Bild: Gänsehaut? Quedlinburg, März 2024
„Du nennst es Utopie,
ich nenn es Heimat;
revolutionierte Freiheit.“
Karoline und Marie werden ihre Blicke nicht losreißen können, auch Buch- und Brillenträger werden jede einzelne Bewegung der beiden Mädchen niemals vergessen; jede und jeder einzelne von ihnen wird bis zu ihrem Ende in der Lage sein, ohne zu überlegen ein Drehbuch im Sekundenstil darüber zu verfassen oder einen Roman von unbekanntem Ausmaß.
Der Brillenträger dachte an das kommende Wochenende, als würde er sich daran zurückerinnern. Und würde er in vielen Jahren davon erzählen, würde er immer vorausschicken müssen, das sei eine seiner liebsten Erinnerungen, vielleicht sogar die liebste. Die ersten Schritte der Mädchen lagen da erst einige Wochen zurück: Die größere von beiden (die zweitgeborene) war voran gegangen und kaum hatte sie die Arme ihrer Mutter erreicht, die lachend auf dem Sofa auf sie wartete, drehte sie sich nach ihrer Schwester um, die sich in diesem Moment ebenfalls aufstellte, Karoline, die kaum zwei Meter vom Sofa entfernt auf dem Teppich saß, noch einmal anlächelte und dann ihrer Schwester nachrannte, die sie auffing, als sie den letzten Schritt zu stürmisch setzte. Die Freude verdoppelte sich in jedem der vier Gesichter und alle klatschten laut und schnell in die Hände. Marie griff als erstes zu ihrem Handy, hielt es über ihre Köpfe und brauchte niemanden zum Glücklichaussehen auffordern.
Das entstandene Bild hatte den Brillenträger einige Stunden später erreicht, der Buchträger hatte es unkommentiert weitergeschickt; für Dialoge eignet sich das Glück nur selten, und eigentlich auch nur dann, wenn es nicht ganz vollkommen ist. Einige Minuten später kam aber doch noch ein Nachsatz: Nur auf die ersten Worte warten wir weiterhin gespannt. Der Brillenträger antwortete: Meine Wunschliste: Licht, Blume, Musik (was zunächst eher wie „Uhieg“ klingen wird). – Was nehmen wir für Musik mit zum ersten Tanz der beiden? Nur wenige Sekunden vergingen: Du kannst Fragen stellen… Mach doch einfach Deinen Vorschlag! Der Brillenträger überlegte nicht: Lasst Euch überraschen… Die letzte Antwort überraschte ihn nicht: Alter, Dialoge schreiben müssen wir aber mal wieder üben, was? Bis ganz bald!
Vor einigen Tagen hatte der Brillenträger begonnen, den Debutroman des jüngsten Wunderkindes der US-amerikanischen Gegenwartsliteratur zu lesen und war seit dem nur noch mehr ernüchtert, besonders weil die Dialoge, die wie brotkrumige Perlen in den Kapiteln verstreut waren, vor Wortwitz und Klugheit nur so funkelten. Dialoge, wie sie nur die Belletristik kennt, und die im wahren Leben immer unerreicht bleiben. Dialoge, die aber im wahren Leben sowieso immer noch mehr abnahmen. Jedenfalls kam es dem Brillenträger immer öfter so vor. Die Menschen waren dazu übergegangen, wenn sie sich unterhielten, eher Monologe und Kommentare auszutauschen, als wirklich miteinander zu reden. Sogar hier in der Provinz. Durch alle Altersgruppen. Das musste diese Spaltung sein, über die ständig immer alle reden mussten. Alles war zu Triggerpunkten geworden, und alle fühlten sich ständig angeklickt. Wirklich miteinander zu reden, das mussten die allermeisten anscheinend erst wieder ganz von vorne lernen. Der Brillenträger hatte den Roman zur Seite gelegt und sich an den letzten Sonntag erinnert, als das provinzielle Weltkulturerbe erneut über die nationalen Bildschirme flackerte. Das ZDF übertrug nach nur drei Jahren schon wieder den Fernsehgottesdienst aus der Nikolaikirche, die Quote war wohl überzeugend genug. Die Quedlinburger Pastorin wirkte dabei schon fast etwas zu professionell, aber ihre Botschaft war genauso beruhigend wie beim letzten Mal: „Mein Glaube lernt nie aus.“ Eingerahmt von Chor und Gottesdienstler*innen stellte sie dabei eher das Lernen in den Mittelpunkt ihrer Predigt. Es ging zum Beispiel ums Fahrradfahrenlernen. Würden wir das jemals lernen können, wenn wir nicht daran glauben würden, dass es gelingt? Hatte der Brillenträger etwa einfach nur seinen Glauben an wirkliche, also gute Dialoge verloren? Und konnte er wieder lernen, daran zu glauben? Oder war es etwas anderes, das dieses Band zwischen den Menschen nach und nach auflöste? Er klappte sein Notebook auf, wozu wusste er selbst gar nicht so genau, und sofort saß er vor einem Schlagzeilenhagel, dessen Ende niemals mehr aufzuhören schien…
