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First in the room (S5: Midseason Break)

von | 2021 | 15. Juni | Die Kurzgeschichten, Quedlinburger Kurzgeschichten, Staffel 5 - How does it feel?

Sommer. Pause.
Der Brillenträger hatte sich und seinem Blog für mindestens zwei Wochen eine künstliche Schreibblockade auferlegen wollen. Er redete sich ein, die Nachrichten würden sich tatsächlich im Leerlauf befinden, und jede weitere Episode würde sich nur in langweilig anmutenden Wiederholungen verirren. Jedes Mal bemühter, doch noch irgendwie originell zu sein. Aber selbst Meldungen, die ihn vor kurzem zu ganzen Spezialepisoden hingerissen hätten, triggerten seine Kreativität nur mäßig. Klar, Temperaturen kurz unter 30°C und ein wohlig beständiger Abendwind verlangten nach allem, aber nicht nach Sitzen am Schreibtisch und dem zu bemüht geistreichen Kommentieren von sich ungebremst überschlagenden gesellschaftlichen Ärgernissen. Sogar das endgültige und öffentliche Bekenntnis zur historischen SA („Alles für Deutschland“) des inzwischen unbestrittenen Führers der deutschen Neo-Nazis, Björn Höcke, als auch die Reaktivierung des „Flügels“ in der niedersächsischen AfD lösten bei ihm höchstens unangenehmen Alarmismus aus, den er erstaunlich leicht unterdrücken konnte. Außerdem ließ das Feedback des Blogs weiter zu wünschen übrig, weswegen sich auch die Bedenken, er könnte irgendeine herbeiphantasierte Leserschaft enttäuschen, nicht weiter einstellen wollten. So überlegte er bereits, ob er entweder auch noch einen Roman über einen grandios gescheiterten Blogger beginnen, oder das ganze Unterfangen doch wieder einstellen sollte. Wenigstens vorerst.
Oder aber einfach, wie im letzten Jahr, eben genau keine Sommerpause einzulegen. Nicht so zu tun, als wäre mal nichts, oder als wäre alles schon wieder gut. Sich eben keine, zwar wohlverdiente, aber immer noch bräsige Pause zu gönnen; auch um dem berechtigten Vorwurf der Privilegiertheit zu entkommen. Eben keine*r von denen zu sein, die das Internet nur vollschreiben, wenn sie grad‘ nichts besseres zu tun haben, oder eben ihr Leben davon bestreiten müssen. Die, die mit den Wölfen heulen müssen, weil sie sich sonst nicht als Teil des Rudels verstehen können. Die, die sich jetzt eben nicht mehr über Querdenker empörten, sondern über diese verantwortungslose Fußball-Europameisterschaft. Oder über den G7-Gipfel, der exakt am selben Tag begonnen hatte, wie das waghalsigste internationale Unterfangen seit Pandemiebeginn, quasi der Testlauf für Olympia. Ausgerechnet im UK, wo die Delta-Variante gerade dabei war, die Impferfolge aufzufressen. 60% ansteckender. Das Risiko für einen Krankenhausaufenthalt doppelt so hoch. Die Wirkung der Vakzine deutlich verringert; was aber alles zunächst auch nur zu Meldungen unter vielen gehörte. Die Menschen lebten eben jetzt mit dem Virus. Und hofften einfach stumpf, ab dem Winter dann wieder nur noch von einer Grippe reden zu können.
Denn die meisten hatten den Blick schon längst wieder vom Rest der Welt abgewendet. Sie genossen aufgesetzt sorglos ihre wiedererlangte Freiheit und machten bereits die ersten guten Witze über damals. An den Wochenenden schlenderten sie durch die Innenstädte, schauten den Kellnern dabei zu, wie sie versuchten, noch ein paar Stühle und Tische mehr auf die Marktplätze zu stellen. Sie besuchten Parkanlagen und bestaunten die üppige Flora, oder begannen bereits wieder damit, an den Straßenmusikanten rumzukritteln, für die sie vor kurzem noch so dankbar gewesen waren. Die Schwarzen Spiegel erholten sich derweil stumm in ihren Taschen. Und niemand sprach mehr über Südamerika. Darüber, dass in Brasilien inzwischen seit Monaten Verhältnisse herrschten, wie wir sie im Winter nicht erlebt hatten. Und wenn, dann wurde auch nur darüber diskutiert, ob es denn wirklich so eine gute Idee sei, die Copa America trotzdem stattfinden zu lassen. Peru? Kolumbien? So Länder halt. Auch sprachen sie nicht darüber, dass sich die erste wirklich ernstzunehmende Welle in Afrika bereits deutlich aufbaute, und in Indien noch auf Monate keine wirkliche Entspannung einsetzen würde. Darüber wusste man vielleicht noch Bescheid, aber bedrohlich war das alles nicht mehr. Europa, die USA, die G7, die Nato, also der „Westen“, waren nämlich als erste wieder richtig im Geschäft, so wurde es jedenfalls berichtet. Chinas Erfolge wurden weiter kleingeredet und infrastrukturelle Gegenmaßnahmen zur „Neuen Seidentraße“ eingeleitet, denn schließlich wurden da ja auch Menschenrechte missachtet. Der Neue Feind war also weit entfernt von jeglicher Zivilisation, also der perfekte Bösewicht, also wenn Russland gerade mal Pause machte.

