„And I‘m leaning
on a broken fence
between past and present tense.
And I‘m losing
all those stupid games
that I swore I‘d never play.
And it almost feels okay.“
(The Weakerthans: Aside. 2000)
„Na? Erzähl schon, wie war dein großer Tag gestern?“ Das hatte der Buchträger den Brillenträger am Freitag Morgen per SMS gefragt. Heute, am späten Morgen des Reformationssonntags (aka Halloween), also drei Tage und wieder hundert Jahre später, dachte dieser, wenn er an seinen Vierzigsten zurückdachte, als erstes kurz an den Abend des letzten Donnerstages. Und danach an dessen Morgen; und dann immer und immer wieder an diesen Morgen, der trotz allem das beste in den vergangen Tagen gewesen war.
Am Abend seines Geburtstages jedenfalls hatte er lange in der Wanne gelegen, und versucht, die Ereignisse des Tages zu ordnen. Eines der Präsente, neben der Nachricht im Radio, dass die „Bayern“ furios aus dem Pokal geflogen waren, war ein Aroma-Salzbad („Weihnachtszeit“) gewesen. Zum Ausklang seines Tages las er jetzt also von der unglaublichen Reise der Bayern, einer Fregatte der Deutschen Marine, die gerade auf Besuchsreise im Indo-Pazifik unterwegs war, während er die Knie anziehen musste, um mit den Schultern im warmen Wasser liegen zu können. Klassischster Romanstoff! Wieder so eine Geschichte, die er nicht erzählen würde, und die von Jörg Kronauer darüber hinaus auch schon in top notch vorlag. Die Zwillinge Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit saßen dabei auf dem Wannenrand und grinsten ironisch. In diesem ungeschriebenen Roman (Arbeitstitel: „2021 – Eine Odyssee der Bayern“) hätte er über Isolation und Gruppendruck schreiben müssen. Vom Schwanken der Zeit auf hoher See, oder eben im Kreuzfeuer der Boulevardpresse. Vom Dasein einzelner Glieder in konträr-temporären Ketten, wo das Brechen von Regeln grundsätzlich bestraft wurde. Wo Gehorsam irgendwann nur noch Überlebensstrategie ist. Er hätte über den nicht gegeneinander geführten Krieg schreiben können; also auch nur wieder ein weiteres Mal über die zu Essig gewordene Absurdität der Menschen an sich.
Aber, und das war ihm auch klar, eben nur das: Er hätte schreiben müssen. Auf einer anderen Zeitachse vielleicht. Denn auf dieser hier waren die Zeit und die Geschichte selbst spätestens seit der Ankunft von Karoline Salthusser endgültig aus den Fugen geraten. Und über die „Bayern“ würde er wahrscheinlich in den nächsten paar Jahren noch genug schreiben müssen.
Kurz bevor ihm das Wasser zu kalt geworden war, hatte der Brillenträger auch noch kurz daran gedacht, dass er die zweite Hälfte seines bisherigen Lebens, also bis zu diesem Abend in der Wanne, auch immer irgendwie schreibend an Schreibtischen verbracht hatte. An drei Schreibtischen, um genau zu sein. Und abgesehen von einem Wohnungsbrand würde sein aktueller ganz sicher auch sein letzter sein; Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in schlichtem Holz. Acht massive Füße. Zweifarbige Eggshell-Optik. Selbst restauriert. Und nicht auf Insta zur Schau gestellt. Vollgesaugt mit Rauch, Schweiß und natürlich mit Tränen und Blut. Denn wie jeder noch so eingebildete Schriftsteller liebte er seinen Arbeitsplatz; auch wenn er gerne behauptete, dass er ihn verfluchen würde.
