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Heavens Peak (Chronicle 15) (S9b:Midseason Break)

von | 2023 | 8. Juli | Chronicle

 

„Nothing will be solved out there, you know.
It’s just telephone poles stringing together the cities.
Those distances out there will only confuse you.“

(Don DeLillo: Americana. 1971.)

 

Der Brillenträger legte den Roman bald wieder beiseite, für heute konnte er seine Recherchen getrost unterbrechen, sie führten ja doch zu nichts. Quedlinburg stöhnte unter der ersten Hochsommerwelle, und die drei anderen hatten ihn zum Waldbadausflug nach Altenbrak eingeladen.
Er war sich weiterhin nicht darüber im Klaren, inwieweit sein neuestes Projekt den erzählerischen Bogen seines Werkes nicht vielleicht doch noch überspannen würde. Ein Summer Road Movie durch die USA! In der Gegenwart! Woher, bitte (danke), sollte er die authentischen Informationen für so etwas denn aber bekommen? Oder das Geld dafür? Oder die Zeit? Er konnte sich dasalles doch nicht nur ausdenken! Nicht, wenn #DieDoppeltenZwanziger noch einen letzten Rest auktorialer Würde behalten sollten. Er hatte im Frühling kurz darüber nachgedacht, Karoline nach dem Orb zu fragen, hat es aber bis zu diesem Tag noch nicht versucht. Nicht etwa um in der Zeit, sondern um zwischen den Dimensionen springen zu können, entlang des blauen Lichts. Dann bräuchte er dem Brillenträger in seinem Blog nur noch eine Reise durch die USA zusammenschreiben und könnte dann jeweils ins Geschehen springen, eins zu eins mitschreiben, und zack: Authentischer Sommerroman, Road Movie-Book 5.0, Mochte gern, aber wurde nicht-Dutschke im Bauch des Feindes, auf der Suche nach der verlorenen Hoffnung. Irgendwo musste die doch noch zu finden sein. Warum nicht da, wo man sie am wenigsten erwartete?

Die Strategie des erneuten Untertauchens war für Karoline Salthusser und Marie von Weizenfall bis jetzt aufgegangen. Bis mitten in den ersten Sommer der Mädchen war nichts weiter geschehen, außer aufpäppeln, sich sorgen, lieben, arbeiten – ein Leben leben. Keine unheimlichen Fremden, keine schwarzen Hemden, keinerlei verdächtige Bewegungen. Karoline befürchtete deswegen bereits, zu leichtsinnig zu werden und doch wieder darüber nachzudenken, die Zeit- und/oder Dimensionssprünge wieder aufzunehmen. Die Tage wurden wärmer und wärmer, Marie wurde immer schneller zu einer großartigen jungen Mutter, und der Buchträger schien sich auch in seine Rolle finden zu wollen. Nur der Brillenträger wirkte weiterhin rastlos.

