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Empire State of Mind (S9a:Ep4)

von | 2023 | 28. Mai | Die Serie, Staffel 9a - Little Oblivions

 

„We are the children.
The last generation.
We are the ones
they left behind.“

 

Da kleben wir also fest.
Mal wieder
und immer noch
auf unserem Thron.
Dem letzten Thron,
auf dem die Krone der Schöpfung
noch nicht komplett zu brennen begonnen hat,
und dessen Fundament
langsam insichzusammenbricht.
Unsere Insignien
liegen längst auf dem verkohlten Boden.
In der linken Hand
hielten wir,
damals irgendwann,
ein inzwischen verbranntes Buch (irgendeins),
und in der rechten Hand
eine lange verloschene Fackel.
Aber wir bleiben trotzdem weiter sitzen
und müssten eigentlich noch viel betrübter sein.
Bald 300 Jahre Aufklärung, Vernunft und Fortschritt,
von einem Zivilisationssprung zum nächsten,
in immer schnelleren und höheren Sprüngen,
und gelandet sind wir also hier.
2023.
Das Jahr nach 2022, 2021 und 2020.
Jap, die waren auch schon nicht so dolle.
Aber was soll’s.
Unter unseren Hintern
brennt es eben
noch lange nicht heiß genug,
weswegen wir ganz gemütlich sitzen bleiben
und von besseren,
also auch nur nicht kommenden
Tagen träumen.

Aber bevor ich mich noch dazu versteige,
festgeklebt im Elfenbeinturm,
das hohe Lied der Privilegiertenscham
so überzeugend zu singen,
dass ich es selber anfange zu glauben,
kehren #DieDoppeltenZwanziger
lieber wieder schnell zurück
auf den Königsweg
der selbstermächtigten Gegenwartsbeherrschung:
Die (literarische) Gegenwartsverarbeitung.
Arty-Farty Chronieren,
bis der Hofarzt kommt.
Hinter den Mauern meines Luftschlosses
hängt der Humor am Galgen,
der darüberhinaus
knietief im Dreck steht.
Und am Himmel,
weit im Westen
und weit im Osten,
hebt erneut ein immer lauteres Donnern an,
wie das Echo einer Rückkopplung
aus der ewigen Vergangenheit.
Als die letzten imperialen Kuppeln
insichzusammenbrachen.

Willkommen deswegen
im Sommerloch.
Bekanntlich ist das da,
wo die Ignoranz regiert.
Die sechste Jahreszeit.
Wo mutwillige Unwissenheit
(und somit selbstverschuldete Unmündigkeit)
das Zepter schwingt,
und der Reichsapfel rot glasiert ist.
Ignorance is a blessing.
May the Lord open.
(schwerclevere Pfingstsatire: check)

Tja, über das Verschwundensein des Sommerlochs
hatte ich ja aber letztes
oder vorletztes
oder vorvorletztes Jahr
schon geschrieben.
Diese Wiederholungstat von Exkurs erspare ich Euch
und mir.
Schließlich ist Ende Mai, Anfang Juni
nun mal die Zeit,
wo alle so richtig im Saft stehen
und ein Imperium nach dem anderen
neu zementiert wird.
Felix Lobrechts „Sonne und Beton“
brennt sich gerade in den Kinos
in die Herzen der neuen Generation.
In Cannes wird Justine Triets „Anatomie eines Falls“
der nächste goldene Palmenwedel verpasst.
Benjamin Stuckrad-Barre wird
wohl schon den Vertrag
für die Filmrechte an „Noch wach?“ vorliegen haben.
In Leipzig versammelt sich gerade
die High Society des Dark Kingdoms
zum alljährlichen Festschmaus.
Die Queen des Wave-Gothic-Treffens 2023
ist dabei keine geringere
als, kein Witz, Lisa Eckhardt.
Und die Vorband am Freitag
war ausgerechnet Depeche Mode.
Aber auch hier in Quedlinburg
laufen sich die Touris
schon für die anstehenden „Königstage“ warm,
während die Tiefbauarbeiten am Kliez
abgeschlossen sind;
nächstes Jahr werden also
die ersten Meisterschaften
im maximalen Rumcoolen ausgetragen.
Natürlich muss dann an dieser Stelle
auch noch eine andere Meisterschaft erwähnt werden:
Der FC Bayern München (Männer)
ist gestern zum elftausendsten Mal in Folge deutscher Fußballmeister geworden.
Gewonnen haben sie diesen Titel allerdings nicht,
Borussia Dortmund hat ihn verloren.
Aber wer mit Vorsprung
zu Hause gegen Mainz nicht gewinnt,
während der ganze Ruhrpott
vor Vorfreude fast platzt,
der ist eben keine Meistermannschaft.
Und zuguterletzt sollen natürlich
auch noch die Krönungsfeierlichkeiten
an allen umliegenden Gymnasien erwähnt sein.
Die Promqueens und Promkings
schweben erhobenen Hauptes
über die Tanzböden der gebohnerten Säle.

