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Drei Tage am Meer (S8:Ep8)

von | 2022 | 26. Dezember | Die Serie, Staffel 8 - Fallen Leaves

 

Es gibt ihn nicht immer,
aber immerhin
öfter als du gedacht hast.
Natürlich nur dann,
wenn du am Ende bist,
findest du sie,
die schmale heimliche Stelle,
das Schlupfloch, die Hintertür.

 

An der Theke des Bordbistros
steht niemand an,
auf der „Gellen“,
von Vitte nach Stralsund,
sind keine zehn Menschen.
Unter dem Bug
knirschen immer noch die Eisreste,
die auf dem Bodden treiben,
der Himmel ist noch schwarz,
es ist kurz vor halb acht
am zweiten Weihnachtsmorgen.
Die Hand,
die mir den Kaffee über die Theke reicht,
steckt in einem dieser feschen Weihnachtspullis,
den viele Bands jedes Jahr raushauen.
Dieser hier ist schwarz, rot, gold,
hat ein markantes R (für Rammstein)
auf der Brust
und trägt vermutlich
das Motto des ausklingenden Jahres:
Ein Baum brennt.

Vor fünf Tagen
waren meine Familie,
die drei Hunde und ich
auf die Insel gereist,
nur ich fahre heute schon zurück;
ein Herz kann nicht
an zwei Orten gleichzeitig schlagen.
Und, was soll ich schon schreiben?
Drei Tage können vielleicht nicht alles,
aber eine ganze Menge ändern.
Vor Weihnachten waren die Temperaturen
schon wieder in Richtung Frühling spaziert,
bei der Abfahrt
zeigten die Thermometer im Harz
bereits bis zu 12°C;
wie das zu Weihnachten
ja keine Seltenheit mehr ist.
Auf den Straßen in Sachsen-Anhalt
galt Eisregenalarm,
und mich hatte die Erkältung
doch noch eingeholt:
Selbst in der Parfümerie
in der Quedlinburger Steinbrücke
hatte ich nicht das mindeste gerochen.
Der Covid-19-Test blieb aber negativ;
die Reisefähigkeit also unbeeinträchtigt.
Am Abend vor der Abreise
lagen die Nerven
aber nicht nur bei mir blank.
Kurz vorm Schlafengehen
lud mich mein Schwesterherz
per Telefon noch
zum allweihnachtlichen Familiencrash ein.
Gut eine halbe Stunde dauerte das Ritual,
dann waren wir uns einig,
doch gemeinsam zu fahren,
und ich hatte die Hoffnung,
dass es sich damit
rein familienkrachtechnisch
vielleicht schon erledigt hätte
für dieses Jahr.

Und nebenbei
hatte ich mir großes vorgenommen:
Das erste, echte Newsdetox
der letzten drei Jahre.
Wirklich, und ganz ohne Schummeln,
absolut keine Nachrichten.
Keine Tagesschau,
kein Facebooknewsfeed,
nicht mal NBA-Ergebnisse.
Das Internet höchstens
für Whatsapp mit Freund*innen
oder Postrockvideos auf Youtube
zum Einschlafen nutzen.
Drei Tage lang
kein Weltuntergang.
Drei Tage lang
kein Weltuntergangsgesang.
Und, ja:
Drei Tage lang
ging trotzdem
alles seinen Gang.

Und schon bei der Anreise wurde klar:
Sogar noch sehr viel ruhiger als erhofft.
Beinahe noch ruhiger,
als ich es mir verdient zu haben glaubte.
Die Insel lag verheißungsvoll
in dichten Nebel gehüllt,
der Bodden war bereits seit Wochen vereist,
an den Bruchkanten der Schollen
saßen die Singschwäne
und schwiegen in der Dunkelheit.
Die Fähre war gut besetzt,
auf der Ladefläche lagen ein paar Weihnachtsbäume,
und in der hintersten Ecke des Fahrgastraumes
saß der Bürgermeister
hinter seiner FFP-2-Maske versteckt
(wozu er allen Grund hat,
wie mir meine Schwester verriet).
In Vitte angekommen,
wurde die Ruhe beinahe gespenstisch:
Sämtliche Hotels haben geschlossen;
das im Sommer erst neu renovierte Hotel zur Ostsee,
das renommierte Godewind,
der Kleine Prinz;
hinter den allermeisten Fenstern
herrschte totale Finsternis.
Alles lief also weit über Plan,
die stillen Tage konnten beginnen.
Weißes Privileg,
dein Name bleibt Hiddensee.