Niemals aber hatte er dabei auch nur die Idee gehabt, auch nur so etwas ähnliches wie einen Science-Fiction Roman zu schreiben, noch nicht mal einen sarkastisch postmodernen. Zu hölzern wären seine Versuche gewesen (wissenschaftlich halbwegs Sinn machend), irgendwelche Ungereimtheiten in seinem Plot wegzuerklären, ohne dabei sofort nach einem unbeholfenen Abklatsch von Star Wars/Trek, Dune, den X-Men oder der Saga von Ender Wiggins zu klingen. – Am allerwenigsten aber hätte er sich einen Roman vorstellen können, in welchem Zeitreisen irgendeine relevante Rolle hätten spielen sollen. Das Motiv war mindestens ebenso ausgereizt wie jedes andere. Irgendwie zu phantastisch, um einem authentischen Text über die Gegenwart noch gerecht zu werden. Inzwischen waren selbst Geschichten über gelangweilte Zeitreisende langweilig geworden. Und außerdem, wo bitteschön wäre denn da die Deckungsgleichheit mit der Wirklichkeit geblieben? Das Zusammenfallen von Erzählzeit und erzählter Zeit? Die Auflösung und Kristallisierung der Gegenwart? Die Transzendierung? Die Allegorie? Die Relevanz? Der literarische Anspruch? Das Genie? Ein Roman der vom ständigen Verlust und Wiedergewinn des Zeitbezuges erzählt, was hätte der denn noch mit der Realität zu tun gehabt? Wo wäre der Zusammenhang mit irgend etwas von Belang gewesen? Und sei es nur, wie bei jedem wirklichen Roman, mit der inneren Verfasstheit seiner Leser? Oder, ganz anders gefragt: Was für einen Sinn hätte es schon gemacht, wenn der Zeitgeist selbst eine Zeitreisende wäre? Und was wäre ihre Mission? Welches Übel hätte denn schon noch bezwungen werden müssen, gegen das nicht schon alle Schlachten verloren gegangen waren? Die Antworten, vor allem auf die letzten Fragen, fand der Brillenträger dann, kurz bevor er am Donnerstag sein Nachtlicht gelöscht hatte:
„Desynchronisierung,
aus der gemeinsamen
oder der Weltzeit
herauszufallen,
ist die latente Drohung,
gegen die es fortwährend
anzukämpfen gilt.“
(Thomas Fuchs: Chronopathologie
der Überforderung. 2018)
Als die Glocken der Stadt am Reformationssonntag zwölf mal schlugen, hatte sich der Brillenträger halbwegs von den vergangenen drei Tagen erholt, die geschenkte Stunde des Tages kam ihm in diesem Jahr nicht in die Quere. Er fühlte sich wach. Wieder ein wenig bereiter, den Kampf an der Front, die sich Leben nennt, anzunehmen. Noch vor einigen Wochen, nachdem der Buchträger, Karoline Salthusser und er völlig unvorbereitet damit konfrontiert worden waren, dass der Orb wieder funktionierte, hatte er noch gedacht, diese verrückte Geschichte nicht meistern zu können und irgendwann den Durchblick zu verlieren. Doch mit jedem weiteren Sprung durch die Zeit waren sich die drei sicherer geworden.
Ihr erster Sprung, vor sechs Wochen, hatte sich dem Brillenträger für immer eingeprägt. Nachdem Karoline am Orb gedreht hatte, war nichts passiert, außer 100 Jahre. Sie hatten im hinteren Teil des Ladens gestanden, und ohne Geräusche oder Flackern waren die Bücher in den Regalen andere. Der Flügel in der hinteren Ecke war verschwunden, ebenso wie die Bluetoothbox in Grammophon-Optik. Stattdessen stand an der gleichen Stelle jetzt ein echtes Grammophon. Die Möbel waren leicht verrückt, ein Hocker mehr stand neben dem Sofa. Das Licht war aus. Die drei hatten kaum gewagt sich zu bewegen. Aber sie hatten herausfinden müssen, wo genau sie gelandet waren. Deswegen war der Buchträger auf spitzen Sohlen nach vorne gegangen und mit einer Zeitung zurückgekommen. Das Datum auf der Titelseite ließ ihre Herzen kurz aussetzen: 19. September 1921.
Karoline hatte dann wieder nur einmal am Orb gedreht, und sie waren zurück. Als ob nichts passiert gewesen wäre. An den folgenden Wochenenden hatten sie ihre Zeiterkundungen ausgeweitet. Sie trafen sich weiterhin jeweils sonntags, nur etwas eher, um die Verschlafenheit der Stadt als Tarnung nutzen zu können. Sie hatten, warm und dick angezogen, kleine Streifzüge durch die Gassen unternommen. Alles hatte so ausgesehen, wie auf den Photographien von damals; nur in Farbe. Sie hatten begonnen, dieses Privileg, das sie vor der Außenwelt ihrer Dreisamkeit um jeden Preis verbergen wollten, zu genießen; auch wenn ihnen das uneinschätzbare Risiko ihrer Sprünge immer noch Ehrfurcht einjagte.