Tja, und gäbe es das Sommerloch noch,
dann würden auch die ganzen hässlichen Nachrichten
einfach, wie gewohnt, darin verschwinden können,
wir könnten es uns
auf unseren Thrönen weiter noch bequemer machen
und uns über Sonnenbrand freuen/ärgern,
ein bisschen Bräune
nach diesem langen Winter,
und so.

 

„Und ich wünschte,
ich müsste nicht andauernd gegen etwas sein.
Aber wie soll das denn gehen
bei all den gottverfluchten Nazischweinen?

Und wenn’s dich nervt, das zu hören,
ist das nicht mein Problem,
sondern dein Problem.
Gar nicht schwer zu verstehen.

Ich könnte mich
um schöne Dinge kümmern …“

(Team Scheisse: FA. 2023)

 

Denn nicht nur auf dem einen oder anderen Abiball in Brandenburg
wurden in den letzten Tagen
inzwischen ganz schamlos und selbstverständlich
Hitlergrüße gezeigt.
Die neue HJ fühlt sich anscheinend
schon ermächtigt genug.
Wie krass die Lage bereits ist,
zeigt, dass die Antwort des Bundes darauf
die folgende ist:
Es soll ein Melderegister
für solche Vorfälle eingerichtet werden.
Also erstmal nur noch melden,
nicht immer gleich anzeigen,
es sind schließlich nur Vergehen
nach §86 StGb,
der genau für diese Fälle mal erdacht worden war, wegen sehr guten Gründen.

Aber zum neu entstehenden Himmelreich des Nazionalismus
kommen wir heute noch oft genug zurück.
Deswegen, bevor es richtig losgeht,
nur kurz noch ein Memo an mich selbst:
Noch drei Wochen,
bis ich mein ganz eigenes Empire
auf die Straßen und Wanderwege der USA verlege.
Die letzten Rechnungen sind bezahlt,
die Unterlagen liegen fein geordnet auf dem Tisch
und meine Vorfreude klatscht sich mit meinem Schiss ab.
Und mit meinem weißen Privileg.
Aber auch dieses Mimimi lasse ich heute aus,
auch weil das für sich ja schon privilegiert genug ist.
Immerhin mache ich
einen großen Bogen
um die Welthauptstadt
der selbsternannten Herrscher dieser Welt.
New York hebe ich mir für die Rente auf.

Gut.
Ich sitze also,
weiterhin ungekrönt
und bestens an den Weltuntergang gewöhnt,
auf meinem gepolsterten Schreibstischstuhl
und schreibe weiter an dieser Chronik,
als ob sie nichts mit mir zu tun hätte.
Ich sehe ihr beim Zerfasern zu
und wie sie sich zum Bettvorleger
meines Traumreiches
von selbst neu zusammenknippert.
Eine Meldung nach der anderen
verfilzt mit der vorherigen.
Die Geschichte ist tot,
lang lebe die Geschichte.

