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Die Echo Maschine (S12:Midseason Break)

von | 2025 | 13. April | Berliner Kurzgeschichten, Die Kurzgeschichten

Bild: Sender und Empfänger. Berlin, Mitte April.

 

 

„Cause we’re all the same,
we breathe and complain.
There’s a lovely world out there,
a beautiful divine.
I wonder which direction
does this road will take this time?
There’s no time at all.“

(The Lathums: Reflections of Lessons Left. 2025)

 

 

 

Teil 1 – Talk, Talk, Talk

 

Bereits am Alexanderplatz hat der Brillenträger schon einen Sitzplatz erwischt, gegen 11 Uhr an einem Sonntag ist das im engsten Nadelöhr der Gegend überraschend glücklich, auch wenn seine lang eingeübte Strategie, sich am oberen Ende der Treppe zum Oberdeck zu positionieren, scheinbar ebenfalls aufgegangen ist; am Alex steigt immer irgendwer aus. Der frei gewordene Platz ist der mittlere einer Fünfersitzreihe, die gegenüber einer Vierersitzreihe steht, auf denen alle mit dem Rücken zum Fenster sitzen und sich verstohlen gegenseitig beobachten, wenn sie nichts wichtigeres zu tun haben, auch die Durchsagen knacken in mindestens fünf Sprachen aus den Boxen. Dem Brillenträger gegenüber steht ein Sohn neben seiner sitzenden Mutter, ihr Mann sitzt ihr links gegenüber. Auf dem T-Shirt des Sohnes, der auf Mitte 30 zu schätzen ist, steht in kantigen roten Druckbuchstaben auf dem schwarzen Stoff (der sich über einen beachtlichen Bierbauchansatz spannt): „EVIL GERMAN“. Seine Ray-Ban verdeckt die hohe Stirn, an die sich kaum noch Haar anschließt, frisch rasiert hat er sich vorgestern. Seine Mutter spricht mit ihm in einem lange eingeschliffenen polnischen Dialekt, der auch bei ihm noch Spuren hinterlassen hat. Sie wirken ernsthaft froh, auch der Vater lächelt hinter seinem langen Zauselbart und wenn er spricht, hören alle, wer hier wirklich noch Berliner ist. Auf der Treppe nach unten steht ein junges ukrainisches Paar, gerade so Anfang 20; der Brillenträger verscheucht den stummen Widerhall der Kriege schnell aus seinen Gedanken. An der Friedrichstraße schafft es ein weiteres Rentnerpaar bis aufs Oberdeck, zwei Mal lehnen sie das Angebot des Brillenträgers nebeneinander sitzen zu können, dankend ab. Auf dem Schwarzen Spiegel des Mannes erkennt er hebräische Schrift in einem Gruppenchat. Nach wenigen Minuten hat auch der Mann die kantige rote Schrift auf dem T-Shirt gegenüber gelesen und fixiert den polnischen Sohn nur etwas länger als es höflich ist. Genervte deutsche Eltern versuchen sich durch sie alle hindurchzudrängen, obwohl die vorangehende Mutter immer wieder nach hinten ruft, hier wäre auch bloß nichts frei. Und erst dann entdeckt der Brillenträger noch eine weitere Mutter/Tante, die neben all dem und ihrer Tochter/Nichte sitzt und liest, was diese ebenfalls tut. Inklusive ihm selbst sind also drei 3 von circa 50 Menschen in Sichtweite am Lesen und/oder Schreiben, alle anderen wischen über Schwarze Spiegel oder haben eben wichtigeres zu tun: Die Wortfetzen der vielen Gespräche dringen nur fragmentiert bis zu ihm. Am Zoo wird es dann nochmal voller, noch mehr genervte, also viel zu viel redende deutsche Eltern steigen ein, ein Vater beginnt schon seinen kleinen Sohn zu ermahnen, da hat der noch gar nichts gemacht. Auch seine Sonnenbrille sitzt am oberen Rand seiner Stirn, darunter gegeltes, dünner gewordenes blondes Haar, „Bleib hier, Oscar!“ Echos und immer noch weitere leise Echos verdichten den Raum so sehr, dass der Brillenträger ganz vergisst, dass seine Kopfhörer im Rucksack zwischen seinen Beinen darauf warten dabei zu helfen, dieser Kakophonie wenigstens akustisch zu entfliehen. Die Menschen stehen inzwischen so gedrängt, dass die Türen nicht schließen können. Der polnische Sohn kritisiert das schlechte Polnisch der Durchsagen, die Lichtschranken an den Türen werden trotzdem frei gemacht. Am Wannsee steigen genau null Menschen aus, und Oscar fängt an zu quengeln. Sein Vater beendet jede Erklärung mit einem Schreckensszenario: Wenn Oscar jetzt nicht das und das macht, dann könnte Mama das und das passieren. Oscar verstummt und lässt sich dann zum Bilderbuchanschauen überreden, und seine noch kleinere Schwester sitzt nur staunend daneben. Und immer noch neben oder vielleicht auch schon jenseits des Trubels sitzen Mutter/Tante und Tochter/Nichte und lesen immer weiter, nur dass vor den Augen der jüngeren jetzt auch Bilder dazugekommen sind, die Graphic Novel, für die sie fast schon etwas zu alt wirkt, heißt „Guts“. Der Magen des Brillenträgers beginnt sich zu entkrampfen, als sie den Bahnhof in Potsdam erreichen und sich die allermeisten zum Aussteigen bereit machen.