Am vergangenen Freitagmorgen hatte der Brillenträger dann beim Frühstück auf die SMS des Buchträgers geantwortet: „Na? Wie soll mein großer Tag schon gewesen sein? Groß natürlich!“ Und ohne weiter zu warten, schrieb er hinterher: „Bleibt es bei Sonntag? Wohin geht es dieses Mal?“ Erst fünf lange Minuten später summte sein Handy, allerdings kam die Nachricht im Gruppenchat der drei, von Karoline: „Guten Morgen, die Herren! Ich schlage ein Treffen noch vor Sonntag vor. Ich habe nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass wir uns über die Regeln unterhalten sollten. Heute Nachmittag?“
Beide hatten postwendend mit „Ja“ geantwortet, und pünktlich um drei saßen alle drei auf einer Bank im Brühl. Karoline verlor keine Zeit: „Gut, da ich bis jetzt die erfahrenste in diesem Spiel bin, stelle ich folgende Regeln zur Diskussion“, sie sah die beiden nur kurz an und wartete nicht auf deren Nicken. „Erstens: Niemals in irgendetwas einmischen. Wir bleiben ausschließlich Beobachter und Chronisten.“
„Cool, so wie bei Star Trek!“
„Genau, weil das bei denen ja auch immer so prima funktioniert!“
„Ok. Aber wieso eigentlich? Zerfällt sonst das Zeitkontinuum?“
„Würdest du das vielleicht gerne mal ausprobieren?“
„Heiße ich etwa Marty McFly?“
„Meine Herren, könnten sie sich ihre Nerdwitze bitte für später aufheben! Zweitens: Zuhören!“
„Wie bitte?“
„Zuhören, mensch. Wie Momo! Ist doch klar: Wer die Zeit retten will, muss sie lieben, und nicht besitzen wollen.“
„Schön gesagt. Drittens, und das ist möglicherweise die wichtigste Regel: Niemals zwei Sprünge hintereinander, ohne vorher wieder auf unsere Zeitachse, also genau hier her zurückzukommen.“
„Okay? Und wenn wir einen Ariadnefaden mitnehmen?“, fragte der Brillenträger.
Karoline schaute ihn todernst an: „Nein.“
Der Buchträger stimmte ihr zu: „Alter, war dir Inception nicht komplex genug, oder was? Das jetzt noch mit Zeitmanipulationen? Was soll das werden? Die Wurzel aus Chaos zum Quadrat? Lass uns mal auf dem Teppich bleiben.“
„Viertens: Wir brauchen einen festen Ort zum Springen. Und zwar nicht länger im Laden.“
„Warum nicht?“
„Weil wir dort nicht weiter ungestört sein werden. Ich habe dort ab heute vor einhundert Jahren ebenfalls meine Sonntagvormittage verbracht. Siehe Regel Nummer Eins.“
„Womit hast du deine Zeit dort verbracht?“
„Ein anderes Mal vielleicht. Also, ich schlage etwas abgelegenes vor.“
„Ah, ich weiß, ich weiß! Den Friedhof?“
„Welchen?“
„Blöde Frage. Den abgelegensten natürlich.“
„Ah, verstehe.“
„Also gut, das wären meine Vorschläge. Was sagt ihr?“
„Einstimmig angenommen.“