… es beginnt in berlin, wo auch die berlinale nicht mehr ohne kontroverse auskommt und damit in sachen antisemitismus und palästina genau null erreicht, und es geht weiter in berlin, wo „die klette“ endlich gefasst wurde, eine ex-raf-terroristin der dritten generation, die in kreuzberg lebte; das gespenst des linksterrorismus wacht immer dann auf, wenn keiner mitbekommen soll, oder will, wie viel zu rechts alles geworden ist, und deswegen geht es auch gleich weiter mit linksterrorismus, dieses mal aber eher so erste generation: die „vulkangruppe“ knippst tesla in grünheide die lichter aus, gleich für mehrere tage, und gleich für mehrere tage stehen auch die züge wieder still, der linksterrorismus triggert nicht mehr nur die fdp, und seit 6. märz ist „kein verlass“ mehr auf die bahn, micky beisenherz hat gelacht, während in gaza inzwischen 30.000 tote zivilisten gezählt werden, und trotzdem immer noch mehr tragödien dazukommen, wie die 500.000 menschen die dort akut vom hungertod bedroht sind, was die idf nicht davon abhält, auf hungernde (und deswegen) plündernde menschen zu schießen, und immer noch bezweifeln andere menschen den genozidalen zug dieses rachekrieges und werfen aber vorsichtshalber hilfsgüter über dem gaza-streifen ab (wobei absurderweise 5 zivilisten sterben, weil einer der fallschirme nicht funktionierte oder bauen gleich mal einen hafen an der küste, so wie die usa, wo ja auch alles wieder immer schlimmer wird, denn trump scheint (momentan) nicht mehr aufzuhalten: der super tuesday geht an ihn, nur in vermont kann nikki haley gewinnen, vom supreme court kriegt er auch schon mal gelbes licht, ohne eine einzige gegenstimme entscheiden die richter*innen, dass so ein 6. januar noch kein grund sein muss, jemanden von der wahl auszuschließen, immerhin aber haben die staaten den nächsten schutdown verhindert, der zusammenbruch ist weiter in die zukunft verlegt, wenn trump dann mit seinen wahlthemen zum erfolg gekommen ist, mit hetze und angst und noch mehr angst, also mit „ausländern“, „inflation“ und „kriminalität“, weswegen biden bei der sotu auch ordentlich austeilen kann, ohne den frisurensohn auch nur einmal namentlich zu erwähnen, aber in den staaten gibt es auch erfreuliche aussichten, natürlich nur beim basketball, wo das duell der kommenden jahre in texas stattfinden wird, nachdem wemby jetzt das erste mal das andere unicorn geschlagen hat, wird er sich ab nächstem jahr mit doncic duellieren; keine gegner*innen dagegen wird caitlin clark haben, die locker von der freiwurflinie den alleinigen punktrekord aller collegespieler*innen eingenetzt hat, denn da kann nur noch der king mithalten, der sich die 40k mit einem korbleger schnappt, und womit?, mit links, aber hierzulande geht es natürlich viel rechtslastiger weiter, mit den ersten ernstzunehmenden unfällen nach „bauernprotesten“, oder der mpk-debatte zur obergrenze, oder der „monitor“-simulation zum kommenden afd-staat, oder der „zerlegung“ von julian reichelt in dessen eigenem studio (durch florian schröder), oder der renten-schnappsidee des jahrzehnts, dem „generationenkapital, das wohl wirklich gesetz werden soll, oder wie in frankreich, wo das recht auf abtreibung jetzt verfassungsrang hat, aber im grunde ist das alles auch nur noch weitere füllmasse für diverse frühlings-, sommer-, herbst- und/oder winterlöcher, wie auch die tatsache, dass amazon die ersten lagerroboter testet, oder halt irgendein krieg, der uns noch nicht so direkt betrifft.
Kriegsprotokoll. Schreibtisch. Deutsche Heimatfront. Letzte Reihe.
Wochen 105 und 106.