 

Tag 1

Am Morgen werde ich
tatsächlich von Kaffeeduft geweckt;
ich kann wieder riechen!,
die Seeluft wirkt ihren Zauber.
Nach dem dürftigen Frühstück
nehme ich am teuersten Feiertagseinkauf aller Zeiten teil,
im Edeka stapelt sich die Ware
aber nicht nur wegen
der ohnehin schon zu hohen Preise
(Inselaufschlag),
denn außer den Einheimischen
scheint wirklich niemand hier zu sein.
Im Zeitungsladen in Richtung Kloster
besorge ich eine SD-Karte,
da mir meine Kamera vorhin mitgeteilt hat,
dass ich meine vergessen habe.
Im Laden stehen zwei entnervte Eltern,
die sich allerdings für gechillt halten
und Plastemist für die ungeduldigen Kinder kaufen,
die vor der Tür quängeln,
dazu eine Packung Pueblo-Tabak;
ich tippe auf Berlin,
wahrscheinlich Friedrichshain.

Kurz vor Mittag scheint schnell mal die Sonne,
und ich versuche die Zeitungsauslage
im Tante Hedwig zu übersehen;
der zweite Kaffee des Tages
schmeckt wie der erste,
nur wird sein Duft
von Gebäck und Salami überdeckt.

Auf dem Mittagstisch
stehen Kartoffeln, Grünkohl und Buletten,
unter dem Tisch schlafen die Hunde,
die schon vor einer halben Stunde gefressen haben.
Für eine Pause
fühlen sich alle
aber noch nicht erschöpft genug,
außerdem ist die Sonne immer noch da,
der Strand ruft zum Spaziergang.
Kilometerweit ist niemand zu sehen,
die Nebelkrähen durchwühlen den Seetang,
Möwen und Kormorane sitzen auf den Buhnen.
Meine Mutter und ich
sehen kurz in der Heide nach dem rechten,
das kleine Haus einer Freundin
braucht im nächsten Jahr
dringend einen neuen Anstrich,
und das Dach hängt besorgniserregend durch.
Zurück am Strand
empfängt uns dicker, fetter Seenebel,
die Luft wird ungemütlich,
die Sicht beschränkt sich auf kaum einen Steinwurf,
die Hunde tollen unbeeindruckt
über den klammen Sand.

Zum nächsten Kaffee
gibt es auch Ingwertee,
und ich liege auf der Couch.
Das Buch für die Feiertage
hat mir eine Schülerin ausgeliehen,
die mit Sicherheit
eine Reaktion erwartet.
„Game Changer“ (Neal Shusterman, 2021)
kommt hypermodern und überwoke daher,
der Untertitel verspricht Kopfzerbrechen:
„Es gibt unendlich viele Möglichkeiten,
alles falsch zu machen.“
Mein Schwesterherz beginnt derweil
die Stube zu schmücken,
ihre Vorliebe für LED-Lichterketten
verzaubert Fenster und Türen.
Um den kleinen Baum
kümmern wir uns erst morgen;
Rituale wollen eingehalten werden.