Stand heute
geht der Fall unseres Imperiums
sogar noch ein bisschen schneller.
Deutschland steckt seit vorgestern
offiziell in der Rezession;
die Sezession baut schon am Schafott.
Der Fachkräftemangel ist also
in den Geschäftsbüchern der BRD angekommen
und die GmbH ruft schon mal beim Arbeitsgericht an.
Die Folgen der Multikrise
lassen sich einfach nicht wegschulterzucken.
Zur Erinnerung:
Neben allem anderen Mist
sieht sich der Niedergang unseres Reiches
aktuell mit folgenden Verfallserscheinungen konfrontiert:
Nachwirkungen einer Jahrhundertpandemie,
tägliche Verschärfung der Klimakatastrophe
(für die ganze nächste Woche
ist auch hier wieder kein einziger Tropfen Regen angesagt),
die „Demokratie“ ist weltweit
in einem mehr als jämmerlichen Zustand,
und über allem thront der Krieg,
als hätte er nie abgedankt.
Und damit nun endlich willkommen zurück
im Traumschloss der Rubrifikation,
und ja, alles was jetzt folgt,
ist nur in der vergangenen Woche geschehen.

 

Tanz mit dem Tiger

Seit Mitte der Woche
besteht in Deutschland keine Impfempfehlung mehr.
Also zumindest für gesunde Kinder.
Die müssen da einfach durch,
wenn sie Lurche werden wollen.
An die Risikogruppen wurde immerhin gedacht,
auch weil besonders Long-Covid
ein immer größeres Problem ist.

 

It’s gettin’ hot in here
(längst überfällige eigene Rubrik für alles rund ums Klima)

Die Letzte Generation
kassierte letzte Woche schon
die ersten Fußtritte auf den Straßen von Berlin.
Aber anstelle einer angemessenen Ernstnahme
(sonst geht das ja auch)
dieser besorgten Bürger*innen,
lässt sich der ehemalige Klimakanzler
dazu hinreißen,
die Kleberei als „völlig bekloppt“ zu bezeichnen;
so muss er wenigstens nicht über das eigentliche Problem
oder gar die Forderungen der Aktivist*innen reden.
Und deswegen gab es am Mittwoch
auch bundesweite Razzien gegen Mitglieder der Bewegung,
wegen „Bildung einer kriminellen Vereinigung“,
liebend gerne ausgeführt vom bayrischen Landeskriminalamt.
Die Reaktion war allerdings wenig überraschend:
Zum Einen kriegt die Letzte Generation
ein neues Gesicht:
Aimée van Baalen
fordert bei einer Pressekonferenz
alle Bürger*innen dazu auf, sich am kommenden Mittwoch
an Protestmärschen in vielen Städten zu beteiligen.
In München selbst wird gar nicht abgewartet:
Hunderte, inklusive Starauskenner Harald Lesch,
versammeln sich in der Innenstadt,
in Berlin sind es gar 2.000.
Entsteht hier etwa die erste Klimaantifa?
Wahrscheinlich, denn die CDU
fordert eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz.
Seltsamerweise sieht die UN
das ganze ganz anders:
„Klimaaktivisten
– angeführt von der moralischen Stimme junger Menschen –
haben ihre Ziele
auch in den dunkelsten Tagen weiter verfolgt.
Sie müssen geschützt werden
und wir brauchen sie jetzt mehr denn je.“
Sogar der ehemalige Verfassungsrichter Andreas Voskuhle
stellt schlau wie immer fest:
In Anbetracht der Dringlichkeit
sind das alles „harmlose Sandkastenspiele“.
Aber wahrscheinlich werden
genau diese Schlauberger dann dafür verantwortlich gemacht,
wenn die nächste Radikaliserungsstufe betreten wird,
so wie gerade erst in Den Haag:
Extinction Rebellion blockiert da nämlich
gleich mal eine ganze Autobahn.
Ergebnis: 1.500(!) Festnahmen.

