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Keine Bühne für Nazis (Spezialepisode)

von | 2022 | 27. September | Die Serie, Staffel 7 - Half a world away

Das Wahlergebnis in Italien
habe ich zwar immer noch nicht verdaut,
aber umso notwendiger ist deswegen
diese Spezialepisode.
Kurze Zusammenfassung:
Die Italiener*innen haben vorgestern
mit ziemlich mauer Wahlbeteiligung
tatsächlich Giorgia Meloni
zur neuen Regierungschefin gewählt,
also eine lupenreine Nazi.
Der Rechte Block
hat sogar
die absolute Mehrheit
im neuen Parlament.
Das ist so schlimm,
dass sich noch gar keiner traut,
die Konsequenzen wirklich zu Ende zu denken.
Immerhin wird erwähnt,
dass es fast ganz genau 100 Jahre her ist,
dass der italienische Mussolini-Faschismus
nach der Macht gegriffen hat.
Und obwohl sich
in der Gefolgschaft
der „Brüder Italiens“
auch noch Berlusconi
und Salvini
und alle anderen Faschos befinden,
darf Giorgia Meloni den Nationalsozialismus
wieder schick machen,
wobei ihr von der gesamten europäischen Rechten
frenetisch applaudiert wird;
und die EU sagt erstmal:
Nichts.
Ist ja auch noch nichts passiert.
Außer, dass die „Rechte Allianz“ in Europa
seit gestern noch besser daran arbeiten kann,
die Union von drinnen (EU-Parlament)
und draußen (durch Austritte und neue Bündnisse)
zu zerstören.

Oder ist das alles
doch gar nicht so tragisch?,
und die „Brüder Italiens“ entpuppen sich
auch bloß als eine weitere neoliberale Arschlochbande,
die sich demokratische Mehrheiten beim „Volk“ beschafft,
und die beim ersten Scheitern in der Realpolitik
wieder in ihrem Loch verschwindet,
wo sie auf die nächste Katastrophe wartet,
um wieder mitzuverdienen.
Also keine richtigen Nazis.
Eher Schauspielnazis.
Nur eben auf der ganz,
ganz großen Bühne.

Genug der Vorrede.
Die Frage,
die sich diese Spezialepisode stellt,
ist, wie immer, die folgende:
Was tun?
Gelassenheit?
Alarmismus?
Formierung?
Aktion?
Eine von vielen Antworten
wurde heute
in der „Bühne 7“, hier in Quedlinburg gegeben.
Und sie ist so einfach,
wie sie kompliziert ist,
denn sie lautet:
Egal,
einfach was tun!
Nicht nichts tun!
Und um überhaupt etwas tun zu können,
ist es zunächst unabdingbar,
etwas zu wissen
und im besten Falle
auch noch zu verstehen.

In diesem Sinne
hatte die Stadt Quedlinburg
heute zu Vortrag, Gespräch und Getränken
in die hinterste Ecke der zentralen Innenstadt geladen.
Kaum ein Stuhl in der „Bühne 7“
war unbesetzt.
Die Ernsthaftigkeit
war von Minute Eins an
so präsent,
wie es das Thema nun mal verlangt.
Das Publikum war dafür gut ausgesucht.
Jeden Moment habe ich damit gerechnet,
das eine Eule zur offenen Tür hereinfliegt,
mit den besten Grüßen aus Athen.
Gefühlt die Hälfte waren Kolleg*innen,
nicht nur aus Quedlinburg,
sogar die Waldorfschule Thale
hat eine kluge Vertreterin geschickt.
Die andere Hälfte
bestand aus Vertreter*innen
der hiesigen Institutionen
(Sportverein, Jugendamt,
Sozialamt, Stadtrat, Jugendforum).
Das kann man schon mal
ein solides Netz nennen.

Und dieses Netz wurde von einer Leinwand aus
mit dieser Startfolie begrüßt:
„Extrem rechte Strukturen im Harz
– Rückblick und aktuelle Entwicklungen“.
Der eigentliche Eyecatcher aber
war eine Fotografie,
auf der ein Demofronti
zu bestaunen war,
dessen genauere Analyse
mich jetzt viele Stunden und Nerven kosten würde:
„Die Regierung ist das Virus
Deutsch – Stabil (sic!) – Ungeimpft
Harzrevolte“.
Gehalten wird das Transparent
von einer Gruppe dunkel gekleideter Menschen,
deren Gesichter aber nicht zu erkennen sind,
weil sie mit digitalen Stickern,
Luchsgesichtern,
unkenntlich gemacht wurden.
(Fun Fact:
Echte Luchse sind im Harz
seit Anfang des Jahrhunderts
nach 200 Jahren wieder heimisch,
man schätzt ihre Anzahl
momentan auf 90 Tiere.)
Aber auch ansonsten
sind die PowerPoint Präsentation
und der folgende Vortrag
genauso top-notch,
wie sie topaktuell sind

Als erstes stellt sich die Frage,
die immer am Anfang eines Vortrags stehen muss,
wenn man nicht einfach nur
irgendwas labern will:
Warum?
Ganz einfach:
Wegen des allgemeinen Wieder-/
Weiteraufstieg des Faschismus
in allen Teilen der Gesellschaft,
von den Umkleidekabinen und Dorffesten
bis in die Parlamente.
Weil das öffentliche Auftreten der Nazis
auch hier immer selbstbewusster wird,
egal wie sehr sie diffamiert und zurechtgewiesen werden.
„Rechts“ zu sein ist etwas normales geworden,
wenn auch noch nicht die Norm.
Naziklamotten, Nazisprüche, Naziansichten
muss man nicht mehr
in Schrebergärten und Vereinsheimen suchen,
die laufen jeden Tag an uns vorbei.
Die sind überall.
Auch weil sie im Internet sind.
Und auch da: überall.

