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… Living On The Edge … (Chronicle 20)

von | 2024 | 1. Dezember | Chronicle

 

„Sag mal, willst Du den Spruch da im Schaufenster etwa die ganze Adventszeit über hängen lassen?“ Der Brillenträger hatte den Laden betreten, gerade als der Ansturm des ersten Samstags der Quedlinburger Höfe abseits vom Markt seinen Höhepunkt erreichte und stand weit über die Theke gelehnt, damit er die Antwort des Buchträgers verstehen konnte, denn dieser flüsterte nur: „Wie meinen?“
Mensch! Damals! – Dein Ernst?“
Der Buchträger sah ihn aufrichtig verwundert an. „Hallo? Hast du die Auslage dazu überhaupt wirklich gesehen? Oder moserst du hier nur so rum, wie so ein gelangweilter Grinch?“
Der Brillenträger zog eine Augenbraue nach oben und verschwand durch die drängelnde Menge. Draußen überflog er das Schaufenster noch einmal von links nach rechts. Unter zahlreichen kleinen Art-Deco Lampen entdeckte er dann immer links neben den vermeintlichen Bestsellern auffallend unweihnachtsgeschäftliche Bände: Ganz links ein großformatiger Fotoband, dessen Cover allerdings auch viel Text versprach: 100 Jahre. Eine Rückschau auf Die Frankfurter Schule. In 1.000 Bildern. Ganz rechts, auf einem kleinen Podest, das wohl einen verschneiten Hügel darstellen sollte, stand die Jubiläumsausgabe vom Zauberberg. Der Brillenträger ging zurück in den Laden, wartete, bis ein Rentnerpaar die Memoiren von Angela Merkel bezahlt hatte und sagte dann leise genug: „Ok, schon besser. Aber habe ich was übersehen, oder war’s das schon? Ansonsten steht mir Merkels Freiheit dann doch etwas zu sehr in der Mitte.“ Der Buchträger beugte sich noch etwas näher an sein Ohr: „Geh noch mal gucken.“
Der Brillenträger holte sichtbar Luft, ein weiteres Rentnerpaar hinter ihm wich sogar etwas zurück, dann drehte er sich um und verließ erneut den Laden. Nach mehr als einer Minute erst sah er es dann: Direkt unter dem Buch der Stunde, in der Mitte des Auslage, kurz vor dem vorderen Rand, ganz dicht am Fenster, spiegelte sich das schwarze Cover eines Hochglanz-Paperbacks. Er musste in die Hocke gehen, um die blutroten Buchstaben lesen zu können, von links nach rechts: Krieg dem Kriege. Von oben nach unten: Ernst Friedrich. 100 Jahre. 1924 – 2024. Beeindruckt und zufrieden erhob sich der Brillenträger wieder aus der Hocke. Bis in den hinteren Raum des Ladens brauchte er bei dem Gedränge beinahe zehn Minuten, und auch im Antiquariat war es so voll wie immer um diese Zeit. Er fand eine Ausgabe des Zauberbergs, Frankfurt 1952, und blätterte einige Minuten darin herum. Als er die gesuchte Stelle gefunden hatte, klemmte er seinen linken Mittelfinger zwischen die Seiten und stellte sich an der Kassenschlange an. Nach einer weiteren Viertelstunde schlug er das Buch auf der Theke wieder auf und zeigte auf einige Zeilen auf der linken unteren Seite. Der Buchträger beugte sich nach vorne und las leise in das Gemurmel des Ladens hinein: „Toleranz wird zum Verbrechen, wenn sie dem Bösen gilt.“ Dann schaute er den Brillenträger an, der das Buch sofort wieder zuschlug. „Und, wer hat’s gesagt? Naphta oder Settembrini?“
„Ist doch egal.“
„Stimmt. Sag mal, wann machst du zu heute? Du weißt, der Film fängt halb Sieben an, ja?“
„Ja, keine Sorge, ich schließ pünktlich zu. Freiheit verkauft sich morgen noch genauso gut.“ Sie nickten sich kurz zu, dann brachte der Brillenträger das Buch zurück an seinen Platz im Regal und quetschte sich langsam nach draußen.