Nato-Boots und/oder Taurus? Montag: Weiterhin Luftangriffe an allen Abschnitten der Front. In Dänemark werden die Nord-Stream2-Ermittlungen eingestellt. Die ukrainische Truppen ziehen sich bei Awdijiwka weiter zurück, Lastotschkyne wird von russischen Truppen eingenommen. Scholz bleibt klar beim Nein für Taurus-Lieferungen: „Wir dürfen an keiner Stelle und an keinem Ort mit den Zielen, die dieses System erreicht, verknüpft sein.“ Moskau meldet die erste Zerstörung eines Abrams-Panzers. Das ungarische Parlament stimmt dem Nato-Beitritt Schwedens zu. Am Abend verspricht Macron: „Wir wollen nicht mit dem russischen Volk in einen Krieg treten.“ In Belgorod sterben Zivilisten nach ukrainischen Luftschlägen. Dienstag: FDP und Grüne können Scholz’ Nein nicht verstehen. Macron schließt plötzlich den Einsatz westlicher Bodentruppen nicht mehr aus, auch sein Premier, Gabriel Attal sieht da so, der restliche Westen reagiert verstört. Selenskyj besucht Saudi Arabien. In Sumy sterben Polizisten nach dem nächsten russischen Luftschlag. Die Visegrad-Staaten zerstreiten sich bei der Frage nach der weiteren Kriegsunterstützung. Frankreichs Außenminister Séjourné: „Einige Handlungen könnten eine Präsenz auf ukrainischem Territorium erforderlich machen, ohne die Schwelle zur kriegsführenden Macht zu erreichen.“ Die nächsten Orte nahe Awdijiwka werden aufgeben. Tschassiw Jar wird inzwischen heftig umkämpft. Mittwoch: Wolfgang Ischinger (ex-Siko) findet Macrons Schritt „kühn, aber nicht falsch“. Die Separatisten in Transnistrien bitten per Resolution Russland um Schutz, Moskau stuft das sofort als Priorität ein. Russland kündigt Reaktionen auf Schwedens Nato-Beitritt an, „politischer und militärisch-technischer Art“. In Kupjansk wird der Bahnhof massiv beschossen, Zivilisten sterben. Scholz mit Klartext am Abend: „Um es klipp und klar zu sagen: Als deutscher Bundeskanzler werde ich keine Soldaten unserer Bundeswehr in die Ukraine entsenden. Das gilt. Darauf können sich unsere Soldatinnen und Soldaten verlassen. Und darauf können Sie sich verlassen.“ Klitschko bei Maischberger: „Wir brauchen keine deutschen Soldaten.“ Donnerstag: Robotyne ist weitestgehend wieder unter russischer Kontrolle. Putin zur Lage der Nation: Russland obsiegt, wenn nötig mit Nuklearwaffen. Bei Awidijiwka wieder mehr Nicht Neues. Die Insel Tendra (im Schwarzen Meer) wird angegriffen, die ukrainischen Landungstruppen werden zurückgeschlagen. Moldau/Transnistrien rückt weiter in den Fokus. Die Ukraine meldet den Abschuss von drei russischen Kampfjets. Freitag: Frankreichs Außenmnister Séjourné bekräftigt: „Alles, was wir tun, dient dazu, den Krieg zu verhindern.“ Und Macron schämt sich nicht zu sagen: „Jedes Wort, das ich zu diesem Thema sage, ist abgewogen, durchdacht und besonnen.“ Die Niederlande und die Ukraine haben jetzt auch ein Sicherheitsabkommen. Deutsche Luftwaffen-Offiziere diskutierten die Zerstörung der Krimbrücke mit Taurusmarschflugkörpern; das ganze wird von Russland abgehört und geleakt. Rund um Awdijiwka Nichts Neues. Samstag: Odessa und Charkiw werden massiv beschossen. In St. Petersburg wird ein Hochhaus nach einem mutmaßlichen Drohnenangriff geräumt. Das deutsche Verteidigungsministerium bestätigt die Abhöraktion. Die CDU stellt direkt die Glaubwürdigkeit von Kanzler Scholz infrage, ein Untersuchungsausschuss ist nicht ausgeschlossen. Sonntag: Die Krimbrücke wird nach mehreren Explosionen gesperrt. Die CDU fordert eine umgehende Regierungserklärung zum Abhörskandal. Laut London hat Russland bis heute über 350.000 Soldaten verloren (tot oder schwer verletzt). Kurachowe (Südosten) wird beschossen. Montag: Im russischen Samara (weit hinter der Front) fliegt einen Eisenbahnbrücke in die Luft, Kiew übernimmt die Verantwortung. Der EU-Kommissar Breton fordert die Umstellung auf Kriegswirtschaft. Dienstag: Die Korvette „Sergej Kotow“ wurde mit „aufgemotzten Jetskis“ versenkt. In Gluschkowo (Kursk) wird der Bahnhof angegriffen. Macron lässt nicht locker: „Wir nähern uns gewiss einem Moment unseres Europas, in dem es angebracht ist, nicht feige zu sein.