Kurz nach Sonnenuntergang
beginnen wir, den Salat für Heiligabend vorzubereiten:
Pellkartoffeln schälen,
saure Gurken, Fleischwurst und Zwiebeln kleingeschnitten
mit etwas Mayonnaise verrühren
und zum Durchziehen auf die Veranda stellen.
Im Hintergrund läuft bei Youtube
eine 10-Stunden-Version
des Weihnachtsalbums von Michael Bublé,
samt perfekt animiertem Kaminfeuer,
die Fußbodenheizung erledigt den Rest.
Unter dem Tisch sind die Hunde wieder wach
und zeigen an, dass sie hungrig sind.
Auch wir decken den Tisch.
Um halb sechs schon Abendbrot?
„Warum nicht?“
Der Abend klingt vor dem Fernseher aus.
Die Mediathek bietet Die Anstalt an:
„Behinderte Weihnachten“,
die anwesenden nicken wissend,
gute 50 Minuten lang.
Danach noch „Die Innenministerkonferenz“
des ZDF Magazin Royal.
Das Nicken setzt sich fort,
gelacht wird wenig
und wenn, dann nur kopfschüttelnd.

 

Tag 2

Das Frühstück zieht sich angenehm in die Länge,
nach draußen zieht es noch niemanden:
Der Himmel ist bedeckt,
auf den Dächern und Wiesen glitzert der Raureif,
und in den Bäumen krächzen die Nebelkrähen.
Meine Mutter macht sich dann
doch noch mal auf den Weg,
letzte Besorgungen
gehören zum heiligen Abend,
wie das Rauschen zum Meer.
Ich surfe inzwischen vorsichtig ins Internet,
aber wann das Krippenspiel in Kloster beginnt,
lässt sich nicht herausfinden.
Vor dem Edeka treffen wir auf Johann,
der Mühe hat, sich an unsere Gesichter zu erinnern,
dann aber fragt, ob die anderen auch da sind.
Ach, und frohe Weihnachten?,
dafür hat er keine Zeit,
der Bierkasten wird
auf dem Gepäckträger festgezurrt,
und zurück geht es nach Neuendorf.
Im Aushang vor dem völlig übertrieben geschmückten
Winterwunderland des Henni-Lehmann-Hauses
finde ich dann, was das Internet nicht verraten wollte:
16 Uhr Gottesdienst in der Inselkirche,
mit Krippenspiel der Konfis.

Zurück im Haus,
das Wetter bleibt trübe,
lese ich weiter bis zum Mittag
von Paralleluniversen,
in denen auch bloß nichts besser ist,
im Gegenteil.
Zum Mittag gibt es Matjes,
Kartoffeln und Rosenkohl.
Und danach wird endlich der Baum geschmückt:
Wie seit 30 Jahren läuft dabei im Hintergrund
„Weihnachten mit Biene Maja“:
Willi verzweifelt erneut
an den La-la-lameeeeta-Fäden,
an unseren kleinen Baum aber
schaffen es sogar echte Kerzen.
Mitten rein in diese Idylle
platzt per Whatsapp
eine Nachricht aus dem Harz:
Brocken-Benno hat es geschafft.
Sein letzter Aufstieg führte ihn bereits gestern
weit über den Gipfel hinaus.

Nach einer kurzen Mittagsruhe
unternehmen wir den nächsten Strandspaziergang,
dieses Mal also bis nach Kloster.
Die Ostsee ist so platt,
wie kein Dorfteich es jemals sein könnte,
nicht das kleinste Lüftchen weht.
Als wir ankommen,
ist die Inselkirche bereits gut gefüllt,
nur Minuten nachdem wir
auf der hintersten Bank Platz genommen haben,
beginnt Malte die hellen Glocken zu läuten,
in den Fenstern brennen die Kerzen
und unter dem hundertjährigen Rosenhimmel
schweben ein Engel und ein Stern.
Das Krippenspiel darunter
ist ganz schön meta in diesem Jahr,
die Konfis haben offensichtlich
am Text mitgeschrieben.
Im Publikum ist es unruhig,
ein Kleinkind kommt nicht zur Ruhe,
vor uns schwatzt eine Mutter
mit ihren erwachsenen Töchtern,
denen das bald peinlich wird.
Heilige Könige
gibt es auch nur zwei in diesem Jahr,
Pfarrer Glöckner entschuldigt sich
mit der Grippewelle.
Der gemeinsame Gesang
beseelt aber erneut,
wie nur die ältesten Traditionen es vermögen.
Die Kollekte geht wie gewohnt
an „Brot für die Welt“,
besonders an die Menschen,
denen auf Grund des Klimawandels
ihre Lebensgrundlage entzogen ist.