 

Burning Democracy

Auch die Demokratie
ist nicht gefeit
vor dem Feind aller Herrschaftsformen,
den Beherrschten,
die ständig ihr Recht wahrnehmen wollen,
am Thron zu rütteln.
Manchmal einfach aus Prinzip,
weil Demokratie,
manchmal aber auch aus Gründen:
Irgendeiner aktuellen Umfrage nach
wünscht sich eine große Mehrheit,
dass den Angriffen (auf die Demokratie)
stärker entgegengewirkt wird.
84,9 Prozent der Befragten
sehen es als Aufgabe der Bundesregierung,
sich noch stärker
für eine lebendige und starke Demokratie einzusetzen.
Noch stärker?
Warum?
Darum:
Dem letzten Deutschland-Trend zufolge
liegt die AfD momentan bei 17%.
Das sind plus zwei,
im Vergleich zu vor zwei Wochen.
Die dümmste Antwort darauf,
in diesem Falle die von Philipp Amthor (CDU)
ist dann in dieser Woche:
Mehr Patriotismus.
Vor allem in Ostdeutschland.
Noch mehr?
Warum?
Weil man daran erkennen könne,
so Amthor,
wie nicht geglückt die Wiedervereinigung gelaufen sei.
Es kann eben nur einen Patriotismus pro Land geben.
Den Gegenbeweis findet man
pseudoironischerweise eben hier im Osten.
Zum Beispiel hier um die Ecke, in Wienrode,
wo die Anastasiajünger
jetzt endlich ihr Wander*innen-Café
unter Gegenprotesten eröffnet haben.
Gott zum Gruße,
gerne auch zum Hitlergruße
hinter (noch) vorgehaltener Hand.

Schon drei Erbfolgen weiter
ist man dabei in den USA.
Die Bürgerrechtsbewegung NAACP
hat für Florida eine Reisewarnung herausgegeben,
für sämtliche Minderheiten.
Hauptgrund: Ron DeSantis.
So etwas gab es nicht mal unter Donald Trump.
Florida ist inzwischen zur Festung ausgebaut,
mit sehr hohen Mauern,
hinter denen sehr alte, weiße Menschen
nicht länger beim Alte-Weiße-Menschen-Sein
gestört werden wollen.
Deren neuer Heilsbringer jedenfalls
verkündet seine Kandidatur
natürlich auf Twitter,
im Gespräch mit Elon Musk,
was wie immer eher so
elonmuskaesk läuft.
Also vor allem technisch
sehr schlecht.
Als innerparteilicher Gegner von Trump
macht das (Twitter) natürlich Sinn,
denn nur da gibt es einen
gerade erst wieder
eingesetzten Twitterkönig
abzusetzen.
Ansonsten ist DeSantis,
der so „skandalfrei“ ist,
dass es schon wieder verdächtig ist,
nur die nächste Fascho-Katastrophe.
Denn sein einziges Wahlkampfthema ist:
Alles, was das Gegenteil von woke ist.
Also nichts, was wirklich wichtig wäre.
Aber selbst das ist noch nicht das schlimmste,
denn: Trump führt in allen Polls deutlich.
Aber noch pfeift der Vorzeigerechtsstaat
auf dem vorletzten Loch:
Es war mal wieder Shutdowntime.
In einer Woche wären die USA zahlungsunfähig gewesen.
Wie so oft, wird aber das falscheste getan:
Die Schuldengrenze wird einfach
immer noch weiter
Richtung Unendlichkeit
nach oben verschoben.
Hauptsache an den Gerichten wird niemandem langweilig;
Rechtsstaat kommt.
Zur Abwechslung aber auch mal zu den richtigen:
Der Gründer der „Oath-Keepers“ (republikanische Separatisten)
marschiert die nächsten 18 Jahre
irgendeinen Gefängnishof ab.
Oder: Die falschen kommen zum Rechtsstaat:
TikTok klagt gegen Montana,
wo TikTok verboten ist.
Strange.

Im Präsidentenpalast in Ankara jedenfalls
sitzt der Autokratendude Erdogan
nach der heutigen Stichwahl
schon wieder fest im Sattel.
Als erstes durch die Ziellinie
ist aber was nicht ganz anderes gelaufen:
Der Nationalismus.
Und zwar deswegen:
Erdogans Gegner, Kilicdaroglu,
sah keinen anderen Ausweg,
als auf die nationalistische Karte zu setzen
und im Prinzip einfach das zu kopieren,
was Recep Tayyip Erdogan,
aber auch die rechtsextremistische MHP
und der Rechtsextremist Sinan Ogan machen
(Flüchtende als Wahlkampfthema missbrauchen).
Rechnet man beispielsweise die pro-kurdische HDP,
die türkische Arbeiterpartei TIP
und die kemalistische, links-nationalistische CHP
wohlwollend heraus,
dann gibt es eine konservativ
bis rechtsextremistisch-islamistische Parteienlandschaft
im türkischen Parlament
von mehr als 400 von insgesamt 600 Sitzen.
Und deren Chef heißt weiterhin:
Großwesir Erdogan.
Inscha’Allah.