“ Pistorius findet das „nicht hilfreich“. Über dem Schwarzen Meer werden drei französische Militärmaschinen von einem russischen Jet eskortiert. Mittwoch: In Kursk brennt ein weiteres Treibstofflager (Schelesnogorsk). Sumy wird wird Drohnen attackiert. Deutschland beschafft hunderttausende Artilleriegranaten für die Ukraine. In Berdjansk (Aswosches Meer) detoniert eine Autobombe, eine Mitarbeiterin der Wahlbehörde stirbt. Charkiw wird mit Raketen beschossen. Während des Besuches von Selenskyj und Mitsotakis in Odessa schlägt nur unweit der beiden eine russische Rakete ein, fünf Menschen sterben. Scholz ist sich „sehr sicher, dass das Vertrauen zwischen Deutschland und seinen Verbündeten und Freunden so groß ist, dass das, was da passiert ist (Abhöraktion), dieses Vertrauen nicht beeinträchtigt.“ Donnerstag: Das Auswärtige Amt rät „dringend“ von Reisen nach Russland ab. In Norwegen beginnt das nächste Nato-Großmanöver (20.000 Soldaten). In Kasan brennt eine russische Militärakademie. Der litauische Geheimdienst weiß: Russland bereitet sich auf eine „langfristige Konfrontation“ mit den Nato-Staaten im Ostseeraum vor. Schweden tritt ganz offiziell der Nato bei. Die Union möchte gerne erneut im Bundestag über Taurus-Lieferungen abstimmen, und obwohl/weil eine deutliche Mehrheit der Deutschen das ablehnt, schließt auch ACAB das nicht aus. Frankreich und Moldau unterzeichnen einen Kooperationsvertrag. Im Norden Russlands (Severstal) wird ein Stahlwerk von einer Drohne getroffen. In Sumy werden ein Krankenhaus und eine Schule getroffen. Selenskyj ist in Istanbul. Freitag: Das nächtliche Drohnenduell geht heute 37:16 für Russland aus. Pistorius haut auf den Tisch: „Niemand will wirklich Stiefel auf dem Boden in der Ukraine haben, es gibt jetzt eine Diskussion darüber, also sollten wir es an diesem Punkt stoppen.“ Sumy wird wiederholt mit Raketen angegriffen. Auch in Belgorod sterben Zivilisten, sowie in Charkiw und Cherson. Selenskyj trifft sich mit Erdogan in Istanbul auf der Suche nach der „Friedensformel“. Kuleba fordert was: „Nötig ist eine uneingeschränkte und rechtzeitige Versorgung mit Waffen und Munition aller Art, um sicherzustellen, dass die Ukraine Russland besiegt und der Krieg in Europa nicht übergreift. Wir müssen als neue Realität akzeptieren, dass die Ära des Friedens in Europa vorbei ist“. Merz sieht das ähnlich und wirft Scholz in Sachen Taurus „jämmerliches Verhalten“ vor. Samstag: Der UK bietet einen Ringtausch an: Deutschland schickt „Taurus“-Marschflugkörper auf die Inseln, und die schicken „Storm Shadow“-Raketen in die Ukraine. Gleitbomben und Drohnen treffen Charkiw, Krywyj Rih und Tscherwonohryhoriwka (Saporischija). Auch am Asowschen Meer, in Kursk und Rostow schlagen Geschosse ein. Der polnische Außenminister hält Bodentruppen inzwischen ebenfalls für möglich. Die russische Armee rückt weiter auf Tschassiw Jar vor, Tag und Nacht Nichts Neues. Der Papst rät zum „Mut zur weißen Fahne“. Pistorius ist zu Besuch in Schweden und probiert schon mal die Argumente für eine Rückkehr der Wehrpflicht in Deutschland aus. Sonntag: Luftalarm in Kiew und Explosionen in Odessa. Polen kritisiert die Papstäußerung von gestern, und auch Marie-Agnes Strack-Zimmermann ist sauer auf den Papst: „Bevor die ukrainischen Opfer die weiße Flagge hissen, sollte der Papst laut und unüberhörbar die brutalen russischen Täter auffordern, ihre Piraten-Fahne – das Symbol für den Tod und den Satan – einzuholen.“
… als ob er aus einem Alptraum erwachet wäre, klappte der Brillenträger das Notebook wieder zu und war wie immer froh, wenn er nicht weiter an seiner Chronik schreiben musste. Niemand verlangte seine Diskursteilnahme, mit niemandem war er Verträge eingegangen, und niemand erwartete Dialogfähigkeit. Nur die Deadline ließ die Beine von der Schreibtischkante baumeln, blätterte in ihrem Kalender und legte ihn fürs erste wieder auf den Stapel zurück. Erschöpft, aber nicht müde, ging er auch an diesem Abend früh ins Bett, der den Abenden der letzten Monate wie ein Spiegelbild ähnelte. Nur dass er heute eben den dritten Abend in Folge „Geister“ las.