Die Hände der Mädchen steckten in dicken Fäustlingen. Trotz des sonnigen Tages waren die Temperaturen nach Sonnenuntergang wieder schnell unter 0°C gefallen. Rosa und Violetta saßen auch ansonsten dick eingemummelt auf den Beinen ihrer Eltern. Marie hielt ihre Tochter mit einem Arm fest und mit dem anderen hielt sie einen Becher, aus dem zarter Dampf aufstieg. Der Buchträger, seine Tochter ebenfalls umschlungen, neigte sich kurz zu ihr: „Lässt du mir einen Schluck über? Die Kaffeemaschine im Laden hat vorhin zu früh den Geist aufgegeben.“
„Mach ich.“ Sie lehnte sich kurz bei ihm an. Rechts neben ihm und links neben ihr saßen der Brillenträger und Karoline und schauten gebannt in die gleiche Richtung wie die Mädchen zwischen ihnen. Vor dem Klopststockhaus auf dem Schlossplatz war eine große Leinwand aufgebaut, vor der vielleicht fünfzig Stühle standen, die meisten davon besetzt. Die Leinwand war an den Seiten eingefasst von zwei Weihnachtsbäumen, auf denen jeweils nur wenige Kerzen versuchten zu brennen. Violetta und Rosa machten große Augen, als vor ihnen die gleichen Häuser zu sehen waren als die, vor denen sie gerade saßen. Sie klatschten in die Hände, als die Schwestern auf der Leinwand den Bären und den Falken das erste Mal trafen. Ihre Eltern und die anderen beiden sahen ihnen dabei zu, ganz so wie Kleinkinder, die gerade das erste Mal einen Kinofilm sehen. Nach dem Film hörten sie den Mädchen noch eine Weile zu, die sich und ihnen vom gerade erlebten erzählten. In Ein- bis Fünfwortsätzen. Wie einfach alles war.
Auf dem Weg zurück zum Markt, kurz unter dem Finkenherd, entspann sich zwischen den Freunden ein loses Gespräch, und die Mädchen bestaunten die vielen Menschen und Lichter in der Dunkelheit.
„Was gibt es neues bei Euch in Thale?“, der Brillenträger sah auch die Mädchen an, doch Marie antwortete schnell: „Sag bloß, du hast noch nicht von dem absoluten Großereignis im nächsten Jahr gehört! Die Kulturszene überschlägt sich.“
„Was für ’ne Szene?“
„Müsstest du ja eigentlich wissen. Na, pass auf, für den Weg bis zum ersten und letzten Glühwein für heute reicht die Geschichte.“ Karoline ging etwas näher neben ihnen: „Worüber zieht ihr her?“
„Über das Musical, mit dem das Bergtheater nächstes Jahr wiedereröffnet werden soll.“
„Wie bitte? Ein Musical?“
„Du hast ja tatsächlich noch nichts davon gehört. Also: Es soll „Walpurga“ heißen.“
„Oh bitte nicht!“
„Doch. Und soo schlimm ist die Story auch gar nicht. Und vor allem auch noch nicht fertig. Die Marketing-AG hat einen Dreiteiler geplant.“
„Nein!“
„Doch. Wart’s ab. Da werden Stars geboren im Sommer.“
„Ach, und wo ihr grade bei Stars seid“, mischte sich der Buchträger ein, „der August wird auch immer verrückter. Jetzt ist auch noch Alex Christensen mit im Boot. And Friends!“
„Und ihr seid sicher, dass ihr nicht doch wieder nach Quedlinburg ziehen wollt? Ich meine, dann wärt ihr auch in relativer Sicherheit zu den Wolfsrudeln, von denen gerade überall geredet wird.“
„In Quedlinburg? Machst du Witze? Als ob es davon hier nicht auch genug gäbe.“ In diesem Moment hatten sie den Mühlgraben vor dem Marktplatz übertreten, die Augen der Mädchen glänzten im Licht tausender kleiner und großer Glühbirnen. Der Glühwein schmeckte teuer, und lange hielten sie es zwischen den viel zu laut redenden Menschen nicht aus, auch Rosa und Violetta verzogen bereits ihre Schnuten. Zum Abschied verabredeten sie sich dann für den kommenden Donnerstag, wenn die Kleinstadt mal durchzählen lassen würde, wie viele Wölfe hier auf wie viele Füchse kamen.