Folgerichtig ist
eine der ersten Feststellungen des Vortrags,
dass wir es mit einer massiven Unterbelichtung
des Problems zu tun haben.
Der Harzkreis ist auf Platz 3 in Sachsen-Anhalt,
was die rechten/rechtsoffenen „Spaziergänge“ (u.ä.) angeht,
die Teilnehmerzahlen haben sich
in zwei Jahren vervierfacht.
Und die Harzer Nazis marschieren vorne weg.
Das machen sie auch nicht erst seit „Corona“,
oder seit den „Flüchtlingen“.
Spätestens seit den 90er Jahren
hat das Nazipack hier Fuß gefasst.
2005 wurde in Wernigerode eine JN aufgemacht,
wie damals so üblich von Nazikadern
aus dem ehemaligen „Westen“.
Einer der heute immer noch aktivsten Faschos
ist ein Thalenser,
der dann auch 10 Jahre später
ganz modisch einer der führenden Köpfe
der hiesigen „Identitären“ wurde.
Mit allem was so dazu gehört,
vor allem mit neuer Ästhetik,
wie so Anstreicherlämmer das eben machen.
Neuer Name, altes Gedankengut.
Aktuell sieht die Lage so aus:
Die AfD-Harz ist im Grunde 100% „Flügel“.
Die Völkischen Siedler in Wienrode
kaufen weiterhin ein Grundstück nach dem anderen.
Sogar Steffen Hupka ist irgendwie immer noch da.
Und was man von den Freilernern
im Schrebergarten halten soll,
das weiß man auch noch nicht so genau.

Und man weiß auch noch nicht so genau,
was man vom neuesten Sproß
der braunen Saat halten soll,
der „Harzrevolte“,
die es ja zu Beginn des Jahres
immerhin geschafft hatte,
einen Fackelmarsch
bis vor das Haus des Halberstädter OBs zu führen.
Immerhin weiß man aber,
mit wem man es da zu tun hat,
Luchsmasken auf gestellten Fotos
für die Sozialen Medien hin oder her.
Und, Überraschung:
Immer die selben Fratzen;
Mitglieder der NPD, von Die Rechte,
dem „Kollektiv Nordharz“, der „Europäischen Aktion“,
plus erfahrene Aufbaukader,
die für den West-Osttransfer zuständig sind.
Klingt erstmal bedrohlich.
Aber ist es das auch?
Abgehalfterte Faschospacken,
deren einzige Großtat der letzten Jahre darin bestand,
den Reichstag zu „stürmen“?
Muss man über die Bescheid wissen?
Wären die nicht ohne Bühne
nur noch bedeutungsloser
in ihrer Stickerkleberei und TikTokerei
und mit ihren „Aktionen“?
Sind das nicht nur Social Media Nazis,
die mit der digitalen Aufmerksamkeit
schon zufrieden sind?
Denen es schon als fast zu krass gilt,
mit schwarzen Kreuzen an Ortsschildern
an die deutschen Opfer von
„Ausländerkriminalität“ zu erinnern?
Die mehr als drei Transpis in drei Monaten
auch bloß nicht geschafft haben?
Die sich hinter Luchsgesichtern verstecken?

Ja, das muss man.
Und vor allem muss man
keine Minute damit warten.
Jedes Zögern,
jede Vorsicht,
jede gutgemeite Deeskalation,
jeder zu lang gezogene Diskurs,
kann entscheidend sein.
Darin waren sich zumindest
die meisten Leute in der „Bühne 7“ einig.
Die „Schweigende Mehrheit“ scheint
immer noch stabil zu sein.
Und man soll bloß nicht denken,
dass zivilgesellschaftliches Engagement,
vom Klassenzimmer bis zum Parlament,
nichts bringt.
Der Abschluss des Vortrags
liefert dafür den besten Beweis:
Drei Jahre hat es gedauert,
bis die IB, samt Tillschneider,
wieder aus Halle vertrieben war.
Eine Niederlage der sachsen-anhaltinischen Nazis,
die auch nach Jahren noch Hoffnung macht.
Darauf, dass es schon reichen kann,
wenn wir wachsam bleiben,
auch wenn es überflüssig erscheint,
und gerade dann nicht schweigen,
wenn unsere Worte
wirklich Bedeutung haben können,
wenn Faschismus erkannt
und benannt wird.

Ich könnte mich jetzt noch
über die wenigen Kollegen aufregen,
die in dem angeschlossenen Austausch
mit ihren oberflächlichen Kommentaren
(„Unter(!)schätzen sie den Kubitschek
nicht vielleicht ein bisschen?“,
„Ukrainische Mitschüler
sind auch Teil des Problems“)
unter Beweis gestellt haben,
dass sie nur so tun,
als wüssten sie,
wovon sie reden.
Oder über die Abwesenheit
von eben genau den Vertreter*innen,
die nur mal Bescheid wissen müssten
(diverse Realschulen des Landkreises
hatten auch auf Einladungen nicht mal reagiert),
aber die sich einen Scheiß
für den Ernst der Lage interessieren.

Aber nein.
Es war einfach gut zu erleben,
dass das antifaschistische Netz steht,
dass es Menschen gibt,
die sich glaubhaft,
und nicht nur auf Bühnen,
jeden Tag daran erinnern,
was mit „Nie Wieder“
eigentlich gemeint ist.

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