„Tatsächlich? Kaum dass sie den Fernseher anschalteten, sahen sie in den Nachrichten Bilder von einer weiteren verdammten humanitären Krise, von einem weiteren gottverdammten Krieg an einem gottverlassenen Ort, sahen Bilder von verwundeten Menschen und hungernden Kindern und empfanden eine schreiende, bittere Wut auf diese Kinder, weil sie in die einzigen Momente der Entspannung eindrangen und die wenige Zeit zerstörten, die ihnen vom Tag noch blieb. Da wurden sie dann doch ärgerlich, schließlich hatten sie ein hartes Leben, und ihren Klagen hörte niemand zu. Alle hatten Probleme – warum konnten sich die Menschen nicht einfach still in sich fügen und mit ihnen umgehen? Für sich? Mit ein wenig Selbstachtung? Warum mussten sie andere Leute in ihre Angelegenheiten hineinziehen? Es war ja nicht so, dass die Nachbarn etwas hätten tun können. Es war ja nicht so, dass die ganzen Bürgerkriege im Fernsehen ihr Fehler waren.“
(Nathan Hill: Geister. 2016)
Am nächsten Morgen, dem zweiten Märzsonntag des Jahres, hing eine dichte Wolkendecke bis auf die Dächer der Stadt. Die Stimmung in der Guts-Muths-Halle in der Turnstraße schlug dem Brillenträger bereits an der angelehnten, schweren Holztür des Eingangs entgegen; vom Eskapismus durch sein Lieblingsspiel verabschiedete er sich beim Betreten des alten Parketts; die Halle war voller Eltern und Geschwister, und die Jungs auf dem Feld machten einen sehr ausgeschlafenen Eindruck. Die Gäste aus der Bördemetropole spielten in blau, die heimischen Panthers in rot. Und sie spielten, als ginge es um alles. Der Brillenträger und sein Kollege hatten acht mal fünf Minuten so viel zu tun wie sonst nicht in fünf oder acht Spielen. Es wurde gebrüllt, es flossen viele Tränen, und immer wieder brach Jubel aus. Die erste Spielhälfte gehörte den Gastgebern, die zweite den Gästen. Dann wieder Tränen und Jubel. Der Eskapismus klopfte dem Brillenträger beim Verlassen der Halle versöhnlich auf die Schulter, als sein Handy summte: Sind gegen drei auf dem Ritter Platz. Dann zwei mal das erste Eis probieren. Du auch? Der Brillenträger schrieb zurück: Wolken, Wind und unter 10°C? Sounds perfect to me.
„Sag mal, was habe ich da gerade über das Schillers gehört?“, der Buchträger nahm seinen Freund in den Arm, „Ich krieg echt gar nichts mehr mit.“
„Na ja, unschön, aber auch keine Totalverwüstung. Eher so Kleinstadtkriminalität. Und ein paar Tage später hatten sie schon wieder auf.“ Der Brillenträger begrüßte die Frauen, die jeweils eines der Mädchen auf dem Arm hatten. „Für einen Spaziergang sind die Beine wohl noch zu kurz? Schön, euch zu sehen. Lasst mich raten“, er ließ seinen Blick zwischen den Schwestern hin und her schweifen und zeigte dann auf die größere, „das ist Rosa?“
„Nein“, Marie deutete auf die kleinere, „das ist Rosa. ‚Die Große.‘ “
„Und dann ist das also“, er nickte der größeren zu, „ ,Die Kleine’. Violetta!“, er lachte die Mädchen an, „Euch geht es wohl gut, was?“, und sie lachten gemeinsam zurück. Karoline schüttelte nur den Kopf: „Wie oft wollen wir dieses Spiel eigentlich noch spielen?“
„Solange bis ihr mir erklären könnt, warum die größere ,Die Kleine’, und die kleinere ,Die Große’ ist.“
„Haben wir doch schon viel zu oft!“
„Ja, aber noch find ich es witzig“, er machte eine einladende Geste in Richtung Marktplatz, „hoffen wir mal, dass wir ein gutes Eis finden.“
Auch eine halbe Stunde später hatte es die Sonne nicht durch die Wolken geschafft, und so saßen sie auf den kalten Stufen vor dem Rathaus und schleckten tapfer an je einer Kugel Eis. Karoline und der Brillenträger hatten Rosa und Violetta auf dem Schoß, die sich über Vanille und Schokolade wunderten. Der Buchträger stand etwas abseits und rauchte. Erst auf den zweiten Blick erkannte der Brillenträger, dass der Buchträger dabei anscheinend auch einem Gespräch lauschte, das zwei Männer führten, die halbverstohlen am Rande des Romantik-Cafés saßen:
„Dysfunktionale Demokratien?“
„Ja, ganz genau! Und vorhin habe ich Eva Menasse im Radio sagen hören, die Spaltung der Gesellschaft zeigt sich inzwischen nicht mehr nur in den Sozialen Medien, wo sie deren Ursprung sieht, sondern auch in einem unheimlichen Ausmaß im alltäglichen Alltag. Alle würden nur noch Monologe und Kommentare absenden und dann auf die reactions reacten.“
„Das hat Eva Menasse so gesagt?“
„Natürlich nicht! Aber überleg doch mal! Das bedeutet, dass der Diskurs möglicherweise bereits irreparabel beschädigt ist.“
„Und das bedeutet jetzt genau was noch?“
„Na, zum Beispiel, dass so etwas wie die Wehrhafte Demokratie auch nur noch eine andere Seite der selben Medaille sind.“
„Nicht der gleichen?“
„Bitte?“
„Nicht der gleichen Seite?“
„Nein, sie gehören zu der selben. Es gibt nur noch zwei Seiten. Wie bei einem Spiegel.“
„Möglich. Sollte auch nur ein Witz sein. Aber, ehrlich, es wäre doch auch falsch, so kleine Erfolge wie hier, wo die Antifa und später die bürgerliche Mitte den Markt zurückerobert haben, nicht zu beachten. Letzten Sonntag wieder, nur so zum Beispiel.“
„Ja, für den Frühling und Sommer in der Provinz reicht das vielleicht. Du vergisst schon wieder, dass auch im deutschen Hinterland darauf immer wieder der Herbst folgt. Die andere Hälfte der anderen Seite.“
„Ist dein Kaffee jetzt dann also auch halbleer? Dann können wir ja los; es wird kalt.“
„Nein. Ich muss dich enttäuschen. Ich bin noch nicht fertig.“
„Du möchstest also noch ein bisschen weiter über den Vorbürgerkrieg referieren?“
„Schnapp dir ruhig ein Co-Referat, wir haben Zuhörerschaft.“
„Deal. Thema Demonstrationen. Hier auf der Straße liegt er bereits, der Schatten der kommenden Ereignisse. Wann wird das erste Mal Blut auf die Pflaster der Marktplätze fließen? Was, wenn aus den ,Störkationen’ wirklich tätliche Übergriffe werden? Wenn der Bürgerkrieg Gestalt annimmt?“
„Wird er dabei braune Hemden tragen?“
„Nein, mit Sicherheit wieder schwarz. Auf beiden Seiten.“
„Aber, hier wieder die andere Seite: Das ,Correctiv’ hat vor Gericht gewonnen! Nicht mal die CDU kann sich aus der ,Potsdam-Konferenz’ rausreden. Das ist doch Wehrhafte Demokratie!“
„Das ist der Rechtsstaat. Der institutionalisierte Gartenzaun. Die letzte Grenze, bevor aus Dialogen Wortgefechte werden. Zum Glück funktioniert sie manchmal noch. Und außerdem, spielen wir ruhig weiter Münzenwerfen, das ,Correctiv’ wird von der anderen Seite wegen Volksverhetzung verklagt, weil die mit einem angeblichen Vergleich zur ,Wannsee-Konferenz’ den Holocaust relativieren würden.“
„Wer hat sich das denn ausgedacht?“
„Keiner. Nein, Quatsch. Ich tippe auf Martin S.“
„Sicher? Ich denke dabei auch an Höcke. Und ich sage dir auch gleich warum.“
„Warum?“
„Weil ich es kann. Denn das hier hat der letzte Woche dem Kanzler geschickt, ein offener Brief in irgendeinem Sozialen Medium. Diskurszerwichsung auf allerhöchstem Level.“ Einer der beiden Männer suchte kurz etwas auf einem Schwarzen Spiegel, dann las er so laut vor, dass sogar der Brillenträger verstehen konnte, was er sagte: „Erstens: Ausgerechnet am 11. April soll die Debatte zwischen Höcke und Voigt bei auf Welt-TV stattfinden, wahrscheinlich so kurz nach drei.“
„Warum so zynisch?“