Der Buchträger räusperte sich: „Und was mit den anderen Regeln? Ich meine, es gibt so viel zu lernen aus den Fehlern anderer. Von Doctor Who oder Dr. Sam Beckett? Oder was ist mit Nummer 5? Bei dem ist es ja mal komplett schief gegangen! Vielleicht sollten wir auch Tenet noch mal schauen? Oder alle drei Staffeln Dark? An einem Tag? Rückwärts?“
Der Brillenträger klopfte ihm mit den Fingerköcheln auf den Kopf: „Huhu, McFly! Jemand zu Hause? Kein Nerdkram mehr heute! Fünf Regeln sind schon genug, um sie sich zu merken.“
Karoline wirkte zufrieden, rutschte etwas auf der Bank zurück und fragte, mit im Sonnenschein geschlossenen Augen: „Was macht ihr eigentlich morgen Abend?“
„Was ist morgen? Samstag?“
Der Buchträger grinste den Brillenträger an: „Ja. Mensch, da ist doch Ü-40 Party im Kaiserhof! Wär‘ das nicht was für dich?“
„Karoline, können sie ihm bitte sagen, dass Alterswitze auch nicht nicht lustig sind?“
„Bedaure, ich halte mich auch auf dieser Zeitachse strikt an Regel Nummer Eins. Ich hatte allerdings gefragt, weil ich noch einen letzten Vorschlag habe.“
„Wir hören zu!“
„Ich kann noch nicht zu viel verraten, aber treffen wir uns doch morgen so gegen drei am Friedhofstor. Jetzt, da die Regeln klar sind, denke ich, könnten wir einen etwas größeren Ausflug wagen. Wie wäre es mit Leipzig?“
„Schade, ich dachte unsere erste Reise in 1921 könnte nach Berlin gehen.“
„Da war doch noch gar nichts los um die Zeit, das kam erst später. Aber warum gerade Leipzig? Werden da nicht gerade ständig irgendwelche Sachen abgefackelt?“
Karoline winkte übertrieben ab: „Ach wo, nichts besonderes, nur so eine Idee. Als kleine Nachgeburtstagsüberraschung sozusagen.“
„Also auch nichts mit Hexoween in Thale? Das wäre auch noch morgen. Da brennt die Hütte, glaubt man den Ankündigungen.“
„Äh, warte kurz. … Nein?“
„Stimmt, Feuer hatten wir ja erst genug. Weiß jemand von euch eigentlich näheres zu dem Brand heute Nacht? Die Sirenen waren ja auch im Tiefschlaf nicht zu überhören.“
„Viel weiß ich nicht. Eine Lagerhalle im Augustinern. Komplett abgebrannt. Ein schwer verletzter Feuerwehrmann. Den ganzen Vormittag war kein Durchkommen in der Weberstraße. Und natürlich gibt‘s Gerüchte über einen Warmabriss.“
„Also doch keine linksextremistische Aktion gegen den Überfluss?“
„Nee, nee. Wir sind doch hier nicht in Leipzig.“
Einen Tag später, also am Samstag, waren sie exakt um drei Uhr nachmittags nach 1921 gesprungen. Die Herbstmode der Zeit dabei nur leidlich imitierend, dafür aber mit großen Schals verhüllt, hatten sie den Weg zum Quedlinburger Bahnhof angetreten. Nur drei Stunden später waren sie in Leipzig angekommen. So sehr unterschied sich die Innenstadt gar nicht vom heutigen Bild, zumindest im Dunkeln. Nach einem kurzen Fußweg, auf dem sie den Passanten unauffällig aus dem Weg gingen, standen sie vor einem dreistöckigen Bau aus dem 18. Jahrhundert.