Als kleines Korrektiv
in Sachen Demokratieverfall
darf in dieser Woche Bulgarien glänzen,
denn da hat man wenigstens mal eine neue Idee:
Nachdem die stärkste Fraktion,
die konservative GERB,
mit einer Regierungsbildung
im Parlament gescheitert war,
überlässt sie nun fast alle Ministerposten
der zweitstärksten Fraktion
– den Reformern des Antikorruptionsbündnisse
aus „Wir setzen den Wandel fort“
und „Demokratisches Bulgarien“.
Als Gegenleistung darf die GERB-Fraktion mitregieren.
Sie besetzt einen Posten im Regierungskabinett,
durch GERB-Premierministerkandidatin Mariya Gabriel.
Sie war bisher in Brüssel
EU-Kommissarin für Bildung, Forschung und Kultur
und soll nun zunächst
bulgarische Vizepremier- und Außenministerin werden.
Nach neun Monaten soll sie dann aufsteigen zur Regierungschefin
– für weitere neun Monate.
Jetzt noch eine Amtszeitbegrenzung,
ein wirklich faires Wahlsystem,
eine effektive Kriminalisierung von Korruption
und ein bisschen gesunder Menschenverstand,
so wie Blut, Schweiß, Spucke und Tränen,
zack fertig: Demokratie.

So wie in Deutschland,
der zukünftigen Sonnenrepublik,
also nach der Klimakatastrophe.
Diese jedenfalls wird weiter professionell wegregiert:
Der „Heizungsstreit“ (aka „Wärmewende“)
wird vorerst verschoben,
denn die Grünen warnen vor einer Regierungskrise.
Also lädt Robert der Schöne
zu einem Gipfel.
Bei Häppchen und Pils
kann er sich dann auch Nachbesserungen vorstellen.
Vielleicht dürfen die meisten Kartoffeln
ihre alten Dreckschleudern auch behalten
und klimaneutrale Heizungen
sind nur für Neubauten Pflicht.
Prost.
Das muss übrigens der Moment gewesen sein,
in dem Christian Lindner
einen Toast ausbrachte:
Inflation?
Rezession?
Branchenkrepieren?
Gerechte Löhne?
Nichts da! (Er ballt die Faust.)
Eine „wirtschaftspolitische Zeitenwende“
ist absolut notwendig!
Und noch während dieser Worte
soll er von Jens Spahn angerempelt worden sein,
den wirklich niemand mehr erwartet hatte.
Er flüstert Christian zu,
dass der nächste Bahnstreik abgesagt ist,
dass die Ärztinnen und Ärzte
an kommunalen Kliniken 8,8% mehr Lohn bekommen
und einen Inflationsausgleich.
Dann dreht Jens sich zu den Versammelten um
und schreit:
Die Rente mit 63
„sofort abschaffen“!
Demokratie ist,
wenn wirklich jeder was sagen darf.

Gut.
Kommen wir zum Gegenteil von all dem.
Zum Schattenimperium des Krieges,
das die Welt mit jedem Tag noch mehr umspannt.
Und über das alle bestens Bescheid wissen,
nur niemand mehr darüber spricht.
Und ich meine wirklich niemand.
Je krasser die Meldungen werden,
(und das werden sie weiterhin täglich),
desto weniger wollen wir uns damit beschäftigen,
geschweige denn darüber reden.
Also zumindest in meinem Alltag ist das der Fall.
In diesem Sinne
wächst sich deswegen
das jüngste Geschwür dieser Chronik
auch zunehmend über meine Toleranzschwelle hinaus aus.
Aber wenn so etwas
irgendwem oder irgendwas
egal sein kann und muss,
dann #DieDoppeltenZwanziger,
die aus der Not eben weiterhin
eine Tugend machen müssen,
und denen deswegen nichts anderes übrig bleibt,
als das Beschweigen,
bzw. die Abkapselung eines Teils der Gegenwart
literarisch in Szene zu setzen.
Hat mit der Pandemie doch auch funktioniert.
Also fast.