Vor ziemlich genau 48 Stunden war er mit seiner Mutter am Zoo ausgestiegen, den Freitag Nachmittag wollten sie noch zusammen etwas tschotschen, bis sich am Abend ihre Wege trennen sollten. Am Morgen hatte ihm seine Nachbarin offenbart, sie wäre nach der Wende noch nie in Berlin gewesen, was er jetzt immer noch staunend seiner Mutter erzählte, die sich spontan dazu entschlossen hatte, ihn zu begleiten, um dort Freunde zu besuchen und also nur mit dem Kopf schütteln konnte. Also hatte er wichtigeres zu tun als die Zugfahrt dazu zu nutzen, weiter an seiner Chronik zu schreiben, was er sonst sicher tief versunken getan und dabei die Spiegelungen des Außen in den Fenstern übersehen hätte. So musste er nicht darüber schreiben, dass es US-amerikanischen Biologen gelungen war, einen synthetischen Weißen Wolf zu erschaffen, etwas das fast schon zu gut in seine Chronik gepasst hätte. Genauso wie darüber nicht, dass Google ihm erst vor wenigen Tagen ungefragt „Gemini“ auf seinen Schwarzen Spiegel gespielt hatte, auch nur etwas, das die Symbolik seines Textes wieder mehr als überladen hätte. Oder auch darüber nicht, dass er ebenfalls vor wenigen Tagen erst erfahren hatte, dass endlich der „Metamodernismus“ angebrochen war, obwohl er dachte, darüber schon seit über fünf Jahren zu schreiben. Und auch nicht darüber, dass erst gestern die siebente Staffel von „Black Mirror“ Premiere gefeiert hatte, „darker, smarter, more twisted and human than ever“ (The Guardian); Allegorien-Overkill once again. Aber auch zum Lesen kam er nicht. Weder las er den Artikel in der Taz, die er in Magdeburg gekauft hatte („Der Macht nachplappern“), in dem es um den Politik-Überdruss durch Politik-Talkshows ging, noch blätterte er in dem Buch, das er sich für eventuelle ruhige Momente eingepackt hatte; „The Echo Machine“ (David Pakman) sollte bis zu seiner Rückkehr in 48 Stunden stumm im Rucksack bleiben. Stattdessen unterhielten sie sich, als ob die Welt aufgehört hatte unterzugehen, und nur unterbewusst bereitete er sich darauf vor, bald davon zu erzählen, wie Menschen davon erzählen, wie sie ständig davon erzählen könnten, wie, warum und wozu Menschen von der Welt erzählen.

