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Jump around (Chronicle 12) (S8:Midseason Break)

von | 2023 | 8. Januar | Chronicle

 

„Fragments from the decade
are splayed out on your floor
like hundreds of locked doors.
There’s a story
that you’re trying to find
but the pieces don’t fit together
in your mind.“

(Death Cab for Cutie: Fragments of the decade. 2022.)

 

 

Bereits am Montag, einen Tag nach Neujahr, war der Brillenträger sich unsicher, ob nicht vielleicht doch schon Dienstag oder gar bereits Mittwoch gewesen wäre. Er bewegte sich aus dem Bett an den Küchentisch, an den Schreibtisch, auf die Couch, ins Bett, zurück an den Schreibtisch, wieder auf die Couch, dann wieder ins Bett. Die Tage zerschmolzen in der Abwechslung des Alltags. Arbeit und Freizeit waren ununterscheidbar geworden. Zwischendurch machte er sich Notizen für seinen Blog oder eine neue Kurzgeschichte; immer am vermeintlichen Puls der Zeit, immer noch auf der Jagd nach ihrem Geist.
Dabei begann er zusehends, sein Alterego zu beneiden. Das Paralleluniversum, das er für ihn geschaffen hatte, war zwar exakt so wie sein eigenes; also ein Universum, in dem die Welt den Anfang des 21. Jahrhunderts inzwischen hinter sich gelassen hatte und ebenfalls dabei war, immer schneller zu implodieren; aber das Leben dieses Brillenträgers auf dieser Metaebene erschien ihm trotzdem entspannter. Ganz sicher lag das auch daran, dass dieser Brillenträger nicht in einem Science-Mystery-Time Travel-Thriller gefangen war, oder wie auch immer er seine eigene Situation noch hätte nennen können. Aber es waren eher die persönlichen Umstände seines literarischen Doppelgängers, die ihn sentimental werden ließen. Zum Einen der Umstand, dass es eine Familie gab, anscheinend sogar eine Freundin und deren Familie. Oder dass dieser Brillenträger auch noch andere Dinge tat, außer zu arbeiten, zu schreiben und nebenbei in der Zeit herumzuspringen, noch dazu mit anderen Zeitreisenden und allem Anschein nach verwickelt in irgendeine super geheime Geheimmission zur Bekämpfung des internationalen Faschismus in zwei unterschiedlichen Zwanzigern.
Manchmal wünschte er sich sogar, dass der Orb von Karoline nicht nur die Zeit verändern könnte, sondern dass es ihnen damit auch möglich wäre, in andere Universen zu springen, deren Existenz inzwischen theoretisch gesichert war. Mindestens aber wäre das näher am literarischen state of the art der Gegenwartserzählungen: Das „Multiversum“ hatte als Sujet in allen Formen der Erzählkunst eine herausragende Position eingenommen, nicht nur bei Doctor Strange. Die durch diesen Kunstgriff ermöglichten Varianten des Gegenwartskommentars waren pures Gold für jede*n Autor*in, alles ließ sich kombinieren, wirklich alles. Und die Kunst bestand nunmehr darin, die eigentliche Geschichte dabei nicht zu verlieren; eine mehr als treffende Parabel für eigentlich alles, vor allem für das Leben selbst; egal in welcher Zeit. Genau so wichtig aber war es, dass dem überall anscheinend so dringend benötigten Eskapismus somit unendlich viele Entfaltungsmöglichkeiten eröffnet wurden: (Alp-)traumhafte Zukunftsszenarien, romantische Vergangenheitsupdates, oder beides kombiniert, in neonfarbener Cyberpunkästhetik, oder sozialrealistischem grau in grau, daneben absurde Universen, in denen Menschen keine Finger haben, sondern sich mit Hotdogs durch das Haar streichen, oder wo sie unvergessliche Sätze äußern, so wie diesen hier: „Elvis ist mein Hitler.“ Alles ergab gleichzeitig Sinn und keinen Sinn. Alles war möglich. Die absolute künstlerische Freiheit. Und in jeder dieser Erzählungen schwang eine uralte Frage mit: Gibt es unter allen Welten die eine Welt, die die beste aller Welten ist? Und woran wäre diese eine zu erkennen? Würden wir denn nicht, hätten wir denn die Möglichkeit, immer noch in eine nächste Welt springen, immer in der Hoffnung, sie könnte doch noch besser sein? Noch wohlhabender, weniger kriegerisch, gerechter, sauberer, lebenswerter? Oder würden wir an einem bestimmten Punkt (dem Ende der jeweiligen Erzählung) zu der Erkenntnis gelangen, dass es doch nur unsere eigene Welt war, die die beste war; und war es nur, weil das mit dem Multiversum eben bis jetzt nur eine Theorie war.