Auch der Brillenträger hatte sich von der Leichtigkeit anstecken lassen, und wollte nicht jetzt schon der erste sein, der schon jetzt wieder damit anfing, an den Winter zu erinnern; an den letzten und an den nächsten. Ihm war klar, dass dafür jetzt nicht die Zeit war und sowieso jeder Bescheid wissen müsste. Es war den Menschen immer öfter anzumerken, dass sie, bis auf ein paar ganz ignorante, endlich verstanden und akzeptiert hatten. Dass sie bereit waren weiterzumachen. So viel anders war doch die Neue Normalität noch gar nicht. Noch erinnerte das meiste zu sehr an früher. Höchstens mit dem kleinen Unterschied, dass die Unbeschwertheit jetzt auf der Liste der eigenen Privilegien heimlich ganz nach oben gerutscht war. Und von dort sollte sie bis zum Herbst gefälligst auch nichts wieder verdrängen.
Es sollte und wollte der Sommer der Wieder-wie-beim-ersten-Mal-Male werden. Das erste Mal wieder mal keine Maske beim Bäcker tragen. Das erste Mal wieder zu wenig Abstand zu Fremden haben. Sich das erste Mal wieder die Hand geben, zum ersten Mal wieder umarmen. Das erste Mal wieder im Strandbad rumlümmeln, vielleicht sogar baden. Das erste Mal wieder Partys feiern und auf Konzerte gehen, sich Bier und Zigaretten teilen, sich gemeinsam dem Rausch hingeben. Das erste Mal wieder dieses eine Lächeln sehen, an das man sich noch Tage später erinnern würde. Da war sie also endlich, die Achtsamkeit. Die kleinen Dinge zählten wieder. Sie zählten mehr noch als die großen. Die Gegenwart allein war von Bedeutung. Die guten Momente wollten genossen worden sein. Die Zukunft hatte bereits im Futur Zwei stattgefunden. Und alles hätte wieder gut werden können.
Bis uns die Vergangenheit wieder einholen sollte. Von Perfekt zu Plusquamperfekt. Nichts anderes als die ewige Wiederkehr des immer Gleichen. Der hedonistische Konjunktiv der selbstverschuldeten Ahnungslosigkeit. – Wie leicht, wie unerträglich schön es doch war, die Sorglosigkeit wieder zu entdecken. Und wie frustrierend der Gedanke, dass es doch eben genau diese Sorglosigkeit ist, die zwischen Ende und Anfang aller Katastrophen steht.