Vor der Kirche
fährt der Inselbus
heute kostenlos ab,
der Abendbrotstisch ist reichlich gedeckt:
Mehr Kartoffelsalat und Würstchen
als wir schaffen können,
dazu Tee mit Schuss.
Die anschließende Bescherung
macht alle bloß noch zufriedener,
an die Abmachung („nur eine Kleinigkeit“)
habe nur ich mich (so fast) gehalten.
„Kevin allein zu Haus“
schaffen wir dann tatsächlich
bis zum Ende zu schauen;
die Werbung (Sat.1)
ignorieren wir,
wie es sich gehört.

 

Tag 3

Der Seenebel verhüllt
die gesamte Insel
den ganzen Tag.
Der Weihnachtsmorgen
wird dadurch nur noch friedlicher.
Ich lese vom Frühstück bis zum Mittag.
Pepe liegt zeitweise neben mir,
dicht an mich gekuschelt.
Meine Mutter fragt,
wovon das Buch handelt,
ich versuche es ihr zu erklären,
sie antwortet nur:
„Das Game changed hier keiner mehr,
das geht nur noch steil bergab.“

Unser Mittag könnte festlicher nicht sein:
Rehbraten, gemischte Klöße,
Rotkohl mit Speck,
Datteln in der Soße.
Die Mittagsruhe schließt sich direkt an.
Seit ein paar Stunden schon läuft das Radio,
aber erst jetzt bemerke ich,
dass bei Radio MV
offenbar das gesamte Team dazu verdonnert wurde,
die Weihnachtsgeschichte
von Charles Dickens einzusprechen.
In kleinen Häppchen berichten sie
von den unterschiedlichen Geistern der Weihnacht.
Und zwischendrin
verirren sich doch noch Nachrichten bis an mein Ohr:
Hat der Nachrichtensprecher gerade gesagt,
der Papst habe in seiner Weihnachtsansprache
vor dem Petersdom
vom Dritten Weltkrieg gesprochen?

Am Nachmittag sind wir wieder am Strand,
die Hunde jagen sich und ihre neuen Bälle.
Im eiskalten Wasser
schwimmen zwei nackte Menschen
mit Stirnlampen
um die Wette
(true story).
Zurück gehen wir wieder durch die Heide,
der Nebel verwandelt die Landschaft
in eine Kulisse für einen Mysterythriller,
vom Bodden dröhnt der Gesang der Schwäne
bis an die Dünen.

Bis zum Abend
basteln wir Fröbelsterne.
Mein erster wird rot-schwarz,
der meiner Schwester blau-gelb;
der Witz kommt bei Freunden
per Whatsapp mehr oder weniger gut an.
Und nach dem Abendessen
packe ich bereits schon wieder meinen Rucksack.
Die Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten
höre ich nur mit einem halben Ohr
und denke, ich habe nichts verpasst.
Auch der dritte Abend
klingt gemütlich vor dem Fernseher aus,
die Lichter am Baum glimmen,
das Räuchermännchen
pfeift auf dem letzten Loch,
und auf dem Bildschirm
wird Dieter Krebs
von seinen Söhnen geehrt;
Weihnachten in Westdeutschland
war auch nicht goldener.
In der Nacht träume ich
vom Wiedersehen am nächsten Tag,
die Brillenträgerin schreibt:
Bis bald schon.