In der Welt des Brillenträgers jedenfalls waren die Ereignisse erneut zur Ruhe gekommen. Karoline und Marie hatten in Thale eine kleine Wohnung bekommen, wo sie unter falschen Namen möglichst unauffällig wohnten. Der Buchträger besuchte sie so oft es ging, manchmal trafen sie sich auch zu viert und spazierten im Bodetal, wenn es nicht all zu kalt war. Das Springen war wieder alleine Karoline vorbehalten, darauf hatten sie sich erneut geeinigt. Der Brillenträger verbot sich, weiterhin danach zu fragen, auch wenn sich seine stetige Neugier kaum verbergen ließ.
Was er dadurch jedoch nicht wusste, war, dass auch Karoline seit Monaten keinen Gebrauch mehr vom Orb gemacht hatte. Sie genoss die Zeit mit Marie. Jeden Tag warteten sie darauf, dass sich es sich in Maries Bauch erneut bewegte, dass die Zukunft wiedergeboren würde, dass es neue Hoffnung in diesen Zeiten geben würde. Zu Weihnachten schenkte sie ihr mehrere Strampler, in den unterschiedlichsten Farben, und sie legten sie unter dem Weihnachtsbaum zu einem Regenbogen zusammen. Das Foto davon hatten sie alle vier als Bildschirmschoner auf ihren Schwarzen Spiegeln. Die beste aller möglichen Welten? Sehr weit weg konnten sie nicht sein.
Und in dieser Harmonie fiel es dem Brillenträger besonders schwer, den Wahnsinn seiner Zeit immer weiter zu dokumentieren, und war es auch nur in einer alternativen Realität, denn es fühlte sich jedes Mal wieder so an, als ob die Welt, so wie sie sich in den täglichen, stündlichen, minütlichen Nachrichten zeigte, absolut nichts mit seiner Gegenwart zu tun hatte. Er wusste, dass dieser Eindruck dem begrenzten Spektrum seines provinziellen und individuellen Filters geschuldet war, der im Allgemeinen als Privileg bezeichnet wurde, und er versuchte weiterhin, sich deswegen nicht entschuldigen zu wollen, aber genauso unsinnig kam es ihm dann immer wieder vor, sich überhaupt noch aktiv damit zu beschäftigen, zu mal die Zahl derer, denen es ähnlich ging, aber die davon leben wollten/mussten, unendlich groß geworden war. Zu viel Raum-Zeit, um nur eine Erzählung noch hören zu können, und mit Sicherheit nicht auch noch seine, zumindest nicht in dieser Gegenwart.
Trotzalledem türmten sich in seinem Kopf immer weiter die Ideen für dann ungeschriebene Essays über das große Ganze, nebst denen für die Doktorarbeiten über das selbe, nur im etwas Kleineren, nebst den angedachten Romanfragmenten, den verschämten Feuilletonbeiträgen, den imaginierten Brandreden und überflüssigen, verpuffenden Rants. Der Zeitgeist hatte sich unbemerkt in seinen Gedanken eingenistet, wo der Brillenträger ihn einfach nie richtig zu fassen bekam, selbst dann noch nicht, wenn er versuchte, auch noch über die groteskeste Selbstreferenzialität von Youtuber*innen zu schreiben, die in Reactionvideos auf die Selbstreferenzialität in den selbstreferenziellen Reactionvideos anderer Youtuber*innen auf ihre eigenen meta-selbstreferenziellen Reactionvideos reacteten; Metaebenen taugten einfach nichts mehr, sie waren schal und brachten außer Beifall aus der Alt-Bielfelderecke nichts ein; sie waren endgültig durch die absolute Multidimensionalität abgelöst. Ein Phänomen, über das sich nur wirklich schreiben ließ, wenn der Brilleträger die eigene Perspektive komplett aufgegeben hätte. Was er aber schlicht nicht wollte; wegen seiner eigenen Geschichte und wegen Gründen.
Und für andere Texte, Texte die Relevanz gehabt hätten, fehlte ihm oft der Mut. Auch wenn er sich sicher sein konnte, dass seine Leser*innenschaft viel zu klein und persönlich war, um sich wirklich Ärger einzuhandeln, machte er zu oft einen Bogen um die historisch unentschiedenen Geschichten der Gegenwart. Zu gerne hätte er versucht, endlich seine Position zum Ukrainekrieg festzulegen, nicht weil sich das allem Anschein nach so gehörte, sondern weil er wissen musste, welche Ideale ihm noch geblieben waren, und auf welcher seite der Geschichte er denn nun stehen würde. Pazifismus, kein politischer, sondern echter, radikaler Pazifismus, war zu einer Erinnerung an das letzte Jahrhundert geworden, „Putins Angriffskrieg“ hatte den Diskurs in genau dieses Jahrhundert zurück katapultiert. Das Wort „Kapitulation“ war kurz davor, auf die Blacklist der „political correctness“ gesetzt zu werden. Dafür aber war „Nationalismus“ en vogue wie seit achtzig Jahren nicht, ohne dass das noch viele Augenbrauen nach oben schnellen ließ. Am tragischsten daran war, dass gerade in der Ukraine der Nationalismus das einzige zu sein schien, dass die Leute noch zusammenhielt, das sie befähigte, im Kampf für ihre Nation auch noch das letzte Opfer zu bringen, unter dem ununterbrochenen Applaus und Sponsoring aller nur am Rande beteiligten. Niemand schien sich die Frage zu stellen, was das denn für eine Ukraine sein würde, die den Krieg gewinnt und dann ihren Platz auf der Welt erobert hat. Die hochgerüstet bis in den letzten Kindergarten und vollgepumpt mit Revanchismus nur darauf wartet, dass es endlich so richtig losgeht. Wenn die Welt nicht mehr nur auf der Schwelle des nächsten Weltkriegs stehen würde, sondern mal wieder darüber stolperte. Und zwar nicht nur in einem Szenario, einer ausgedachten Parallelwelt, sondern in Wirklichkeit. Wenn ausgerechnet Stephen Bannon recht behalten hätte, der genau das vor wenigen Jahren prophezeit hatte. Wenn aus dem Pandemischen Jahrzehnt (auch?) das (erste?) Dritte Weltkriegsjahrzehnt geworden war. Als China in Taiwan einmarschiert war, als sich im Nahen Osten alle gegenseitig die Raketen um die Ohren schossen, als die EU und die USA den brutalsten Wirtschaftskrieg der Geschichte entfachten, als Orwells 1984 endlich absolut geworden war, und nicht nur eine Referenz in einer fiktionalen Welt.