 

Kriegsprotokoll. Schreibtisch. Deutsche Heimatfront. Letzte Reihe. Woche 65.
Die Aufrüstung nimmt gigantische Dimensionen an. Ein neuer Player mischt sich ein. Und die Gegenoffensive erobert noch nichts zurück, sondern greift Russland gleich direkt an. Montag: Russische Luftangriffe auf Dnipro. Das AKW Saporischschija wird durch Notstrom versorgt, die Ukraine hat angeblich die Leitungen gekappt. Die Ukraine dementiert weiter die Einnahme von Bachmut. Zum Mittag hat das AKW wieder Saft. In Belgorod (Russland) sind „Sabotagetruppen“ unterwegs; die Ukraine sagt, es seien russische „Partisanen“. Am Abend verhängt Russland für die gesamte Region „Terroralarm“. Selenskyj ist zurück von der Heldenreise: „Es wird noch mehr Waffen für unsere Krieger geben.“ Der BND sieht „keine Risse im System Putin“. Die „Sabotagetruppen“/“Partisanen“ erobern ein Dorf (mit einem Kampfpanzer, samt ukrainischer Flagge, und auch ansonsten schwerem Geschütz) und warten nicht lange mit den ersten Kriegsverbrechen. Dienstag: Die „Kampfjet-Koalition“ nimmt konkretere Züge an: F-16 dürften geliefert werden, sofern man denn welche hat (Deutschland hat keine), die Piloten könnten ausgebildet werden. Pistorius: „Die paar Möglichkeiten, die es theoretisch geben könnte, die prüfen wir gerade.“ Auch bei „Taurus“-Drohnen bleibt der Verteidigungsminister zurückhaltend. Stoltenberg hält fest: „F-16-Training macht die Nato nicht zur Kriegspartei.“ Es wird berichtet, Polen habe genau damit bereits begonnen; Polen dementiert. Russland ist sich inzwischen sicher: „Ukrainische Streitkräfte haben Angriffe auf das Gebiet Belgorod gestartet.“ Verantwortlich sind „ukrainische Extremisten“. Selenskyj verteilt neue Orden an der Front. Am Mittag verkündet Moskau: Die Eindringlinge seien zurückgedrängt worden, mehr als 70 Kämpfer getötet. Der Alarmzustand wird aufgehoben. Bei russischen Angriffen auf Chmelnyskyj (Westukraine) soll ein Uranmunitionslager getroffen worden sein, bislang ziehe aber keine radioaktive Wolke irgendwohin. Die nächste große Lieferung ist in der Ukraine eingetroffen: 220.000 Schuss Artillerie und 1300 Raketen. Im russischen Kursk kommt es nach einem Drohnenangriff zu Stromausfällen. Russland fängt am Abend zwei US-Bomber über der Ostsee ab. Mittwoch: Die Ukraine bildet ein neues Marineinfanteriecorps, das komplett neu ausgerüstet wird. Drohnenangriff auf Belgorod. US-Medien bestätigen den Einsatz von US-Fahrzeugen ebenda. „Gerald Ford“, der größte Flugzeugträger der Welt, befindet sich laut US-Angaben auf seinem „ersten Kampfeinsatz“ momentan im Oslo-Fjord. Polen will seine Flotte mit neuen U-Booten ausrüsten. Prigoschin beschwört auf Telegram die nächste Oktoberrevolution herauf, sollten die Kinder der Eliten weiterhin von den Einberufungen verschont werden. Henry Kissinger sieht keine Alleinschuld Russlands am Krieg. Der deutsche Bundespräsident kündigt an, Deutschland werde sich stärker an der Ostflanke der Nato beteiligen. Im Schwarzen Meer wird ein russisches Kriegsschiff mit Drohnen angegriffen. Tschechien bestellt beim UK 246 neue Schützenpanzer und verhandelt mit der Bundesregierung über 70 Leopard-Panzer. Japan liefert der Ukraine 100 Militärfahrzeuge. Li Hiu ist in Berlin. Endlich bekennt sich jemand: Die „Sabotagetruppen“/“Partisanen“ nennen sich „RVC“ und sind, eigenen Angaben zufolge, russische Kämpfer, die von der Ukraine aus demnächst die Grenzregion weiterhin unsicher machen wollen. Donnerstag: Südkorea liefert Waffen über die USA. In der Nacht drei Stunden Luftalarm über Kiew, Charkiw und Czernowitz: Drohnen überall. Auch über der Krim werden Drohnen abgeschossen. Der russische FSB meldet die Festnahme von 30 ukrainischen Saboteuren, die Anfang Mai versucht haben sollen, die Stromleitungen der AKW Leningrad und Kalinin zu kappen. Wagner beginnt mit der Übergabe Bachmuts an die russische Armee. In Belarus werden wohl sehr bald russische Atomwaffen stationiert. Deutschland ist aktuell größter Geber bei humanitärer Hilfe. Wenigstens das. Finnland liefert neue Ausrüstung im Wert von 100+ Millionen Euro. Selenskyjs Berater bestätigt, was alle mitbekommen haben: „Die Gegenoffensive läuft schon seit Tagen.