Auf der anderen Seite der Gedächtniskirche fand er dann zuerst (und wie geplant) endlich die letzten noch verbliebenen Basketballschuhe, auf denen Kobe Bryants Schriftzug zu lesen war, und das auch noch in seiner Größe; der Nagel an der Wand, an die er diese irgendwann hängen würde, war immer noch nicht eingeschlagen. Sie vertrödelten die restliche Zeit in der Dachetage, der siebenten, des KaDeWe bei Fischsuppe und Brötchen, tranken später im Keller vom Dussmann heiße Schokolade und aßen dann auf einem Balkon im südwestlichen Friedrichshain Abendbrot, unten auf dem großen Spielplatz spielte niemand, und sie wunderten sich.
Der Weg von der Singer zur Warschauer kam ihm kürzer vor als gedacht, hinter dem Berghain war auch noch lange nichts los, und die Mitte vom Friedrichshain sah irgendwie schon mal weniger nach Prenz’lberg aus. Vom ersten der nächsten Balkons aus bewunderte er dann eine bald 50 Meter hohe Platane im Innenhof und vom zweiten aus schaute er mit wackligen Knien auf die Freitag Abend-Touris hinab.
Auf ihrer Kiezquerung kurz nach Sonnenuntergang hörte der Brillenträger auf der Mainzer das erste Mal von Panzern, die hier noch vor weniger als 50 Jahren aufgefahren waren, während ihm auffiel, dass mit jedem Meter weiter nach Osten die Kinderwagen- und -tragetücherdichte zunahm. Die Bars und Cafés waren restlos besetzt, vor einigen Türen hatten sich kleinere Schlangen gebildet; der Berliner Abendwind wehte zufrieden. In der WG, die heute am anderen Ende vom Friedrichshain aufgelöst wurde, lernte der Brillenträger dann zwei Augsburger kennen, die sich am Küchentisch darüber stritten, ob, wie und warum man die AfD (nicht) tolerieren konnte oder musste. Mit dem überzeugenderen, weil furchtloseren, weil informiertern der beiden spazierte er nach Mitternacht zurück an die Warschauer, wo sie noch länger als eine Stunde, hoch über dem Partyvolk, von der Arbeit sprachen; ihr Host sollte ihnen erst Stunden später folgen, als sie beide unter dem gedämpften Lärm der Nacht eingeschlafen waren.

TWP saß hellwach, nur vielleicht noch etwas morgengrummelig in seinem Wagen und wurde von allen auf dem Boxi freundlich begrüßt. Nur ausgesucht grüßte er zurück, in nicht mal drei Wochen würde er zwei Jahre alt sein. Der Kühlschrank seiner Eltern, gleich hier zwei Straßen weiter, musste so leer sein, wie sie dem Brillenträger gerade erzählt hatten: Nach einer gemütlichen Runde hatten sie Essen für eine ganze Woche dabei. An jedem Stand unterhielten sich die Eltern fröhlich mit den Verkäuferinnen und Verkäufern, an jedem Stand ein anderer Dialekt. Als er endlich Musik hörte, begann TWP zu strahlen und auch seine Eltern waren mit dem Einkauf wie immer glücklich, als letztes hatte ein Fleischer mit einem Beil zwei große Koteletts für sie geschlagen, die Sonne empfing sie Ecke Grünberger und Gärtner, auf den Fassaden ruhten die Schatten der Bäume des Wochenendmarktes.