Noch aber war es nicht so weit. Noch waren zunächst alle froh, dass die Sache mit der Pandemie dann endlich mal wirklich vorbei war. Kurz vor Weihnachten hatte sich selbst Prof. Drosten mit diesem Satz zitieren lassen. Die immer noch viel zu hohen Todeszahlen in den Alten- und Pflegeheimen hatten die meisten als Neue Normalität akzeptiert, jetzt waren sie dabei, sich von allem zu erholen und sich daran zu gewöhnen, dass die Gefahr einer schwer verlaufenden „Erkältung“ jetzt eben permanent da war, und die Krankenkassen hatten ein enormes neues Leck, das noch niemand groß ansprechen wollte.
Die Menschen ließen sich in das neue Jahr treiben, sie feierten Silvester, als ob es irgendein Jahr in irgendeiner beendeten Zeit war, und harrten einfach der Dinge, die da kamen. Ein Paralleluniversum, in das sie einfach so springen konnten, gab es nun mal nicht. Für die allermeisten.
Zu Neujahr hatten sich die vier Freunde im Brühl verabredet. Das Wetter war so mild, dass ein Picknick die beste aller Ideen war. Sie hatten jede*r eine Thermoskanne mit Kaffee oder Tee dabei, jede*r eine Tasse. Marie hatte Pfannkuchen vom Bäcker mitgebracht. Da auf dem Spielplatz gegenüber dem Abteigarten am Morgen außer den Spuren der vergangenen Nacht noch niemand zu sehen war, richteten sie sich dort ein. Der Buchträger stellte alsbald seine Fitness unter Beweis und erklomm die Kletterspinne, um dann aus etwa der halben Höhe in den Kies zu springen. „Ok, genug Sport für heute.“ Dann setzte er sich neben Marie, die ihre rechte Hand an ihrem Unterbauch wärmte. Karoline und der Brillenträger saßen zunächst abseits, nebeneinander auf den Schaukeln.
„Du siehst erschöpft aus. Ist die Welt etwa doch nicht über Nacht wieder viel leichter geworden?“
„Nicht zu übersehen, was?“ Der Brillenträger sah sie einige Momente erleichtert an.
„Ja, die Unerträglichkeit des Seins drückt die Schultern auf ihre ganz eigene Art nach unten.“ Karoline nahm einen Schluck aus ihrer Tasse und zwinkerte ihm zu: „Und sie macht Augenringe. Ich weiß, wovon ich rede.“
„Wie viele Schaffenskrisen hattest du denn damals so?“
„Du meinst die Tage oder Wochen, in denen ich es mehr als Leid war, nur eine Chronistin sein zu können? Die ständig nur darüber schreiben kann, wie alles immer nur schlimmer wird? Nun ja, ich würde sagen, das war eigentlich der Normalzustand, also zumindest nach den ersten drei Jahren. Danach hat mir die Geschichte erst recht keine Wahl mehr gelassen, wie wir alle wissen.“ Der Brillenträger nickte. „Wann hattest du dich endgültig entschieden, doch noch aktiv zu werden?“
„Du meinst, wann ich gemerkt habe, dass mir das Dokumentieren nicht mehr genug war? Oder wann es die Ereignisse einfach erzwungen haben?“
„Worin bestand der Unterschied?“
Karoline überlegte kurz, gab sich selbst noch einmal Schwung, dann flüsterte sie: „Darin, dass jemand in Gefahr ist, die oder den man liebt.“ Dann sprang sie von der Schaukel und reichte ihm die Hand: „Los, lass uns Pläne schmieden!“ Und zog ihn sanft zu den anderen.
„Na, habt ihr genug vom Ernstsein?“ Der Buchträger stellte seine Tasse vor sich auf den Tisch. „Ich hoffe, ihr habt auch alle Eure guten Vorsätze aufgeschrieben und hinter den Spiegel geklemmt. Wollt ihr meinen wissen?“
„Wir können es nicht erwarten.“
„Also, ich habe beschlossen, dass, wenn die zeitlichen Umstände es zulassen, und ich eine veritable Vertretung für den Laden finde, dass ich mich dann selber anzeigen werde.“ Marie erschrak kurz, dann fragte sie kühl: „Oha, und wegen welches Vergehens?“
„Klimaterrorismus.“
„Wie bitte?“
„Klimaterrorismus. Ich habe entschieden, Teil der Letzten Generation zu sein.“ Der Brillenträger räusperte ein Lachen weg: „Okay, Millenial!“, dann sah er die beiden Frauen an, „Wer sagt es ihm?“
„Musst du immer so ein Spielverderber sein?“, der Buchträger schüttelte mit dem Kopf. „Mal im Ernst, das war doch eine super Idee von denen. Überleg doch mal! Bei 1.300 Klagen, haben die Gerichte erstens endlich auch mal etwas sinnvolles zu tun, und im besten Falle gehen einige von den Klagen sogar durch. Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen!“
„Und du bist also jetzt auch ein Eichhörnchen?“, fragte Karoline.
Marie rief kurz dazwischen: „Da seht! Ein Eichhörnchen!“, dann lächelte sie den Buchträger an und sagte sanft: „Fahren sie bitte fort, Herr Terrorist.“
„Ihr wollt sicher wissen, wie die Selbstanzeige ablaufen soll?“
„Wir brennen darauf.“
„Also, ich spaziere irgendwann ins Polizeirevier, habe einen Aktenkoffer dabei, in dem ich den letzten IPCC-Bericht und ein paar Bücher von Naomi Klein habe, und sage zum erstbesten Beamten: Staatsdiener! Verhaften sie mich! Ich will die Welt retten!“  Die anderen applaudierten. „Dann hole ich meine Handykamera raus, und streame live auf allen Kanälen, wie ich mich an der Plexiglasscheibe vorm Schalter anklebe, nachdem ich mir Milch über das Gesicht gegossen habe.“ Die anderen hörten auf zu applaudieren, der Buchträger verneigte sich trotzdem. Marie sah ihn zweifelnd an. „Und das machst du aus welchen Gründen genau ausgerechnet in Quedlinburg?“
Kurz war er verwirrt, dann sagte er: „Na, in Berlin kann sowas ja jeder machen. Wenn ich das hier mache, dann wird allen klar, dass der ganze Zauber eben nicht nur Selbstvermarktung von Moralaposteln, sondern die Kacke wirklich am Dampfen ist.“
„So weit so gut. Was denkst du, wie lange wird es dauern, bis die Videos bekannt genug sind, damit man behaupten könnte, sie hätten irgendwas zum Guten verändert?“ Karoline beugte sich am Tisch noch etwas weiter nach vorn: „Ich habe damals hunderte dabei gesehen, die irgendwie friedlich gegen den Faschismus kämpfen wollten. Vergeblich. Und du denkst, dass gelingt dir mit der Klimakatastrophe? Ein Video macht den entscheidenen Unterschied?“
„Karoline hat recht. Das ist alles nur Show. Gut gemeint, aber absolut wirkungslos. Wir brauchen etwas viel nachhaltigeres.“ Der Brillenträger richtete sich auf: „Wie wäre es mit einem Roman? Nur über dieses Jahr. Wir alle schreiben daran. Multidimensionales Erzählen. Von mir aus auch mit postironischem Unterton. Jede*r berichtet aus einer anderen Zeit. Wir zeigen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Wirklichkeit von 2023. Und öffnen allen die Augen.“
„Klar, und wie lange soll das dauern? Bis es auch bloß zu spät ist?“, der Buchträger schaltete sich erneut dazwischen: „Also, zumindest würden wir einem aktuellen Trend folgen. Es ist nämlich so, dass die Menschen gerade anscheinend Gefallen darin finden, zumindest die Vergangenheit in Jahreserzählungen verstehen zu wollen, besonders beliebt sind runde Referenzzahlen. Aktuelle Titel wären zum Beispiel: „1923 – Endstation, alles einsteigen!“; „Totentanz – 1923 und seine Folgen“; „Im Rausch des Aufruhrs – Deutschland 1923“. Aber, ganz ehrlich, wer liest denn noch Romane? Doch nur so Nerds wie wir. Keine Reichweite, keine Wirkung, oder wenn, dann immer zu spät. Ich denke, wir sollten bei der Videoidee bleiben. Es gibt genug Eulen in Athen.“
„Na gut. Aber dann muss es ein Video sein, das richtig einschlägt. Und das kriegen wir nur mit etwas total spektakulärem hin. Irgendetwas, wo sich erstmal alle fragen: Krass! Wie haben die das gemacht? Ihr wisst schon, medium und message und so. Und erst beim zweiten, dritten und vierten Anschauen wird die Botschaft dann überdeutlich. Ein virales Trojanisches Pferd sozusagen.“
„Botschaft? Also mal abgesehen davon, dass mir das fast schon zu sehr nach Inception klingt, was für eine Botschaft soll das denn sein? Müssen wir nicht intersektionalistisch denken?“
„Ja eben! Und deswegen reicht auch nicht nur ein Video. Es muss eine ganze Serie sein! Wir müssen so gut sein, dass es bald keine Reactionstreamer mehr gibt, die, ohne über uns zu labern, noch Werbeeinnahmen generieren können.“
„Und wisst ihr was? Das machen wir auch gleich noch selbst! Sagen wir mal, Marie hat 1923 ein Video gemacht. Sagen wir mal, nicht hier, sondern in München. Livereportage aus dem braunen Hofbräuhaus. Auf das Video reacten wir alle gleichzeitig in einem Stream, jeder hat natürlich eine andere Perspektive und ordnet etwas anders ein. Da bleibt allen anderen nur noch der Mund offen stehen.“
„Klingt gar nicht schlecht. Aber der Produktionsaufwand wäre brutal hoch.“
„Na und, dafür hätten wir Bilder, die absolut einzigartig wären.“
Der Buchhändler sah in diesem Augenblick zu Karoline, die sich bis hierhin nicht an der Träumerei beteiligt hatte. Jetzt stand sie auf und fasste in ihre Tasche. Der Orb glänzte matt im Schatten der Bäume.