Am Abend vor ihrem Ausflug in den Harz saß er mit dem Buchträger auf dem Balkon und schüttete ihm sein wild wucherndes schriftstellerisches Herz aus. „Is’ doch ne scheiß Idee, oder?“
„Nö, find ich gar nich’. Ich meine, was Karl May abgezogen hat, brauch’ ich dir ja nich’ erzähl’n. Und guck, über den halten heute noch US-Dozenten Vorträge in unserer Stadtbibliothek.“
„Ja, aber sowas taugt doch heute nur noch, um sich nen Shitstorm abzuholen. Cultural Aprobiation, schon mal gehört?“
„Logisch, Herr Nuhr. Aber du würdest dir doch niemals anmaßen, irgendwas abzubilden, dass du nicht gründlich recherchiert hast, oder? Deswegen liefe das eher unter so etwas wie Ethno-Fiction, vielleicht.“ Der Buchträger musste selber lachen. „Aber warum eigentlich? Brauchst du mal Abwechslung, oder wieso dieser neue Schub von größenwahnsinnigem Eskapismus?“
„Du hast länger nichts von mir gelesen, was? Oder mal Nachrichten geschaut?“
Der Buchträger wurde schnell ernst: „Ich bin frischer Vater von zwei Töchtern. Und ja, ich habe Nachrichten geschaut. Ich muss nur nicht drüber schreiben. Meine Gegenwart ist spannend genug, glaub mir. Jeder Tag könnte eine richtig unerwartete Wendung nehmen. Alles ist immer wie neu.“ Er sah über die Dächer der Altstadt. „Also, du willst es also wirklich drauf anlegen, ja? Den einen Text über die USA schreiben, den bisher noch keiner geschrieben hat. Die ganz authentische Nummer, kein Bedienen von Mustern, keine Reportage mit versteckter Mission, kein postmodernes Brechen des Narrativs, kein Struggel mit dem Impostersyndrom, mal nicht nur eine Metaebene weniger, sondern einfach gar keine. Irgendwas, das die Menschen auch vollständig erfassen können, ohne in deinem Kopf wohnen zu müssen.“
Der Brillenträger brauchte einige Momente, bis er seine Antwort ausformulieren konnte: „Ja, ganz genau.“
„Aber du stehst vor dem Problem, dass du momentan nur auf fremde Quellen zurückgreifen kannst, und tatsächlich über so etwas wie Vorstellungskraft verfügen musst, damit dass eben kein May-Verschnitt wird, sondern eher Michael Ende.“
„Häh?“
Der Buchträger zeichnete mit seinen Händen eine Werbetafel in die Luft: „Im Labyrinth der Spiegelwelt – Wirklichkeit und Fiktion in den USA zu Beginn der Zweitausendzwanziger Jahre. Eine sommerliche Wohlfühl-Meta-Reportage für den westlichen Kokon nach Beginn des Weltuntergangs.“ Er sah den Brillenträger verstohlen an. „Too much?“
„Sollte das etwa ein Titelvorschlag sein? Willst du nicht erstmal hören, was ich schon zusammengetragen habe?“
„Du meinst schlaue Zitaten von US-Literatur Übergottheiten? Irgendwas mit der ganz konfus machenden Weite des Landes, in dem die Städte und Dörfer nur durch die Funknetze zusammengehalten werden.“
„Ja, auch. Aber wo du es grad ansprichst: Dazu habe ich zum Beispiel schon was passendes recherchiert. Wie wäre es, wenn der Held der Reise durch Nebraska fahren würde, um wirklich endlich mal dieses Gefühl der unendlichen Weite …“
„Hast du g’rade Held gesagt? Schreibst du etwa endlich auch deine langgeplante Heldenreise?“
„Hab’ ich zumindest vor.“
„Achtu. Und hast du irgendwelche Sidekicks, oder ist das eher so ne Lonesome Wolf Geschichte?“
„Ich hatte kurz überlegt, ein sprechendes Tier mitzuschicken, einen Raben oder einen Wolf vielleicht. So ne Mischung aus Moses, aus Farm der Tiere, und Sköll, dem … „
„ … Wolf des Odin, der die Sonne verfolgt. Ich weiß. Sehr tiefschürfend.“
„Danke. Aber das Tier müsste dann ja auch noch so eine Art historisch-materialistische Haltung haben, um immer so’n bisschen ironisch das Geschehen zu kommentieren. Aber das war mir dann doch zu abgefuckt. Und außerdem war mir das auch zu viel der Kreativarbeit, die Recherche frisst eh schon alle Zeit.“
„Verstehe. Und wohin soll dieser Endlevel-Eskapismus-Roadtrip führen? Die USA sind groß, wie willst du dich da entscheiden?“
„Ganz einfach, immer der Sonne hinterher … “, der Buchträger verzog kaum eine Miene, „nee, Quatsch, das hab ich schon vor Jahren entschieden, da war selbst an #DieDoppeltenZwanziger noch nicht zu denken. Kennst du Szene aus „Legends of the Fall“, wo Anthony Hopkins erfahren hat, dass sein lange vermisster Sohn gerade mit einer Herde Pferden über die Hügel von Montana nach Hause kommt?“
„Und wo er diese kleine Tafel um den Hals hängen hat, als er auf die Vorderveranda tritt und er mit zittriger Hand die Kreide führt? Was hat er geschrieben?
„Am Happy.“
„Ich glaub, ich habe Gänsehaut.“