Auf den letzten Metern nach Hause dachte der Brillenträger noch lange über Wölfe nach, und darüber, was Füchse gegen sie ausrichten konnten. Er ging an seiner Haustür vorbei und drehte noch eine extra Runde auf der Null. In den weinseligen Gesichtern der letzten Touristen sah er dieselbe verunsicherte Zufriedenheit, die er in sich selbst verspürte, seit Jahren schon. Wie würde die Zukunft nach diesem Weihnachtsfest aussehen? Was würde werden, wenn der „echte Richtungswechsel“ vollzogen war, also das Zugehen der vermeintlich Konservativen auf die Faschisten, dem nur noch Björn Höcke im Weg zu stehen schien, bis der auf seine Teilnahme im Bundestagswahlkampf verzichtet hatte, und wo der Schulterschluss, so wie hier in Quedlinburg, eigentlich schon beschlossen war. Was würde werden, wenn eine Partei von einem Fünftel der Menschen gewählt werden würde, deren gestern erst veröffentlichte drei Hauptwahlkampfthemen waren: Raus aus der EU. Euro abschaffen. Abtreibungen abschaffen. Also Trumpismus ist Reinkultur. Was würde werden, wenn es immer mehr Geschichten darüber geben würde, wie die Bundeswehr systematisch von „Verrätern“ gesäubert werden würde, so wie die eine, von der er erst kürzlich gehört hatte: Ein vermeintlicher Antifa-Maulwurf, seit bald 20 Jahren Soldat, um die 40, aus Merseburg, der eigentlich raus, aber auch nicht einfach kündigen will, wird von zwei Beamten des MAD befragt, fünf Stunden lang, nachdem der Vorgesetzte des Raumes verwiesen wurde. Fusionteilnahme! Lina E.-T-Shirt auf dem Betriebsgelände! Private Ukrainehilfe! Mit einer SPD-Politikerin hätte er auch schon Kontakt aufgenommen! Das wäre Geheimnisverrat! Das Militärgericht sähe dafür nichts anderes als Knast vor. Der Soldat werde „stillgelegt“, wenn er sich benehme, bei vollen Bezügen. Und ja, der Oberst, der sich an den MAD gewandt hatte, war in der AfD. Und ja, das hätte was zu sagen, schließlich kam die Anzeige auch von der Partei.
Was würde werden? Als er über die wenig ausgeleuchtete Brücke vor dem Stadtbad ging, nahm er neben sich, am Geländer des Mühlgrabens, ein paar dunkle Gestalten wahr, die ungewöhnlicher Weise sehr leise sprachen, verglichen mit der ausgelassenen Stimmung ringsumher. Er schnappte nur wenige Worte auf. „Endlich losschlagen.“ „Noch auf’s Kommando warten.“ „Noch mehr Kampferfahrung sammeln.“ „Wie hoch ist eigentlich der Jahresbeitrag im Active Club Festung Harz?“ „Warum haben wir eigentlich keine Füchse als Wappentier?“ „Die Wölfe sind wieder da.“ Kurz dachte der Brillenträger ein leises Heulen zu hören. Er eilte nach Hause, wo ihn das Echo dieses Heulens beim Schreiben seiner Chronik erwartete.

Karoline war unterdessen immer noch froh, dass ihre Chronik schon lange geschrieben war, noch bevor sie hier ankam, vor gut dreieinhalb Jahren. Sie hätte nicht mit dem Brillenträger tauschen wollen. Sie erinnerte sich lebhaft daran, wie schwer es auch ihr vor hundert Jahren mitunter gefallen war, mit den Nachrichten noch mitzuhalten. Ständig erschienen neue Zeitungen, mit noch mehr Nachrichten. Die Menschen gewöhnten sich daran, ständig über die Geschichte informiert zu sein. Heute waren sie es seit 100 Jahren gewöhnt, und Menschen unter Zwanzig kannten den Zustand der Nichtinformiertheit von Geburt an gar nicht mehr. Über die Auswirkungen dieser Tatsache hatte sie in den letzten dreieinhalb Jahren mehr gelesen als geschrieben. Und sie konnte es aushalten, das Gelernte nicht zu reproduzieren und begnügte sich mit der Beobachterrolle. Schließlich hatte sie ihre schreibende Rolle in der Geschichte schon einmal gespielt. Das Manuskript von Babylon Münzenberg lag schon seit längerem unangerührt in einer der unteren Schubladen ihres Bücherschranks. Doch an den größten Unterschied zu damals wurde sie auch heute jeden Tag auf’s Neue erinnert, gerade erst vorhin, als sie über den Weihnachtsmarkt gelaufen waren: Denn damals ging es den meisten Menschen gleich schlecht. Besonders hier in der Provinz. Damals, als es hier noch keinen modernen Arbeitsmarkt gab, geschweige denn High-End Weihnachtsmärkte, sondern allerhöchstens einen Wochenmarkt. Als es den allermeisten, verglichen mit heute, absolut beschissen ging; Die Goldenen Zwanziger hatte es, wenn überhaupt nur in ein paar Berliner Altbauwohnungen und Tanzsälen gegeben, und natürlich in den Landsitzen des Geldadels. Aber wenigstens hatten die Nachrichten halbwegs zur eigenen Situation gepasst. Weltlage und persönliche Gegenwart standen, für die meisten, nicht in so einem krassen Gegensatz wie heute.
Was Karoline Salthusser allerdings nicht aufgegeben hatte, war ihre Arbeit für den intellektuellen „Untergrund“, denn heute versteckten sich die Schlauen ja bekanntlich in aller Öffentlichkeit. Wie schon vor 100 Jahren, war es ihr auch hier nach wenigen Jahren gelungen, Teil eines gut laufenden Systems zu werden, dessen Aufgaben lediglich darin bestanden, den Überblick zu behalten (durch das Teilen von Informationen, damals wie heute ausschließlich auf Papier) und im Fall der Fälle zu wissen, wem zu vertrauen war. Wie wichtig diese Arbeit, damals wie heute, war, zeigten nicht zuletzt die Nachrichten, auch wenn diese, Karoline atmete in aller Ruhe aus, inzwischen am äußersten Rand der Nachvollziehbarkeit angelangt waren, und eine sinnvolle Einordnung kaum mehr unmöglicher erscheinen konnte. Es seie denn, es ginge tatsächlich doch wieder auf den Untergang einer Zivilisation zu. Dementsprechend gelassen überflog sie nur kurz den inhaltlichen Entwurf für die neueste Episode der Chronik des Brillenträgers, die er ihr wie jeden Samstag Abend geschickt hatte.