Wenige Stunden später hatten sie sich im Laden wieder versammelt. Alle hatten mitgebracht, was ihnen für ihr Vorhaben wichtig erschien, weswegen einiges auch doppelt und dreifach vorhanden war. Allein Perücken hatten sie gleich fünf auftreiben können, wobei der Buchträger und seine Verbindungen zum Theater besonders hilfreich waren. Auch die unterschiedlichesten Brillengestelle lagen vor ihnen auf dem Tisch im hinteren Teil des Ladens. Neben ihren Smartphones hatten sie zwei zusätzliche Kameras aufgetrieben. Der Brillenträger hatte sogar zwei verschieden Tafeln mitgebracht, eine aus Plexiglas, die andere in schickem weiß, nebst unerhört vielen verschiedenfarbigen Filzstiften. An der hinteren Wand hatte der Buchträger auch noch einen Greenscreen angebracht und am Boden stand ein verstaubtes Ringlicht.
„Jetzt brauchen wir nur noch jemanden, der aus der ganzen Technik was vernünftiges stricken kann. Ich hab jedenfalls keine Ahnung, also nicht wirklich.“
„Wir brauchen zunächst mal ein Script.“
„Und um das Locationscouting muss sich auch jemand kümmern.“
„Dann werden wir wohl an der Redaktion sparen müssen.“
„Aber nicht am Marketing! Hat da schon jemand Ideen?“
„Wieso? Hat dein Facebookaccount etwa genauso wenig Reichweite wie dein Blog?“
„Lustig. Nee, ich meine das ganze crosstagging, da müssen wir schon ne Strategie haben.“
„Die habe ich. Und die ist ganz einfach: Alles, nur keine Querfrontmedien.“
„Deal.“
Karoline und Marie sahen die beiden Männer nur kopfschüttelnd an. Marie probierte nebenbei die erste Perücke aus: „Was meint ihr, Locken oder Bubischnitt?“ Und Karoline saß bereits am ersten Entwurf für den Vorspann: „Hier, so vielleicht: Wir sehen einen Dielenfußboden, auf dem schwarze Scherben verteilt liegen. Beim Näherzoomen erkennen wir in jeder Scherbe die Spiegelungen bewegter Aufnahmen von allen möglichen Zeiterscheinungen der beiden Dekaden. Insgesamt nicht länger als eine Minute vielleicht. Die Musik nicht zu dramatisch, die Credits eher zurückhaltend. Am Ende, während der Überblendung, ist kurz das aktuelle Datum zu sehen, mit beiden Jahreszahlen.“
„Sehr gut. Hat jemand schon eine Idee für die erste Episode?“
„Hat überhaupt jemand einen Youtubekanal?“
„Nein, aber vielleicht finden wir ja auch noch ein Pferd, das wir von hinten aufzäumen können.“ Karoline wurde ungeduldig. „In der nächsten Woche machen wir erstmal Probeaufnahmen. Es ist klar, dass ich bei jedem Sprung dabei bin, egal wo, egal wohin, auch wenn ich nicht gerade vor der Kamera stehe.“
„Wir haben selbstgebastelte Bodycams!“
„Egal. Strategisch gesehen wäre es am klügsten, wenn das erste Video an zwei verschiedenen Orten gedreht wird, einer davon muss natürlich Berlin sein, von mir aus aus dem Koka-Efti, das andere dafür aber unbedingt aus der Provinz. Aber natürlich nicht aus Quedlinburg.“
Magdeburg oder Halle?“
„Gute Ideen. Wer möchte beginnen?“
Der Brillenträger reagierte eine halbe Sekunde schneller: „Ich, heute noch.“