„Mach dich ruhig lustig. Ich weiß auch schon, wo der Held sein wird, wenn er seinen ersten Zyklus durchlaufen hat.“
„Lass mich raten: An irgendeinem Berg in den Wolken am Big Sky von Montana?“
„Nicht an irgend einem.“
„Meinst du, dass es nicht auch irgendwann mal zu viel wird mit der Symbolik?“
„Nicht, wenn es wirklich einen Berg gibt, der so einen Namen trägt.“
„Du machst es aber auch spannend!“
„Ja, sorry, not sorry. Ich überlege, ob ich den Namen auch direkt für ein ganzes Kapitel benutze, deswegen verrate ich den noch nicht.“
„Na gut, klingt überzeugend bis jetzt. Was hast du noch so recherchiert?“
„Ne ganze Menge schon, für drei Wochen top Authentizität hab’ ich, denke ich, genug zusammen. Ich erzähl’ nur noch kurz von ein paar wenigen, okay? Der Abend wird sonst noch zu lang, und wir hängen morgen im Waldbad durch.“
„Jawohl, Herr Lehrer.“
„Also, da hätte ich diese Story auf dem Konzert der Capital State Band in Helena, Montana.“
„Klar.“
„Der Held, der zwar nicht unbedingt auf den ersten Blick so aussieht, als ob er nicht aus der Gegend wäre, es aber natürlich ist, steht beim ersten Stück, Star Spangeld Banner, natürlich mit auf. Allerdings muss er dazu zuerst seine Zigarette auf dem grünen Rasen ausdrücken. Nach einigen weiteren Stücken und Zwischenansagen stellt er fest, dass absolut niemand sonst raucht. Die Ansagen, in denen es wiederholt freundlich-witzig um „smoking“ ging, scheinen sich an ihn gerichtet zu haben.“
„Aha, auf die harte Tour gelernt, wie man sich benimmt. Public Shaming am eigenen Körper miterlebt. Muss nachhaltig gewesen sein.“
„Hm. Dann hätte ich da noch die North American Indian Days in Browning, Montana.“
„Klar.“
„Der Held parkt mit seinem Camper unweit des größten Jahrestreffens der nordamerikanischen Natives im Herzland der nördlichen Stämme. Aus North- und South Dakota, Wyomimg, Montana und Kanada sind bestimmt 20.000 Menschen auf dem Pow Wow. Aus einem riesigen Zelt dröhnen bis nach Mitternacht die Trommeln, davor steht ein Rummel. Der Held aber traut sich nicht weiter ran, er ist alleine unterwegs, und fühlt sich für so ein Festival absolut nicht vorbereitet.“
„Cool. Und was ist Cowboys? Hast du auch schon was? Karl May soll sich im Grab doch so richtig ärgern, oder?“
„Nee, dazu habe ich noch nichts aktuelles gefunden.“
„Dann vielleicht noch was richtig spannendes? Aber mit Happy End?“
„Reichlich. Im Glacier Nationalpark, Montana … “
„Klar.“
„ … ignoriert der Held die zahlreichen Warnhinweise, er solle nicht alleine wandern und doch bitte Bear Spray, so eine Art Tränengas, dabei haben, die nachweislich beste Abwehr gegen angriffslustige Grizzlies und Schwarzbären, die es dort zuhauf gibt. Er zieht die knapp vierzehn Meilen aber weder mit Bärenspray noch in Begleitung durch. Muss er auch nicht, das Wetter ist optimal, und es sind viele Freunde des Alpinsports unterwegs, aus der ganzen Welt.“
„Womit ist der Held eigentlich unterwegs? Harley?“
„Auf keinen Fall. Ich hab’ ihm einen Camper spendiert, als Symbol für seine Unabhängigkeit. Außerdem kann ich so über Zeltplätze und abenteuerliche Schlafplatzsuchen schreiben. In einem Buch über den amerikanischen Sommer passt das ganz gut, wie ich rausgefunden habe.“
„Okay. Aber ein so’n richtig schräges Ding brauchst du auch. Ein Kapitel, wo dann doch irgendwie kurz mal klar wird, dass es um die Authentizität eher so mittel bestellt ist.“
„Hab’ ich auch schon ein paar Ideen. Zum Beispiel ein seitenlanges Gespräch zwischen dem Helden und einem Cop in Kentucky.
„Nice.“
„Oder wie der Held in Montana … lass es … auf einem Campingplatz Austin Reaves trifft, der da mit Taylor Swift seinen neuen Vertrag mit den Lakers feiert. Der Held zieht Austin natürlich auf dem Freiplatz ab, und Taylor fragt nach seinem Twitterhandle.“
„Der Held hat ein Twitterhandle?“
„Eben! Und bevor du fragst: Nein, über ein Ende habe ich noch nicht wirklich nachgedacht, ich denke, dass ich dazu noch mal mehr als drei Wochen recherchieren muss.“
„Alles klar, dafür viel Muße. Aber was ist jetzt mit einem Titel?“
„Hundert Ideen, aber noch nichts endgültiges. Auf jeden Fall soll er die Frage beinhalten, ob man sich an einem Traum die Füße wund laufen kann, wenn du verstehst, was ich meine.“
„Ja, ich denke schon. Ich weiß sogar, was „Blase“ auf englisch heißt.“
„Ach ja?“
„Vergiss es. Oder recherchier noch ein bisschen gründlicher. … Dann lass uns mal den Abend beenden. Außerdem wartet Marie bestimmt nicht gerne, und ich habe heute Nacht Schlafwache.“