Und eine halbe Stunde später als geplant (Samstag, 10.30 Uhr) sitzen dann der andere Brillenträger und der Brillenträger zurück an der Warschauer gemeinsam mit noch zwei weiteren Brillenträgern und zwei auch ohne Brille scharfsichtigen Männern am ausreichend großen Küchentisch. Das bis hierhin noch hoch geheime Geheimpodcastprojekt wird schlagartig ein gemeinsames Geheimnis, das nicht mehr lange ein Geheimnis sein will; die Mikros hängen gefühlt schon im Raum, da hat die Vorstellungsrunde noch gar nicht begonnen.
Des mehr als angebrachten Salami-Party-Gags entledigen sie sich gleich mit, als sie zunächst bedauern, dass die ebenfalls eingeweihte Mikrobiologin nur beste Grüße senden kann. Vom Kopfende des Tisches aus, mit dem Rücken zum Fenster, beginnt der andere Brillenträger zu erzählen, warum er dort sitzt wo er gerade sitzt. Ursprünglich aus dem Harz, seit nunmehr 12 Jahren in Berlin, Vater von TWP und Mann seiner Frau, beide grade nur wenige Katzensprünge weiter östlich vielleicht kurz vor einem Mittagsschlaf. Des Weiteren ist er interessiert am Entstehen und Wirken eines gesellschaftlichen Echos. Einen Uhrzeigerschritt weiter nimmt dann ein nächster Brillenträger den Synthetikball auf, der von allen, zumindest für einen guten Anfang, akzeptiert wird. Auch er ist Vater, nur schon etwas länger, sein Sohn bewirbt sich grade bei der Schutzpolizei. M kommt ursprünglich aus dem Banking, hat dann aber die Publizistik und das gute Leben für sich entdeckt und macht sehr schnell und dennoch sympathisch klar, was seine Profession ist: Kommunikation, oder: Sozialingenieurswesen. Nichts und alles wirkt locker improvisiert, sogar eher alles als nichts davon. Als nächstes wandert der Ball, auf dem tatsächlich in Kursivschrift empowernde Sprüche stehen, weiter in Richtung anderes Kopfende und landet beim ersten der beiden Nicht-Brillenträger. P gibt sofort zu, erst seit einer Woche eingeweiht zu sein, und ja, er ist auch Vater. Bis vor kurzem hat er ausgiebig beim Film gearbeitet, hat weit davor mal BWL studiert und verrät, dass er unter anderem in Berlin Yoga lehrt. Dem anderen Brillenträger gegenüber sitzt der Augsburger und hat, wie auch der Brillenträger, sein Notebook vor sich aufgeschlagen. Gestern Abend hatte er ihm noch erzählt, woher er mit seinem großen Rucksack gerade gekommen war (Hiddensee) und dass er seinen Sohn fast eine Woche nicht gesehen hatte. Genauso schnell wie eben schon bei M wird auch allen die Profession von J deutlich: Ebenfalls Kommunikation. Und zwar High End. Folglich ist er selbständiger Berater u.a. für NGOs in Berlin oder auch die GEW. Als vorletztes nimmt dann auch der Host, wieder ein Brillenträger, den Ball volley und prescht schonmal mit den ersten Ideen für das Projekt nach vorne. C hat als ex-Linker sichtlich den Kanal voll und sucht einen Weg, den Medien mal ein ordentliches Zeugnis auszustellen. Wegen Gründen ist er schon immer mehr der Hörer als Leser gewesen und kann deswegen als einziger glaubhaft Podcasts mit Büchern vergleichen, also mit guten Büchern. Seine Frau, A, verzichtet übrigens auch darauf, sich mit an einen Salami-Tisch zu setzen, kann sich aber vorstellen, die PR zu übernehmen, sollten die Würste hier tatsächlich bei der Stange bleiben. Zuletzt nimmt der Brillenträger den Ball aus der Runde, erklärt kurz seine enge Verbindung zum anderen Brillenträger sowie das Notebook vor ihm. Offensichtlich ist er der Autor in der Runde und das bringt ihn abschließend dazu, die anderen freundlich auf die selektive Wahrhaftigkeit der Tastatur vor ihm hinzuweisen.
Die Raucher der Tafelrunde atmen nach der ersten Stunde auf dem Balkon zum Hof kurz durch und bestaunen erneut die mächtige Platane. Dann stürzen sie sich in die Vorbereitung von Runde zwei, von beiden Kopfseiten aus, alle sitzen wieder auf ihren Plätzen wie zuvor, wird der erste freiere Teil der ersten Redaktionssitzung eines noch namenslosen Podcasts eröffnet. C konkretisiert erste Funktionen des Formates, und J hält die umgehend einsetzende Dekonstruktion des selben gekonnt im Zaum. Also leitet C zu den Regeln des Rudels über, worüber auch schnell Einigkeit herrscht: Klare Sprache, schonungslos, aber bitte nur kein Bashing. Das Ziel ist ja nicht die bloße Erweiterung der zersplitterten Diskurse, sondern im besten Falle doch ihre Wiederverschmelzung. Dabei eventuell zu verteilende „Rollen“ werden von der Hälfte abgelehnt, die Diskussion darüber von J nach hinten verschoben und durch eine Weiterentwicklung von Runde 1 ersetzt: Wie ist die Mannschaft eigentlich zusammengekommen? C beginnt zu erzählen, er habe dem anderen Brillenträger von der Idee erzählt, als es um das Verlangen nach politischer Wirksamkeit abseits des Parlamentarimus ging. Dabei hatte er als erstes J im Hinterkopf, was allen sofort einleuchtete. Dann hatte der andere Brillenträger den Brillenträger vorgeschlagen, dann hatte C M vorgeschlagen, auch ihn wegen dessen dezidierter Meinung. P ist, wie gesagt, sehr spontan dabei, und ganz wichtig: C ist nur der Host und nicht der „Chef“ der Gruppe; Hierarchien wären sooo 20. Jahrhundert. Über das Setting entbrennt dann eine einvernehmliche Diskussion, bei der nur noch deutlicher wird, was für Sprachfüchse hier am Tisch sitzen. Die Mikros rufen förmlich aus dem Arbeitszimmer nach Menschen, die sich darüber unterhalten, wie die Lage ist, und vor allem darüber, was und wie wir etwas darüber wissen. Das alles natürlich vollkommen und absolut und total ohne jeglichen Humor, die Leute da draußen sollen ja schon auch erreicht werden, und außerdem ist „Learning by Doing“ immer noch der beste Weg irgendwas zu schaffen. Die Tastaturen von J und dem Brillenträger klacken leise im Takt ihrer Echos.