Der Orb ruhte jetzt auf dem geschlossenen Notebook des Brillenträgers. Karoline war vor einer halben Stunde zu ihm gekommen, sie hatten noch letzte Details durchgedacht und wollten den ersten Versuch so kurz wie möglich halten. Ein flüchtiger Sprung, mit der Videofunktion des Notebooks ein paar Momente filmen, einige belanglose Sätze, um das Mikro zu testen, und dann sofort wieder zurück. Als Ort des Sprunges diente der Dachboden seiner Wohnung. Auf den Leinen hingen noch ein paar T-Shirts und Unterhosen von vor Weihnachten. Die schwache Glühbirne unter dem dicken Eichenbalken spendete konspiratives Licht, das sich auf der glatten Oberfläche des Orbs in alle Spektralfarben brach. Der Brillenträger sah ihn in diesem Licht wie zum ersten Mal. Eine perfekte metallene Kugel. Eine Kupfer-Messing-Legierung vielleicht. Keine Gravuren, keine erkennbaren Spalten oder gar Risse, nicht die kleinste Unebenheit. Er streckte langsam seine Hand danach aus. Woher wusste er eigentlich, wie er die Maschine zu bedienen hatte? War es überhaupt eine Maschine? Und wenn ja, aus welcher Zeit stammte sie? Wer hatte sie erdacht und gebaut? Als er den Orb fast berührte, räusperte sich Karoline etwas zu laut: „Sie verzeihen?“, und nahm ihn an sich. „Es gibt eine weitere Funktion, von der ich dir noch nicht erzählt habe.“
„Und du weißt nicht, ob jetzt der richtige Zeitpunkt ist, mir davon zu erzählen?“
„Ja, aber ich mache es trotzdem. Es fällt mir nur schwer zu beschreiben, wohin genau er uns bringen wird.“
„Du meinst, nicht in eine andere Zeit?“
„Ja, und trotzdem ist alles irgendwie anders. Die gleiche Welt, aber ein anderes Leben.“
„Wie oft bist du dort schon gewesen?“
„Nur wenige Male. Und auch nur damals. Am besten ich zeige es dir. Dazu muss man den Orb nicht drehen, sondern mit der ganzen Hand umfassen und drücken. Nur zu.“
Der Brillenträger zögerte keinen Augenblick. Und dieses Mal leuchtete der Orb nicht rot, sondern blau.