„Weil, zweitens, Zitat Höcke: „Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Olaf Scholz, unsere politischen Schnittmengen sind übersichtlich und Ihre offenkundige Unehrlichkeit irritiert mich. Trotzdem erkenne ich an, daß Sie dem Druck der schlimmsten Kriegstreiber bisher widerstanden haben. Ich möchte Sie inständig bitten, weiter standzuhalten. Ich schreibe Ihnen nicht, weil ich für mich etwas erhoffe, denn ich habe mein Leben gelebt und bin mit mir im Reinen. Ich schreibe für meine Kinder und die Kinder Europas, die ein Anrecht auf ein friedliches Leben haben. Gehen Sie nicht in die Geschichte ein als der Mann, dessen Entscheidung Marschflugkörper zu liefern, den Dritten Weltkrieg ausgelöst hat! Geben Sie in dieser Sache nicht nach und erhalten Sie den Frieden! – Hochachtungsvoll – Ihr Björn Höcke – Erfurt, den 27. Februar 2024.“
„Er hat sein Leben gelebt? Was soll das heißen? Tritt er ab?“
„Ist deine Tasse jetzt etwa wieder halbvoll, oder was?“
„War das nicht eben noch deine Tasse?“
Als der Buchträger aufgeraucht hatte, kam er beinahe entgeistert zu den anderen zurück und fasste unter Kopfschütteln den mitgehörten Dialog zusammen. Der Brillenträger zog eine halbe Augenbraue nach oben: „Alter, was sind das für Typen?“
„Keine Ahnung. Könnten Verleger sein; als ich angefangen habe zuzuhören, hat einer was von einem Buchtitel erzählt. Heikle Sache. Könnte schiefgehen. Könnte das Risiko aber auch wert sein. Auflagezahlen wurden genannt.“
Karoline und Marie sahen sich an, die Mädchen sahen sich gegenseitig an. „Hast du den Titel gehört?“
„Nicht ganz. Hab nur ,Babylon’ verstanden, da war aber noch ein zweites Wort.“ Der Buchträger steckte sein Feuerzeug, mit dem er bis jetzt nervös herumgespielt hatte, in die Jackentasche. „Lasst uns gehen. Vorne im Wordgarten oder hinter dem Schloss erwischen wir vielleicht doch noch ein paar Sonnenstrahlen.“ Beim Tragen der Mädchen wechselten sie sich immer wieder ab; die Sonne ließ sich für heute nicht mehr blicken.
„Hast Du wieder einen Geist gesehen?“ Karoline schaute dem Brillenträger direkt ins Gesicht, der seinen Schreck nicht verbergen konnte. Grade waren sie wieder auf dem Ritter Platz angelangt, als er an einer der beiden Autoladesäulen in der gepflasterten Kurve der Straße einen zunächst unscheinbaren Sticker erkannte, dessen Gestaltung aber sofort seine Aufmerksamkeit auf sich zog: Ein übergroßer blonder Mann lehnt mit einem Ellenbogen auf drei großen Ziegelsteinen. Die Überschrift verkündet in blutrot auf weiß: ,Wir bauen auf!‘ Darunter, auf den Ziegelsteinen: ,Unsere Bausteine: Arbeit. Freiheit. Brot.‘ Als erstes dachte der Brillenträger an einen stilistisch daneben geratenen Solidaritätsaufruf der Maurer mit den Bauern, dann aber erkannte er, dass der große blonde Mann auf zwei kleine, dunkelhaarige Männer hinabschaut, die Plakate in der Hand haben, auf denen nichts weiter als Vorwürfe abgedruckt sind: ,Korruption. Hetze. Lüge.‘ Und darüber, mit Doppelpunkt und in Jugendstilfraktur: ,Baupläne der anderen’. Am unteren rechten Rand dann der Name des sich hier bewerbenden Politikers, denn der Name der faschistischen Partei und noch ein Slogan prangten in blau-braun daneben: ,Till Schneider. Volkskanzler war gestern’. Der Brillenträger schloss kurz entgeistert die Augen: „Nein, nur sowas ähnliches. Ist im Moment nicht wichtig.“
Marie und der Buchträger hatten die Mädchen auf den Armen und waren zur Abfahrt bereit. Karoline umarmte den Brillenträger kurz und flüsterte ihm zu: „Wenn der Plan gelingt, können wir ab nächsten Sonntag wieder springen. Dann schnappen wir uns den Mistkerl, egal in welcher Zeit oder Dimension er sich versteckt. Dann wird das Schattenreich ausgeleuchtet. Aber first things first. Und bei der Musik verlassen wir uns auf dich.“