„Meine Herren! Das Alte Theater. Auf unserer Zeitachse würden wir jetzt auf dem Goerdelerring stehen.“
„Wow.“
„Und was machen wir hier?“
Karoline deutete auf ein Schild über der Kasse: Franz Werfels „Spiegelmensch“ – Uraufführung am 15. Oktober 1921. „Heute ist leider schon die dritte Aufführung. Ich hatte damals das Glück, vor zwei Wochen schon Karten zu haben. Ich besorge uns mal welche. Parkett oder Loge?“
„Wow.“ Der Brillenträger setzte sich auf das niedrige Geländer hinter ihm und starrte die beeindruckende Fassade des Gebäudes ohne zu blinzeln an. „Ist das jetzt wirklich echt?“
Der Buchträger erwiderte ungeduldig: „Klar. Jetzt hör schon auf zu wundern, ich glaube es hat gerade zum ersten Mal gegongt. Und würde sagen, dass die Loge dem Anlass schon angemessen wäre. Aber, Karoline, was ist mit den Regeln? Können wir da einfach so reingehen? Was, wenn wir in irgendetwas verwickelt werden?“
Karoline Salthusser winkte wieder nur energisch ab: „In was denn? Eine Saalschlacht etwa? Ach wo! Wir sind doch nur ganz einfache Zuschauer im Publikum. Wir beobachten! Wir hören zu! – Kommt ihr endlich? Ach, und macht bitte eure Handys aus. Klingelnde schwarze Spiegel gab es heute noch nicht.“
Selbstverständlich hielt das Stück, was es versprach, und besonders der Brillenträger konnte auch noch eine Stunde nach dem letzten Vorhang nicht sprechen. Zum Abschluss der Inszenierung hatte die Dramaturgie sich doch wirklich dazu entschlossen, die Widmung des Stückes noch einmal vom Chor wiederholen zu lassen:
„Unruh des Manns,
Der ohne Gegenwart zur Ferne süchtet,
Von einem Spiegelbild zum anderen flüchtet
Im Lügentanz!
Du führst die Spur,
die selbstverworfene, in deine Mitte,
Und gibst dem glaubenlosen Schritte
Einkehr, Gewißheit und Natur!
Und siegreich zeugt
Dein hehres Herz, müd der Zerfallenheiten,
Den neuen Weg aus Wahn und Eitelkeiten:
Des Schicksals Liebe, die sich atmend beugt!
Hinauf aus diesem Buch will ich ihn schreiten.
(Franz Werfel: Spiegelmensch. 1921.)
Irgendwann später, vielleicht früh am Morgen, auf dem Weg zurück zum Bahnhof, hatte sich Karoline vorsichtig zu ihm gebeugt und ihm ins Ohr geflüstert: „Zu verrückt, um nicht echt zu sein, oder?“
Wie sie es sich schon bei ihren letzten Sprüngen angewohnt hatten, nutzten sie auch heute einige Zeit danach, um jeder für sich seine Eindrücke festzuhalten, nur um sie sich dann gegenseitig vorzutragen. Nachdem sie bereits in einer dunklen Bahnhofsecke in Leipzig wieder ins Heute zurückgesprungen waren, saßen sie dabei jetzt im ersten Hex von Halle zurück in den Harz. Wie immer hatte jeder verschiedene Momente ihres Ausfluges bedeutsam genug gefunden, um sie aufzuschreiben. Heute allerdings gab es eine Begebenheit, die alle notiert hatten:
Einige Stunden nach der Vorstellung waren sie bis nach Connewitz gewandert, auf der Suche nach einer Bar, die noch offen hatte. Am Ende der Südstraße, der späteren Adolf-Hitler-Straße und heutigen Karl-Liebknecht-Straße, waren ihnen dabei einige junge Männer in schwarzen Hemden entgegen gekommen, die eine Art unfertige Standarte mit sich trugen. Vor der letzten offenen Tanzbar der Stadt blieben sie gemeinsam in sehr nahem Abstand zueinander stehen, was dazu führte, dass die drei bei dem Gespräch der Nazis sehr genau zuhören konnten, welche aber ohnehin offensichtlich gehört werden wollten. Karoline und der Buch- und Brillenträger beschrieben später fast wortgleich das belauschte Gespräch:
„Mensch, du Volltrottel! Was machen wir jetzt mit dem Lappen da?“ Er zeigte auf den Wimpel der Standarte. „‘Erwache‘ wird mit a und nich mit o geschrieben!“
„T‘schuldige ma‘. Hätt‘s ja was sagen können. Hast ja och Deutsch in der Schule gehabt, oder?“