Als sie sich umsahen, war alles unverändert. Die Glühbirne genauso schwach, die T-Shirts auf den Leinen genauso trocken. Es waren sogar die gleichen T-Shirts. Sie sahen sich ratlos an, der Orb leuchtete weiterhin blau. Der Brillenträger klappte sein Notebook auf. Das Passwort war auch das gleiche. Dann sah er seinen Desktophintergrund. Vor wenigen Minuten noch waren dort nur Ordner auf einem schwarzen Hintergrund, jetzt blickte er auf das Foto eines Graffitis. Auf eine karge Mauer war das Portrait einer Frau gesprüht, die sich daran machte, einen ebenfalls gesprühten Spruch von dieser Wand zu schrubben. Was davon noch zu lesen war, hallte auf seltsame Weise in den Gedanken des Brillenträgers wieder: What we do in life echoes in eterni… Er sah Karoline an, die genauso verwirrt auf den Bildschirm blickte. Dann klickte er das einzige abgelegte Dokument an, und es erschien eine Textdatei, in der es um diese eine Band aus Schottland ging, mit dem Titel „Cultural Gods of Scotland“. Langsam ergab sich in seinem Kopf ein Bild: „Ähm, denkst du was ich denke?“
„Wir sind in deinem Blog gelandet?“
„Das, oder nur in einem Paralleluniversum, das höchst verdächtig genau so aussieht.“
Karoline stand auf. „Seltsam. Findest du noch andere Beweise?“
Der Brillenträger öffnete das E-Mail-Fach. Auf den ersten Blick sah er Schiedsrichteransetzungen, Schulinterna, Versandbestätigungen. Und eine private Mail. Er klickte sie an und las die wenigen Sätze. Sofort wusste er, von wem sie stammen musste, auch wenn sich nirgends ein Name fand. Wozu auch, die Worte waren von der Brillenträgerin. Und er hatte sie nicht selbst erfunden, sie waren in dieser Welt Teil der Wirklichkeit. Noch einmal las er, dann noch mal. Ihr Inhalt spielte keine Rolle, nur dass sie real waren. Mit einer entschiedenen Bewegung schloss er das Notebook. „Seltsam fürwahr.“ Karoline drückte, ohne ein weiteres Wort zu sagen, den Orb, der sofort aufhörte blau zu leuchten. Der Brillenträger öffnete daraufhin sofort das Notebook: schwarzer Hintergrund, keine eigentlich fiktive Textdatei, keine E-Mail von der Brillenträgerin.