In Thale angekommen, finder der Buchträger die beiden Frauen neben den schlafenden Mädchen auf der Couch. „Was schaut ihr?“
„Das Finale von Sweet Tooth. Sie sind gerade im Yellowstone angekommen.“
„Ist das zufällig in Montana?“
„Wie kommst du darauf? … Nicht wirklich, viel mehr in Wyoming.“
Marie zeigt auf den Bildschirm: „Ein wunderschöner Wald, oder etwa nicht? Da will man doch hin, wenn man sich aussuchen könnte, wohin man flieht.“

Am nächsten Mittag sitzen die sechs dann in Altenbrak. Die Mädchen schlafen vorübergehend friedlichst im Schatten der Bäume, die der Harz hier noch zu bieten hat.
Die Frauen sind gerade im Wasser, als der Buch- und der Brillenträger nicht überhören können, wie sich zwei Männer einer jeweils kleineren Gruppe (allesamt „Rocker“?) lautstark begrüßen.
„Zum Gruße!“
„Zum deutschen, oder was? Jerne.“
„Wo seid ihr her?“
„Na aus d’r Zukunft, woher denn sons’?“
„Ihr seid die Männer aus Sonneberg, oder?“
„Das sim’mer. Und ihr? Von hier?
„Ihr habt den Landrat, wir den Bürgermeister. Wir sind aus Raguhn. Willkommen in Sachsen-Anhalt, dem Sachsen für die nich’ janz so blöden.“
„Prima, Kamerad. Wir soll’n jedenfalls beste deutsche Grüße ausrichten vom Führer. Er ist stolz. Auch darauf, dass wir so schön die Füße still halten alle. Aber er sacht, nächstes Jahr jeht’s dann richtig los.“
„Na hoffentlich, uns jucken die Pfoten. Und scheiß erstmal dann auf die Grünen, die Zecken sind als erstes dran.“
„Darauf ein kühles blondes!“

Der Brillenträger verschwendet keine Zeit, den Frauen zu berichten, in was für Gesellschaft sie sich hier befinden. Kurz blitzen Karolines und auch Maries Augen auf, dann hören sie die Mädchen, die sich gerade gegenseitig mit Aufwachen anstecken. Karoline bemerkt aber den sich eintrübenden Blick des Brillenträgers. Sie denkt nicht lange nach: „Hey, ich hab’ was für dich. Aber nur ganz kurz, ja?“
Der Brillenträger sieht den Orb in ihrer Hand und sagt zu den anderen: „Hey, wir gehen mal einen Kaffee trinken, ihr seid ja jetzt erstmal besser beschäftigt.“
„Hier gibt’s doch auch Kaffee, wohin geht ihr?“
„Nach Montana natürlich. Gleich wieder da.“

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