Das latente Impostersyndrom einiger verabschiedet sich als es an die „Blattlinie“ geht, ein Wort das nicht nur dem Brillenträger für den Moment noch zu hochgestochen klingt und bei einem Podcast auch irgendwie nur schräg haftenbleiben will. Dass sich hier niemand mit einer Idee gemein machen würde, auch nicht mit einer guten, braucht gar nicht erst ausgesprochen werden, eine Position irgendwo „beyond“ erscheint allen als grundsätzlich, aber auch der Elfenbeinturm soll bis auf weiteres geschlossen bleiben. Leitend erscheint allen die Neugierde daran, wohin Gespräche und Erzählungen führen, wann sie Lust auf Komplexität machen und wie man dem allgemeinen Positionierungsdruck trotzdem noch entgegen wirken kann.
Beim Skizzieren des Szenarios, stößt M mit einem Ansatz aus dem Improtheater offene Türen auf, „make others shine“ meets „Sokratisches Gespräch“, wieder werden Sprechrollen ins Gespräch gebracht und schnell wieder als unauthentisch und zu sehr parodieanfällig gebranntmarkt, auch wenn sie als Form der Kritik am Politiktheater in den Medien, einem inzwischen fast schon puren strategischen Populismus, auch nur irgendwie noch Stand halten will. Die entfachte Grundsatzdiskussion vermengt sich schnell mit weiteren Konzeptideen, niemand fällt dem anderen ins Wort, aber die Geduldsfäden werden ein erstes Mal kürzer: Mit welchen Gefühlen arbeitet die Politik? Können und müssen wir die nicht auch wieder rausnehmen? Verstärken, bedienen oder erzeugen die politischen Medien ihr Publikum? Wie meta müssen und wollen wir eigentlich sein? Machen wir uns Gedanken über eine Zielgruppe? Laden wir Gäste ein? Wie hoch kann der Grad der Rubrifizierung sein, ohne dass es peinlich wird? Lebt der Relefant eigentlich noch? Brauchen wir ein Motto? Oder eine Haltung? Vielleicht sogar Antworten? Der Brillenträger wittert auf seiner selbstausgelegten Spur doch noch eine „Blattlinie“, stimmt aber schnell zu, dass es notwendig ist, auch mal keine Haltung zu haben und auch mal keine Antworten, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, ohne zu viel Verzweiflung, aber, nochmal, absolut und ohne jede Ausnahme ohne jeglichen Humor; normal halt. Nach einer weiteren Stunde sieht sich J in der Lage, etwas erstes konzeptionelles festzuhalten. Er schmunzelt bei dem Wort „Bürgerdialog“, stellt dann aber einen leuchtend roten Faden vor: Zwei oder drei Sprecher werden zu Beginn, so unvorbereitet wie möglich, mit aktuellen Headlines von vielleicht ungenannten Publikationen konfrontiert. Für den weiteren Verlauf des Gesprächs bereitet eine Redaktion Kontext in mehreren Stufen vor, der die spontan gebildete Haltung der Sprechenden nach und nach anreichert, den Kontext immer weiter ausdifferenziert, und zwischendrin wird immer wieder die Rezeption reflektiert und aktualisiert; Problemraum, Lösungsraum, Metaraum; zwei Brillenträger witzeln schon leise über einen Podcast zum Podcast, Universen wachsen schnell. Alle sind sich einig, dass der Diskurs als Begegnung verstanden werden soll und nicht als politische Debatte, die nur den Ausgangspunkt der reise bilden kann und sich damit ihre Chance auf Veränderung bewahrt. Amen. Bei so viel Komplexität werden sie einen „Erzähler“ brauchen, einen Host, der C ja aber eigentlich schon ist, wodurch dann auch wieder mehr Raum für noch mehr Komplexität frei wird, die Anzahl der Gäste lässt sich erweitern.
Nach drei Stunden sitzen sechs Egos erleichtert am Tisch und sechs Kommunikationsprofis machen drei Kreuze. Der andere Brillenträger freut sich verhalten darüber, wie wirklich machbar das Projekt im Moment erscheint; so oft passiert das nicht mehr im Friedrichshain. Nur über einen Aspekt haben sie alle nur nebenbei gesprochen, aber was die „Themen“ angeht, da wird sich wohl was finden lassen.