Eine Woche später hatten alle vier ihre Probeaufnahmen abgeschlossen und saßen vor dem Notebook. Der Orb ruhte weder rot noch blau in Karolines Tasche. Marie und dem Buchträger hatten sie noch nichts von ihrer letzten Entdeckung erzählt. Dafür sprachen sie jetzt über die nächsten Schritte. „Gut, die Technik funktioniert soweit reibungslos, den Schnitt übernimmst du“, Karoline nickte dem Buchträger zu, „denn du hast die meiste Zeit von uns. Wir beginnen mit den Drehs in einer Woche, und wenn alles funktioniert, laden wir eine Woche später die erste Episode hoch. Eine Sache noch: Wenn das Video nicht innerhalb der darauf folgenden Woche durch die Decke geht, nehmen wir es wieder runter. Und lassen das alles. Dann soll es eben nicht sein. Falls aber doch, dann produzieren wir alle zwei Wochen eine neue Episode, mindestens bis zum Sommer. Irgendwelche Bedenken?“
„Eine Menge. Aber egal.“ Der Buchträger schaute zu Marie, die auf ihren Bauch schaute: „Im Sommer werden die beiden bestimmt dafür sorgen, dass ich weniger vor der Kamera stehen kann.“
„Die beiden?“ Die drei anderen schauten alle gleich schockiert.
„Ach ja, hatte ich noch gar nicht erzählt. Aber überrascht euch das wirklich so sehr? Ich meine, wie soll die Serie bitte nochmal heißen?“
„Die Doppelten Zwanziger? … Natürlich! Hast du schon Namen?“
Marie sah zum Buchträger: „Nein, haben wir noch nicht.“ Dann berührte sie ihren Bauch: „Hier, fühlt mal, sie springen gerade im Kreis.“