“ Über der Ostsee werden erneut zwei US-Bomber abgefangen. Die „Ramstein-Konferenz“ tagt online. Über Ergebnisse ist bis zum späten Abend nichts zu hören oder zu lesen. Freitag: Wieder Luftangriffe auf Kiew. In Charkiw steht ein Öllager in Flammen, in Dnipro wird ein Krankenhaus getroffen. Moskau lässt vermelden, etliche Munitionslager zerstört zu haben. Medwedew schlägt auf Telegram vor, die Ukraine unter Russland und der EU aufzuteilen. Der UK lässt im Spiegel wissen: Bachmut ist nur noch „ein unbedeutender Punkt auf der Karte“. Die ARD trifft die „Partisanen“: „Sie posieren gemeinsam vor Journalistinnen und Journalisten im Nordosten der Ukraine, an einem Ort, an dem auch die ukrainische Armee trainiert und der nicht genannt werden darf: die Mitglieder der sogenannten „Legion Freiheit für Russland“ und des sogenannten „Russischen Freiwilligencorps“. Ganz vorne mit dabei: Denis Kapustin, der berüchtigte Chef des letztgenannten und ein in der rechtsextremen Szene als einflussreich geltender Neonazi mit russischem Pass. Vor Jahren hat er das Neonazi-Modelabel „White Rex“ gegründet, das die Neonazi-Kampfsport-Szene europaweit mit professionalisierte und war vorher Hooligan des 1. FC Köln. Gegen Mittag wird Krasnodar (Russland) mit Drohnen attackiert. Moskau würde mit Scholz sprechen, wenn der mal anrufen wollen würde. Der sagt: „zu gegebener Zeit“. In Belgorod ist der Krieg jetzt voll angekommen: Die Regionen Belgorodski und Wolokonowski sowie die Stadt Schebekino werden mit Artillerie, Mörsergranaten und Drohnen beschossen. Kiew erwartet eine Menge F-16 und postet dazu auf Twitter eine Karikatur, in der der Turm des Moskauer Kremls an einer Gemüsereibe mit Klingen in der Form von Flugzeugen geraspelt wird. Der Spiegel berichtet über nochmals neue Spuren in Sachen Nord-Stream2: wieder führen sie in die Ukraine. Samstag: Raketenangriffe auf Mariupol, Drohenangriffe auf Pskow (Russland) und die Drushba-Pipeline. Kiew bittet Berlin um Marschflugkörper für Attacken hinter der Frontlinie. Dort werden zeitgleich weitere „Storm Shadow“-Raketen und zahlreiche Drohnen abgefangen. Am Nachmittag räumt Kiew sieben Monate nach der heftigen Explosion auf der Krimbrücke doch noch ein, dafür verantwortlich gewesen zu sein. Am frühen Abend meldet die Tagesschau (ungekürzt): „Der ukrainische Militärgeheimdiensts warnt vor einer „groß angelegten Provokation“ russischer Truppen am Atomkraftwerk Saporischschja im Südosten der Ukraine. Der Plan der russischen Truppen sehe vor, die Anlage anzugreifen und dann zu melden, dass es dort zu einem radioaktiven Leck gekommen sei, hieß es in einer Erklärung der Geheimdienstabteilung des Verteidigungsministeri-ums in Kiew. Moskau setze darauf, dass diese Meldung eine internationale Untersuchung in Gang setze, die zu einer Kampfunterbrechung führen werde. Dies wiederum solle den russischen Truppen eine Atempause für eine Neuformierung verschaffen, ehe eine angekündigte ukrainische Gegenoffensive komme.“ Hat die also doch noch nicht begonnen? Man kommt ganz durcheinander. Aber „heute, morgen oder nächste Woche“ soll es losgehen. Sonntag: Moskau verstärkt die Grenzsicherung. In der Nacht treffen so viele Raketen wie selten zuvor Kiew. Der britische Geheimdienst teilt mit, dass staatlich unterstützte russische Medien und Unternehmensgruppen das Wirtschaftsministerium ersucht haben, angesichts der wirtschaftlichen Anforderungen des Krieges eine Sechstagewoche für die Arbeiter zu genehmigen – anscheinend ohne zusätzliche Bezahlung.“ In Belgorod schlagen hunderte Granaten ein. Was befiehlt der Held dieser Tragödie als nächstes? Ein Königreich für ein Pferd?