 

 

 

Teil 2 – Worüber man nicht schreiben kann, darüber muss man reden

 

13. April

S12:Ep9(u) – Careless Whisper

noch glühende Brandmauerreste in der Provinz:
Ulrich Thomas (CDU Quedlinburg)
fordert von Merz die Öffnung zur AfD!
Und verurteilt die Merkel-Politik!
Jusos halten öffentlich dagegen

Grokoalitionsvertrag steht (Mi):
Verschärfung der Migrationspolitik,
Steuererleichterungen für die Wirtschaft,
Industriestrompreis,
Wehrdienst nach schwedischem Modell (freiwillig),
Klingbeil arbeitet als Brückenbauer,
immer noch keine Ministernamen,
aber Ministerien:
CDU: Kanzleramt, Wirtschaft/Energie, Auswärtiges,
Bildung u. Familie, Gesundheit, Verkehr, Digitalisierung
CSU: Landwirtschaft, Inneres, Forschung
SPD: Finanzen, Justiz, Arbeit/Soziales,
Verteidigung, Umwelt/Klima,
Zusammenarbeit/Entwicklung, Bauen
CCC warnt vor der „Überwachungshölle“
Dieter Nuhr verklärt den Aufstieg der AfD bei Maischberger
– AfD in der ersten Umfrage vorn
– So: Merz rudert bereits zurück bei Mindestlohnerhöhung und Senkung der Mehrwertsteuer
Fabian Lehr: „Wir werden deine Arbeitszeit verlängern. Wir werden dich, sobald du arbeitslos wirst, in den elendesten Mindestlohnjob prügeln oder dich auf der Straße verrecken lassen, wenn deine Miete zu hoch ist. Wir werden demnächst deine Kinder einziehen, um notfalls für die Interessen des deutschen Kapitals an der Ostfront zu verrecken. Aber, hey – dafür schieben wir auch deine ausländischen Nachbarn ab! Deal?“

DAX bricht am Mo um 10% ein,
der Rest der Welt ebenfalls weiter auf Talfahrt,
ETFs -15% in zwei Wochen,
EU will verhandeln (Industriezölle),
China soll bald noch mehr abkriegen,
„only the weak will fail“ (Kapitaldarwinismus?),
„90-Tage-Pause“ war (erst) nur Fake (US-Kurse kurzzeitig up 8%),
der DAX legt am Dienstag wieder um knapp 2% zu,
Mi: insgesamt 104% Sonderzölle gegen China,
EU will doch nicht mehr verhandeln,
per TS: neue Zölle werden (doch) 90 Tage ausgesetzt,
außer gegen China: 125%,
US-Börse erholt sich sichtlich (up 9%),
Vance nennt Chinesen „Peasants“ (Bauern!1!),
China sperrt Export von seltenen Erden,
Do: EU setzt die Vergeltungszölle ebenfalls aus,
Trump erhöht gegen China auf 145%,
Dow Jones stürzt wieder ab (down 5%),
Sa: Ausnahmen für Smartphones und PCs aus China

 

Don’t be a Panican!
oder: „Happy Tariff Days“
oder: Ist das etwa Marktmanipulation?

Bibi blitzt im Weißen Haus ab
(Trump will mit dem Iran verhandeln, Zölle gegen Israel bleiben)
Trump während dem Crash („Black Friday“ + „Black Monday“):
3 Tage Golf-Turnier, das er natürlich gewonnen hat
Supreme Court erlaubt illegale Abschiebungen
Trump: alle „Hands Off“ – Protestanten
haben eine Million each bekommen
von Soros!!1!
(erstes Wochenende: ca. 5 Millionen landesweit auf den Straßen)
– Neues Dekret: Ausbau der Kohleverbrennung!
– Sen. John Kennedy attacks AOC
as the „reason there are directions on a shampoo bottle“
IRS-Chefetage tritt zurück (Tax-Data about „illegal aliens“)
Marjorie Taylor Greene under fire for „gaming the market“
Anonymous trollt die Trumps in Ausmaßen
– Schulen in New York machen einfach weiter DEI
– „Make Americas Showers Great Again!“
– werden die angekündigten Steuersenkungen die GOP weiter spalten?
Vance lässt Chefin der US-Basis auf Grönland feuern
– „Trump Prosecutor“ auf Phil Murphy (Dem, NJ) angesetzt,
weil er „illegal aliens“ versteckt, oder ICE anweist, Befehle zu ignorieren
– „Fight, Fight, Fight“-Portrait im Weißen Haus (anstatt Obama)
AOC/Bernie weiter auf Tour (L.A. (36.000), Utah, Idaho, Montana)
„Mr. Satan“ wollte Trump killen, FBI regelt