Eine Woche nachdem das erste Video online viral gegangen und in wenigen Tagen zu dem kleinen Phänomen geworden war, das sich die vier Freunde erhofft hatten, stand der Buchträger an einem wie immer ruhigen Mittwochvormittag im Laden, als zwei vermeintliche Touristen über die Türschwelle stolperten. Ohne sich umzuschauen, sprangen sie direkt auf ihn zu. „Hallo. Sind sie aus Quedlinburg?“
„Selbstverständlich.“
„Dann kennen sie ja vielleicht einen Blogger aus der Stadt?“
„Nein, ich kenne nur jemanden, der einen fiktiven Blog schreibt. So eine Art Kunst. Behauptet er.“
„Ja, oder so, whatever. Wir würden uns gerne mal mit ihm unterhalten.“
„Worüber denn?“
„Ach, nur so Bloggerkram. Vielleicht hat er ja Lust auf einen Kooperation.“
„Mit wem könnte er denn kooperieren, wenn ich fragen darf?“
„Wir sind so eine Art „Nachdenkseiten“, wir schreiben über die Wahrheit.“
„Oh, ich denke, sowas interessiert ihn leider nicht. Wie gesagt, er denkt sich das alles nur aus. Das ist ja Absicht.“
„Dann meinen wir vielleicht auch einen anderen.“
„Möglich. Springen ja viele Schreiberlinge im Internet rum.“
„Wie dem auch sei, danke trotzdem. Wir suchen weiter.“
„Nichts für ungut.“
Die beiden schauten sich noch einige Minuten im Laden um, dann betrachtete der Buchträger ihre Rucksäcke beim Rausgehen. An einem meinte er, einen kleinen, unscheinbaren Aufnäher zu erkennen. Sofort schrieb er den anderen: „Hier im Laden war gerade eine Wolfsangel. Projekt wieder einstellen?“

 

„Something for ass.
Something for cash.
Some do the knowledge.
Some do the math.
Some stick to the road.
Some stray from the path.
Some do the knowlege.
Some do the math.“

(House of Pain: X-Files. 1996.)

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