Tanklaster abwenden.
Dann, nur drei Herzschläge nachdem der letzte Glockenton verhallt, setzt ohrenbetäubende Musik ein.
Soundtrack 6:
„I’m rolling thunder,
a pouring rain.
I’m comin‘ on
like a hurricane.
There’s lightning’s flashing
across the sky.
You’re only young,
but you’re gonna die.“
(AC/DC. Hells Bells. 1980)
Durch den nur schwer verwehenden Rauch rollt der achte Wagen einfach über den siebten hinweg. Die erwartbare, riesige Explosion bleibt allerdings aus, der Tanklastwagen war also leer.
Urplötzlich hört es auf zu regnen, doch der Himmel bleibt grau wie Kruppstahl.
Und zwischen die Menschenmengen schiebt sich ein echter russischer T-90, zehn Meter lang vom Heck bis zur Mündung. Die fast fünfzig Tonnen verlangen der Lindenstraße mehr ab als sie tragen kann. Im Hintergrund sieht man kurz umgerissene Bäume.
Auf beide vorderen Kotflügel des Panzers haben offenbar Tauben ein weiß-graues Z geschisssen.
Der Panzer zieht zwei ineinander gehängte Anhänger hinter sich her. Auf dem ersten ist eine Miniatur einer modernen Megacity zu sehen, es bleibt allerdings unklar um welche es sich genau handelt. Hochhäuser, die trotz Maßstab noch bald zwei Meter erreichen. Das Stadtbild umfasst vielleicht fünfzig dieser aberwitzigen Wolkenkratzer. Auf jedem davon sind Namen und Logos angebracht. Die Kamera schafft es nicht, sie alle einzufangen. Klar erkennbar sind aber die folgenden:
Lockheed-Martin.
Volkswagen.
Aida.
Tesla.
Amazon.
Google.
Telekom.
Exxon.
Blackrock.
Nestlé.
Nike.
Trump.
Deutsche Bank.
Den Anwesenden sieht man an, dass noch nicht alle verstanden haben, was das werden soll.
Dann sehen sie den zweiten Anhänger: eine schlecht einschätzbare Menge von Legofiguren ist auf einer Attrappe aufgestellt, die wohl wieder so etwas wie die Erde darstellen soll, allerdings nur eine Hälfte davon, so dass es aussieht, als würden die Figuren auf einem großen Berg oder Hügel stehen.
Einige trauen sich wieder näher an die Straße und erkennen, dass wirklich keine Figur der anderen gleicht. Nur eines haben sie alle gemeinsam: eine kleine, kaum zu erkennende, weiße Armbinde um ihren linken Oberarm.
Wirklich einen Reim scheint sich aber weiterhin niemand darauf machen zu können.
Dann blicken sie zurück zum ersten Anhänger und erkennen, dass auf dessen Stoßstange, dicht an dicht nebeneinander ebenfalls Legofiguren sind aufgestellt sind, die allerdings alle eine vollautomatische Waffe in ihren kleinen Plastehänden halten.
Jetzt scheinen es alle begriffen zu haben.
Niemand versucht zu fotografieren.
Der Panzer zieht weiter.
Der neunte Wagen ist gar kein Wagen.
Zehn, sehr wahrscheinlich Grundschüler, die einen engen Innenkreis bilden, scheinen gemeinsam etwas zu tragen (abgesehen von den Atemschutzmasken). Sie bewegen sich nur langsam vorwärts. Obwohl nicht zu sehen ist, worauf sie so behutsam aufpassen, überträgt sich ihre Vorsicht sofort auf alle noch Anwesenden. Kaum jemand scheint zu sprechen.
Als die Kinder die Mitte zwischen den Menschenmengen erreicht haben, bleiben sie stehen und heben langsam ihre Arme. Eine weiße Taube, die vorsichtig einen Flügel ausbreitet, zieht alle Blicke auf sich. Die Kinder reden ihr gut zu, sie solle sich doch einfach trauen. „Flieg!“
Die Taube richtet sich zu voller Größe auf, macht sich endlich flugbereit. Da senken sich die Kinderarme noch ein mal kurz, um der Taube noch etwas Energie mitzugeben, bevor sie sie in die Luft werfen und auseinander treten.
Die Taube landet wie ein Stein auf dem Boden.
Viele der Umstehenden halten sich erschrocken die Hände vor das Gesicht. Einige gehen näher heran und sehen, dass die Taube nur einen Flügel hat, auf der Gegenseite klafft eine häßliche Wunde.
Vor lauter Bestürzung halten sich die Menschen kurz an den Händen, womit sich also auf beiden Seiten der Straße jeweils eine Menschenkette bildet.
Da knistert es in den Boxen der stationären Musikanlage, die unter den Platanen der Bossewiese steht.
Soundtrack 7:
„Meet me in the crowd,
people, people.
Throw your love around,
love me, love me.
Take it into town,
happy, happy.
Put it in the ground
where the flowers grow.
Gold and silver shine.
Shiny happy people
holding hands.
Shiny happy people
holding hands.
Shiny happy people
laughing.
(R.E.M.: Shiny Happy People. 1991)
Der zehnte Wagen, auch der elfte und auch alle noch folgenden kommen nicht an dem Tanklaster vorbei, der immer noch den Weg nach hinten blockiert. Durch den langsam lichter werdenden Rauch, der die Straße entlang nach Osten abzieht, kann man nur schattenhaft erahnen, was noch gekommen wäre.
Nur der letzte Song ist schon zu hören.
Soundtrack 8:
„No matter the distance between us
our joy lives in the moments we share.
Love’s truest meaning lives
when you’re not there.
Will you wait,
will you wait
for me?“
(Biffy Clyro: Space. 2020)
Nach nur wenigen Takten gehen die Menschenmengen plötzlich, aber fast schon wie verabredet kreuz und quer aufeinander zu und jeder nimmt jemanden von der Gegenseite an die Hand.
Es sind vielleicht zweihundert.
Dann holen alle wie aus dem Nichts kleine, weiße Taschentücher (keine Tempos!) aus irgendeiner Tasche und verlassen gemeinsam den Schauplatz.
Niemand wendet sich noch einmal um.
Am westlichen Ende der Kleerswiese löst sich die Menge dann in alle Richtungen auf.
Die weißen Taschentücher behalten alle in der Hand, bis auch der letzte aus dem Blickfeld verschwunden ist.
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End Credits
„Gentlemen don’t get caught,
cages under cage.
Gentlemen don’t get caught!
Box cars are pulling
out of town.“
(R.E.M.: Carnival of sorts (Boxcars). 1983)

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