Und jetzt,
eine Stunde vor Berlin,
bereite ich mich darauf vor,
das Newszölibat zu brechen.
Womit soll ich nur beginnen?
Vielleicht mit dem,
woran ich mich noch erinnere:
Die letzten großen Dinger
waren ja die hier:
Selenskyj war überraschend nach D.C. geflogen,
Waffen und Geld seien keine Charity,
sondern ein Investment.
Dazu gab es einen Flaggentausch.
Die ukrainische Flagge
hatte er noch in Bachmut unterschreiben lassen,
in das nur einen Tag später
die russische Armee einrückte.
Die Letzte Generation
hatte noch einen Tag vor Weihnachten
den Baum auf dem Pariser Platz geköpft,
die Polizei stand tatenlos daneben.
In den USA rollte ein beispielloser Wintersturm an,
Temperaturen von weit unter -20°C waren angesagt.
Elon Musk wollte wirklich zurücktreten,
hatte aber noch keinen Nachfolger gefunden.
Und während alle
fast schon schadenfroh nach China schauten,
machte Covid-19 in Japan so richtig ernst.
Was ist aus all dem geworden?
Finden wir es heraus,
der Liveticker ist wieder live:
18 Benachrichtigungen auf Facebook,
nichts weltbewegendes,
nur verpasste Fotos von
(hübschen) Weihnachtsbäumen,
dafür aber:
Jason Tatum hat ein neues Poster mit Giannis gemacht,
Dirk Nowitzki hat seine eigene Statue in Dallas,
zu den NBA-Christmas Games
kommen wir vielleicht später noch.
– Dutzende chinesische Kampfflugzeuge
dringen in den Luftraum von Taiwan ein.
Europäische Abgeordnete
beschuldigen die USA,
sich am Krieg zu bereichern,
während Europa „leidet“.
Sibylle Berg schreibt:
„2022 – 62 mal für Wohnung beworben.
0 Wohnung bekommen.
Die Märkte haben entschieden.
Kauf ich halt einen Block
und entmiete alle,
wegen Gerechtigkeit.“
Tucker Carlson
gibt zu, dass Putin
Trump im Weißen Haus installiert hat.

Gut. Reicht.
Vielleicht noch kurz
was seriöses,
und dann wieder schnell zurück
zum Privileg der Unwissenheit.
– In den USA
sind inzwischen mindestens 34 Menschen
dem Wintersturm „Elliot“ zum Opfer gefallen.
– In Japan wütet nicht nur die Restpandemie,
sondern auch dort sterben 17 Menschen
in ungeheuren Schneemassen.
Andrij „Bandera ist ein Volksheld“ Melnyk
wird der neue Sprecher der Ukraine
für die US-Beziehungen;
wow, ich bin so kurz davor,
in Berlin wieder in einen Zug
zurück ans Meer zu steigen.
Aber weiter:
– Die russischen Raketensysteme
in Belarus sind einsatzbereit;
von der Grenze bis nach Kiew
kann jetzt alles fliegen,
auch Nuklearwaffen.

Aber war da nicht noch was?
Irgendwas war doch noch,
das ich aber, sobald es sich aufdrängte,
weggeschoben habe.
Irgendwas in Paris.
Bei der Tagesschau
findet sich auch nach minutenlangem Scrollen nichts,
also googlen.
Und hier haben wir es schon:
Ein mutmaßlich rassistischer Anschlag
in Paris
am 23. Dezember.
Ein kürzlich aus der U-Haft entlassener Rentner
(Angriff auf Flüchtlinge)
erschießt vor einem kurdischen Kulturzentrum
zwei Menschen,
wenige Meter weiter einen weiteren.
Am 24. Dezember kommt es dort zu Ausschreitungen,
die Demonstranten geben der Türkei die Schuld,
andere der extremen Rechten;
der Krieg gegen die Kurden
hat Westeuropa erreicht.

Und ich bin gleich in Berlin
und habe die Wahl:
Entweder drei Stunden zurück
bis an die Ostsee,
oder drei Stunden weiter
bis nach Hause.
Nirgends wartet das Chaos.
Überall nur die Liebe.
Es ist egal,
welchen Ausweg ich nehme,
es gibt immer die Möglichkeit,
wenigstens ein bisschen was
richtig zu machen.

 

Auf der anderen Seite
stehst du geblendet im Freien.
Kaum zu glauben:
an diesem frisch gestrichenen Tag
steht die Geschichte still,
die alte Geschichte.
Niemand brüllt.
Bis zum nächsten Mal.

(Hans Magnus Enzensberger: Der Ausweg. 2003.)

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