Erst kurz nach Sonnenuntergang, sein Handy hatte ihn darüber informiert, denn draußen war der Himmel seit Stunden schon grau, hatte der Brillenträger seinen Platz am Schreibtisch wieder eingenommen und das Notebook fast unwillig wieder aufgeklappt … … stimmt, heute wollen alle „zone of interest“ die Daumen drücken, wegen nie wieder, wahrscheinlich, wahrscheinlich ist das aber auch gar keine hardcore propaganda, wenn das israelische fernsehen zu beginn des ramadans das land weiter und immer weiter auf den krieg einschwört, auf fox news laufen im vergleich damit immer noch sitcoms, aber immerhin gibt es auch pazifistische demos in tel aviv, jerusalem und haifa, und es weiter, weiter bei youtube, damit, dass der „parabelritter“ jetzt „funk“ beitritt, wahrscheinlich um den diskurs noch zu retten, bevor er staatslehrer in den sozialen medien wird, ein ganz neuer zweig der pädagogik, für leute mit zu viel narzissmus, beziehungsweise für alle, die lieber monologe in kameras führen, als mit menschen zu reden, aber egal, in italien geht es auch weiter, und auch immer weiter nach rechts: ab herbst gibt es unter meloni einen neuen schultyp, das „made in italy-gymnasium“, das unter dem deckmantel eines „identitären erbes“ die finanzeliten von morgen ausbilden soll, die spiegelneuronen melden: tilt!, – okay ein monolog noch, und dann kein kommentar mehr: „Sunday Morning. Der Pabst legt den Ukrainer/innen nahe, ihren Mördern und Vergewaltigern die andere Backe hinzuhalten und setzt israelische Juden, die sich gegen Massenmörder wehren, mit diesen Massenmördern gleich. Linke wie Ditmar Dath sehen überall Faschismus außer in dem Land, das einen völkisch argumentierten Angriffskrieg führt und Oppositionelle in Foltergefängnissen ermordet. Donald Trump, der ein zivilrechtlich verurteilter Vergewaltiger ist und der die Frauenrechte in den USA um Jahrzehnte zurückgedreht hat und weiter zurückdrehen will, erfährt in Umfragen überraschend hohen Zuspruch unter US-Amerikanerinnen. In Portugal könnte die rechtsextreme Partei Chega heute ein zweistelliges Ergebnis einfahren.“ (Bernhard Torsch. Facebook. 10. März 2024) … … erst schloss der Brillenträger die Augen, dann klappte er das Notebook wieder zu. Sehr langsam, ganz als würde er es genießen, ins Traumreich der ihn umgebenden Gegenwart zurückzukehren. Da wo er sich auf der anderen Seite befand, jenseits der Grenzen des Eskapismus, und wieder zurück in seiner Wirklichkeit, da wo er sein Lieblingsspiel jetzt noch ein letztes Mal durchspielen wollte, und dann vielleicht noch ein allerletztes Mal, und danach aber wirklich ein allerallerletztes Mal …
Beim Abendbrot erreichte ihn die letzte Nachricht des Tages. Er war dankbar, dass er sie nicht zu lesen brauchte, die Sprachnachricht war kurz: Zwei hohe Stimmen wiederholten immer wieder das gleiche Wort, das Echo wechselte mehrmals die Seite, es klang wie Uh-ieg. Er schrieb zurück: Als ob sie es geübt hätten. Die Antwort lautete: Haben sie auch. Wie haben sie dabei überrascht. Deswegen wissen wir auch nicht, wer angefangen hat. Und wir mögen das sooo sehr.
Der Brillenträger erinnerte sich wieder zurück an das kommende Wochenende. Sie werden in Thale auf dem Tannenkopf stehen, den Mädchen begeistert beim Tanzen zuschauen, am Rand der Wiese über der Stadt werden Wald-Veilchen blühen und sogar schon Taubnesseln, wie gute Geister in violett und rosa. Und über die Wiese wird eine gespenstisch schöne Melodie ziehen, für die sich der Brillenträger in dem Moment entschieden hatte, als er die Augen wieder öffnete.
„Und wenn ich in meinem Bett abends einschlaf,
träum ich davon,
von dem Land,
in dem für immer Frühling ist.
Von dem Land,
in dem ich noch was fühl.
Von dem Land,
in dem die Sommer grüner sind.
Und bis ich da bin,
träum ich davon.“
(Soffie: Für immer Frühling. 2024)

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