 

So,
und da wir uns hier
in meinem ganz eigenen Kristallpalast befinden,
und weil es eigentlich auch
schon viel zu spät ist,
und trotzdem die Nacht
noch nicht anbrechen will,
beende ich diese Episode
natürlich mit der unumstrittenen Queen
meines Seelenfriedens:
Die NBA.

Die Krönungsspiele beginnen in der nächsten Woche,
der Gegner der Denver Nuggets
wird nämlich noch gesucht.
Nachdem die Boston Celtics
ja eigentlich schon dead and burried
nach Miami gefahren waren,
kehren sie jetzt für Spiel Sieben
in den Norden zurück.
Es duftet mal wieder nur so
nach neuer Geschichte,
denn diesen Rückstand (0-3)
hat noch nie ein Team aufgeholt.
Der King jedenfalls
hat nach dem Sweep
zwei Tage lang
öffentlich über den Rücktritt nachgedacht,
erfüllt seine letzten beiden Vertragsjahre
aber wohl doch.
Der erste seiner ganz eigenen Thronfolger (Söhne)
hat also gute Chancen,
in seinem letzten Jahr
mit ihm zusammen zu spielen.
How sweet.
Eine andere gleichaltrige Legende
hat allerdings die Schuhe
schon an den Nagel gehängt:
Carmelo Anthony
wartet dann jetzt eben ohne Meisterring
auf seine Berufung in die Hall of Fame.
Mit einem Fuß
auf dem Sockel des Basketballthrons
steht momentan allerdings
der wahrscheinlich ungewöhnlichste Superstar dieses Sports:
Vor zehn Jahren noch
der dicke lustige Junge irgendwo in Europa,
hat er jetzt den geilsten Spitznamen,
den noch keiner hatte:
Nicola „The Joker“ Jokic.
Ein Antiheld als Imperator.
I love this game.
Die wirklichen Gewinner
der diesjährigen NBA-Playoffs allerdings sind:
Giannis Antetokounmpo
und seine Interviewantworten,
nachdem die Milwaukee Bucks
in der ersten Runde ausgeschieden waren.
„It’s not a failure. It’s steps to success.“
Ach, würden doch alle Imperien
von solchen Helden regiert …

 

„And, I wonder when
we are ever gonna change,
change living under the fear,
‚til nothing else remains.

We don′t need another hero.
We don’t need to know the way home.
All we want is life
beyond Thunderdome.“

(Tina Turner. 1985)

 

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