„Kameraden! Ist doch egal jetzt! Bis Freitag haben wir noch genug Zeit, eine neue zu machen. Und außerdem im Hofbräuhaus werden eh alle wieder zu besoffen sein, um‘s mitzukriegen.“
„Na mit Sicherheit! Schließlich gilt es, einen Mordanschlag zu rechtfertigen. Da werden die Sozis ordentlich sauer sein. Dieser Sauhund von Auer hat doch bloß gekriegt, was er verdient hat. Hitler hat bereits klargemacht, dass er ab jetzt alles tun wird, um seine Macht weiter auszubauen. Und wir sind ja wohl nicht umsonst in die Sturmtruppe eingetreten!“
„Wart ihr schon mal bei so ner richtigen Saalschlacht dabei?“
„Nee, aber diese wird historisch, jede Wette!“
„Meint ihr, Hitler wird anlässlich des Reformationstages auch ein bisschen Luther zitieren?“
„Na hoffentlich! Das wird ne Gaudi da unten bei den Roten.“
„Was guckt‘n ihr so blöde da drüben?“
Karoline antwortete, ohne den leisesten Anschein von Einschüchterung: „Wir haben uns nur gefragt, ob ihr auch da reinwollt, zum Tanzen, oder ob wir uns vordrängeln dürfen. Ich tippe auf letzteres, ihr seht mir nicht besonders musikalisch aus.“
Die Nazis verstummten kurz, lachten aber dann übertrieben: „Ha ha, werte Dame. Aber sie haben recht, wir haben wichtigeres zu tun. Die Revolution schläft nicht.“ Und damit gingen sie weiter, die Hand zum Deutschen Gruße erhoben: „Einen schönen Abend noch allerseits, Sieg Heil!“
Das Lachen blieb allen dreien im Halse stecken, als sie sich ihre Notizen gegenseitig vorlasen. Kurz vor Quedlinburg, der Sonntagmorgen war bereits hell, hatten sie ihre Sprache für einige Momente wiedergefunden.
„Was für eine Nacht!“
„Ja, und das alte Jahrhundert hat uns sogar noch eine Stunde mehr geschenkt.“
„Wir wiederholen das bald, ja?“
„Aber nur, wenn die Regeln unumstößlich bleiben! Egal, wie vielen Nazis wir das Handwerk legen könnten. Klar?!“
„Jawohl, Promethea!“
„Alter! Was hab ich zu Nerdwitzen gesagt?!“
„Ja ja, sorry.“
Sie waren die einzigen, die aus dem Zug ausstiegen. Der Brillenträger wandte sich bereits zum Gehen: „Danke jedenfalls für dieses völlig verrückte Nachgeburtstagsgeschenk!“
„Bitte gern. Wir sehen uns. Schlaft gut!“
„Ach, Karoline, eine Sache noch. Da du jetzt weißt, wann unsere Geburtstage sind, wann dürfen wir uns denn etwas für dich ausdenken?“
Karoline Salthusser sah den Buchträger argwöhnisch an: „Wann du Geburtstag hast, weiß ich ja noch gar nicht. Aber sagen wir mal so, mein letzter Donnerstag war auch ziemlich, wie soll ich sagen, groß.“ Und mit einem Augenzwinkern verschwand sie in Richtung Stumpfsburger Brücke.
Bevor sich auch der Buch- und der Brillenträger vor dem Laden verabschiedeten, musste der eine dem anderen noch dabei helfen, die Auslage zu ändern. Zu lange schon waren dort die immer gleichen Bücher zu sehen. Eine Hälfte der Auslage hatte Weiblichkeit zum Thema, das andere Männlichkeit, von links nach rechts. Aus dem hinteren Teil holte der Buchträger einen noch gut erhaltenen Band. „Hier, ist zwar modernes Antiquariat, aber stell mal bitte in die Mitte.“
Der Brillenträger schmunzelte, als er den Titel las: Der lebendige Spiegel im Menschen. In Resonanz lernen – lösen – leben – lieben. Von Jaqueline und Olaf Jacobson. „Okay, ich geb auf für heute, einfach zu viel Content. Schönen Sonntag noch. Denk dran, die Klingel abzustellen! Süßes, sonst gibt‘s Saures, du weißt schon.“
Den kurzen Rest des Tages verbrachte der Brillenträger dann wieder mit schreiben. Über die Gegenwart. Über die Fugen in der Zeit. Über ihre Regeln. Und darüber, sie nicht zu brechen.
„Ja, ich weiß,
ich sollte Hitler töten,
oder beim Titanic-Bau das Schiff zerstören.
Aber hätt ich eine Zeitmaschine,
wär mein Reiseziel
in deinen Armen,
und da blieb ich liegen.“
(Sudden: Hitler töten. 2015.)

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