 

Kriegsprotokoll. Schreibtisch. Deutsche Heimatfront. Letzte Reihe.
Woche 161.
Niemand hat die Absicht, die Ukraine aufzuteilen. Montag: Die Woche beginnt erneut mit wenig Neuem von der Front. Von Trumps Zollpaket ist Russland ausgenommen, die Ukraine nicht. Dienstag: Selenskyj bestätigt, dass sich auch im russischen Belgorod ukrainische Truppen befinden. Außerdem weiß er noch, dass inzwischen sogar Chinesen für Russland kämpfen. Mittwoch: Der dritte Tag in Folge ohne Liveticker. China dementiert. Donnerstag: Die „Koalition der Willigen“ trifft sich in Brüssel und hofft auf die USA.
Freitag: Pistorius darf weitere Waffenlieferungen ankündigen. Der US-Sondergesandte Witkoff trägt Sonnenbrille in St. Petersburg. Samstag: Witkoff und Putin sprechen mehr als vier Stunden, auch über die Ukraine. Kellogg schlägt in der Times Kontrollzonen „wie in Berlin“ vor, westliche Truppen westlich des Dnipro, aber es geht „nicht um eine Aufteilung der Ukraine“. Sonntag: „Palmsonntag. In der ukrainischen Stadt Sumy gehen zahlreiche Menschen in die Kirche. Genau zu diesem Zeitpunkt lässt Putin Raketen auf die Stadt abschießen. Die Folge: dutzende Tote, darunter viele Kinder. Der Drecksack im Weißen Haus interessiert sich derweil allenfalls dafür, welche Bodenschätze er der Ukraine stehlen könnte, und lässt seinen Freund Putin ansonsten ungestört weitermorden. Europas Rechte freuen sich über Russlands erfolgreiches Abschlachten von Zivilisten, Europas Linke meint, irgendwie seien doch alle gleich schuld und man solle Frieden schaffen ohne Waffen, was zwar nicht klappt, wenn ein schwer bewaffneter Raubmörder angreift, aber was kümmert das die Schöngeister, denen nicht die Bomben und Raketen in die Städte hageln?“ (Bernhard Torsch). Der Tagesschau-Liveticker ist wieder da. Polen baut seinen „Ostschild“ aus (Panzersperren und Minenstreifen). Ukrainische Geschosse treffen russische Energieanlagen. Ein F-16 wird vom Himmel geholt. Kellogg sieht „die Grenzen des Anstands überschritten“.

 

– Militäroffensive in Gaza wird ausgeweitet,
der Streifen wird in drei Teile geteilt

– „Generalstreik“ in Argentinien

– Expo in Osaka floppt

Paige Bueckers wins it all (and is going to Dallas)
Florida Gators are winning too
– NBA-Season over, Luka: standing ovations for 45 in return to Dallas,
Jokic 3rd player ever to trip doub in a season,
Chat GPT sagt den Champion voraus: OKC

– wieder mal der wärmste März aller Zeiten
– erster Waldbrand im Harz (Do)

 

***

 