Ganze Abende lang hing der Brillenträger diesen und ähnlichen Gedanken nach und wollte einfach zu keinem Schluss kommen. Das Leben machte ihm aufs Neue klar, dass es mehr als eine Aneinanderreihung von Ereignissen ist. Nur was genau, das sah der Brillenträger immer noch zu unscharf. Des öfteren suchte er dann im Bücherregal nach seinem Brillenputztuch, fand es nicht und nahm, wie immer, den unteren Rand seines Shirts. Dann setzte er sich zurück an den Schreibtisch und arbeitete weiter an einer Kurzgeschichte, in der so wenig wie möglich passierten und in der doch alles erzählt werden sollte. Experimenteller Neo-Realismus. Bildender Dadaismus. Progressiver Biedermeier, wo einzig und allein die Hauptsache ist, dass einfach mal nichts passiert. Aber wer würde so was schon lesen wollen?
Deswegen entschied er sich dafür, einem vermeintlichen Publikumsliebling aus gegebenem Anlass erneute Gestalt zu geben. Dazu stellte er sich ein rotes Telefon auf seinem Schreibtisch vor. Dieses Telefon klingelte immer dann, wenn es dringende Neuigkeiten aus London gab. Das imaginäre Büro der DoppeltenZwanziger in der Stadt an der Themse rief im Grunde ja ständig an. Wahrscheinlich nur, weil es nicht vergessen werden wollte, wenn wieder nur die Rede von der EU war. Der Klingelton des alten Apparates war genauso nervenraubend, wie die Telefonate selbst. Und just in diesem Moment gab das rote Schreckgespenst wieder mal Laut. Der Brillenträger hatte gelernt, dass es in jedem Falle besser war, gleich ranzugehen, denn hatte es einmal mit seinem Brrrrrrrrrräng, Brrrrrrrräng, Brrrrrrrräng begonnen, hörte es in der Regel für mindestens eine Stunde nicht auf. Er zündete sich eine Zigarette an, und nahm vorsichtig ab.
„Yes, hello again. So nice to …
Yes, I know, I know. …
No. … no, I‘m not sorry. …
Yes, you fucked it up. …
Was? … klar, Sie wollten eigentlich was anderes sagen. …
Yes, I‘m all ears. …“
Wie gewohnt, machte sich der Brillenträger hastige Notizen, immer hin- und hergerissen zwischen Sorgen, Verblüffung und Schadenfreude. Der G7-Gipfel sei ein voller Erfolg gewesen, das perfekte Vorspiel für den Nato-Gipfel. Mit strahlenden Machtmenschen der obersten Oberliga an sonnigen Stränden, historischen Durchbrüchen in der Finanzpolitik und Einigkeit und Recht und … Da unterbrach der Brillenträger kurz, und auf seine Frage, wie sich denn die EM mit der Delta-Variante vertrüge, bekam er als Antwort einen weiteren überschwänglichen Vortrag, der gekrönt wurde mit der Ankündigung des absoluten Knallers am Freitag: England gegen Schottland. Und während, das Londoner Büro weiter und immer weiter positive Neuigkeiten vermeldete, legte er den Hörer beiseite, schaltete seine Bluetooth-Box ein und suchte auf seinem Handy den Song, den er dann in voller Lautstärke für London abspielte:

„First in the room
Thirsting from noon
Herbalist fumes
Where’s me balloon?
Curse off the zoom
Burstin‘ we boom
First in the room
21st of June
– Then they fucked that too“

(The Streets: Who‘s got the bag? 2021.)

 

Hörte er da etwa Gelächter am anderen Ende der Leitung? Als der Song vorbei war, lachte London immer noch und erst nach einer Minute konnte der Brillenträger fragen, ob London endlich seinen Humor wiedergefunden hatte. Die Antwort kam prompt: „Indeed we have. And so did you. So fuck you very much. Bye!“ Kurz keimte in ihm die Hoffnung auf, dass London so bald nicht mehr anrufen würde. Da klingelte das Telefon erneut. Das eben sei natürlich nur Spaß gewesen. London wollte nur noch schnell seinen Tipp für heute Abend abgeben: 3:1 für Frankreich. Dem konnte der Brillenträger nur zustimmen, auch wenn er eigentlich auf ein deutlicheres 4:0 hoffte. Nachdem London sich genug über seinen gelungenen Scherz amüsiert hatte, fragte es noch, ob der Brillenträger sich schon auf morgen freue. Auf die Schnelle wollte ihm gar nichts besonderes einfallen. Und erst als London ihm, nicht ohne aufrichtigen Neid und versteckter Anerkennung mitteilte, was morgen so anders wäre, bemerkte er, dass er den ganzen Tag noch keine Nachrichten verfolgt hatte. London war somit die erste, die ihm zur Normalität gratulierte.
Denn morgen würden hier in den Klassenräumen tatsächlich „die Masken fallen“. Und der Brillenträger würde als erstes am Tisch sitzen. Ganz normal.

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