Nachdem sich fast die Hälfte der Mannschaft verabschiedet hatte, und bevor das angeschobene Projekt angenehm schnell in ihnen verhallt war, stand J im Wohnzimmer vor drei Brillenträgern und sprach so frei wie bekümmert und so ausführlich wie verkürzt weniger über sich als über seine Familie. Die Weltlage war wieder nur das ferne Hintergrundrauschen geworden, vor dem die eigenen Wirklichkeitssplitter nur noch unheimlich friedlich funkeln konnten. Er versprach, sein Grundlagenpapier sobald wie möglich zu schicken. Es zog ihn sichtlich zurück, Frau und Sohn warteten schon zu lang.
Die drei verbliebenen Brillenträger zog es dann bald raus in die Sonne, zwei hatten sich für ihre schwarzen Gläser entschieden, zwei Spätibesuche später saßen sie im kleinen Park rechts neben dem Berghain und guckten Leute. Der Cat-Walk lag betongrau zwischen den ergrünten Wiesen und wurde im Moment wenig genutzt. Dementsprechend enttäuscht sah auch der Jungesellinnenabschied aus, der schon wieder nüchtern in feinstem Berghainzwirn kaum Aufmerksamkeit erregte. In seinem schwarzen Mantel kam der andere Brillenträger schnell ins Schwitzen, sitzend auf einer Bank. Auf dem Weg zurück entschieden sie sich für den besten Burger im Kiez und eine halbe Stunde später warteten sie auf im vierten Stock an der Warschauer auf eine Flaschenpost von Goldies. Das Echo des Podcasts saß schweigend genießend mit am großen Tisch. Zum Produzieren war heute niemand mehr gewillt, sie waren weiter gekommen als zu erwarten gewesen war. Stattdessen bauten sie im Wohnzimmer eine Runde „Bezzerwizzer“ auf, ließen das Podcastecho am großen Tisch zurück und dachten sich beim Spiel neue Namen für neue Burgerläden aus, dabei machte „Kleinburger“ das Rennen. Kurz nach Sonnenuntergang gewann der Brillenträger die letzte Runde mit der besseren Antwort zu Trotzki und einem richtig geratenen ersten Erscheinungsjahr der Bild-Zeitung (1952). Als dann auch der andere Brillenträger nach Hause gegangen war, um die Laken von TWP zu waschen, wollten die beiden letzten Brillenträger den Abend standesgemäß ausklingen lassen. Aber die letzte Ausgabe von „Piratensender Powerplay“ hörten sie kaum zehn Minuten lang. Der Brillenträger schlief in dieser Nacht durch; Heimat kann das. Im Traum tanzte er mit Echo an den Berghängen im Bodetal, und sie erzählte ihm Geschichten von Narziss.

Zurück im Jetzt, kurz hinter Potsdam erweitert sich sein Blick, Häuser werden durch Bäume ersetzt, die Gespräche werden weniger. Noch vor Brandenburg findet der Brillenträger einen Doppelzweier, dafür hat im Zug, in Brandenburg, niemand Netz, und das Foto vom Titel seiner neuen Kurzgeschichte, das er in der geheimen Signal-“Podcast“-Gruppe posten will, bleibt im Äther stecken. Also beginnt er zu schreiben und blickt erst in Magdeburg-Buckau wieder auf.
Auf dem vorletzten Bahnsteig seines Wochenendes drängen sich zu viele in den Zugteil, der von Halberstadt aus nach Goslar weiterfahren wird, im anderen, nach Thale, findet er mühelos einen Sitzplatz mit Beinfreiheit und einem kleinen Tisch und schreibt bis Ditfurt weiter.
Als die Sonne zum letzten Mal an diesem Wochenende untergeht, schaut er am Schreibtisch auf den kleineren seiner Schwarzen Spiegel. Seine Mutter schickt Bilder aus Berlin, sie bleibt noch eine Nacht, morgen werden die Züge leerer sein. In eins der Bilder muss er näher reinzoomen: Auf einer Fassade in den Hackeschen Höfen setzen sich Selbstverständlichkeiten gegenseitig unter Druck:

 

„richtig oder falsch
wichtig oder unwichtig
wirklich oder unwirklich
gerecht oder ungerecht
schön oder häßlich
vollständig oder unvollständig
bestimmt oder unbestimmt
krank oder gesund
gleich oder verschieden
gesetzlich oder ungesetzlich
recht oder unrecht
ganz wenig oder ganz viel
rein oder unrein
hoffnugsvoll oder pessimistisch
bedeutend oder unbedeutend
schwach oder mächtig
entschlossen oder zögerlich
brauchbar oder nutzlos
angemessen oder unangemessen
vernünftig oder unvernünftig
sicher oder gefährlich
schwierig oder einfach
frei oder unterdrückt
gehorsam oder ungehorsam
zufrieden oder unzufrieden
gegeneinander oder füreinander
sozial oder asozial
politisch oder unpolitisch
wissend oder unwissend
schuldig oder unschuldig
aktiv oder passiv
privat oder öffentlich
vergeblich oder erfolgreich
billig oder teuer
auserwählt oder verstoßen
autoritär oder freizügig
bewußt oder unbewußt
gewaltlos oder gewalttätig
rechtmäßig oder ungerechtmäßig (sic)
veränderbar oder festgelegt
geschützt oder schutzlos
heimlich oder offen
lächerlich oder ernsthaft
… “

 

Der Rest der Worte verschwindet hinter Grünpflanzen im Bildvordergrund; mit was sich Fassaden so alles geschlagen geben müssen; jede Zeile kein potenzieller Podcasttitel. Und von der Fassade des Hauses auf der anderen Seite des weltkulturellen Hofes dringt noch ein letztes Echo des dort residierenden Stars bis auf seinen kleinen Balkon.

 

 

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