 

1. Dezember 2024 (Entwurf)

War is coming back: Deutschland erstellt Bunkerverzeichnis

„Links“ jetzt „Konservativ“, das Hufeisen weiß mehr…
– die FPÖ holt 35% in der Steiermark,
trotz Megaskandal
(Korruption, harte Drogen, Mord)
beim Wahlsieger,
Leningraz bald Bürgerkriegsgebiet?
– Betretungsverbot für Sellner in Augsburg

Thyssen Krupp baut mehr als 10.000 Stellen ab
VW verkauft Xinjiang
Ford baut knapp 3.000 Stellen ab
EhringKlinger (Thale, Zulieferer) wird im Februar dicht gemacht
– ab morgen: Friedenspflicht bei der IGM vorbei

„Black Friday“ – „Week“
(mal drüber nachdenken, wie pervers das eigentlich ist,
wann kommt der Black Friday Month?)

FDP-Strategie Papier:
„D-Day-Affaire“:
„Impuls-
Narrativ qualitativ setzen-
Narrativ quantitativ verbreiten-
Beginn der offenen Feldschlacht“
(das ganze noch selbst veröffentlicht,
Parteiführung habe aber von nichts gewusst,
Generalsekretär wird trotzdem ausgetauscht)

– alle Verfahren gegen Trump eingestellt,
umgehend Strafzölle gegen Mexiko, Kanada, China
(frische Lebensmittel und Holzbau) angekündigt,
– Trump threatens 100% tariffs on BRICS nations over dollar
– Bombendrohungen gegen Gaetz und Hegseth,
auch gegen Demokraten
– „Es geht los, noch bevor es so richtig losgeht. Elon Musk veranstaltet auf seinem „X“ eine Treibjagd auf Beamte, die er namentlich nennt und von denen er teilweise weitere persönliche Informationen veröffentlicht. Doxing von ganz weit oben. Seine Millionen fanatischen Fanboys stürzen sich dann, vorerst, „nur“ mit Online-Belästigung auf die Markierten. Einige von ihnen sind bereits untergetaucht. Einer der von Musk als Trollfutter Freigegebenen: Der Chef der Klimaschutzabteilung des Energieministeriums der USA. Diese Abteilung hatte Tesla 2010 rund 465 Millionen Dollar an Förderungen gewährt. Nun bedankt sich Musk auf seine Art.“
(Bernhard Torsch)

– IStG-Haftbefehl gegen Militärjunta in Myanmar

– Bürgerkrieg in Syrien flammt wieder auf
– halb Aleppo unter Kontrolle der Dschihadisten
(die in D zeitweise „syrische Rebellen“ genannt werden)
– russische Jets kommen zu Hilfe

Waffenstillstand mit der Hisbollah am Dienstag,
aber erstmal noch mega Bombardements,
dann kommt eine israelische Kommission zu dem Schluss,
Bibi (Arroganz) trage Mitverantwortung für das Massaker,
Amnesty wirft Israel Völkermord vor

– „Koalition der Willigen“ – Westeuropa diskutiert über Entsendung von Bodentruppen
(wegen Trump und Nordkorea und so)

Kriegsprotokoll. Schreibtisch. Deutsche Heimatfront. Letzte Reihe.
Woche 141.
Geht es jetzt doch ganz schnell? Montag: Charkiw, Saporischijia und Mykolajiw werden mit Luftangriffen überzogen, Infratsruktur en masse zerstört. Der Gegenschlag trifft Kursk, Brjansk und Kaluga. Der Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, Rob Bauer, fordert die Unternehmen auf, sich auf ein Kriegsszenario vorzubereiten. In Chile setzt der Papst die Kriege in der Ukraine und in Gaza/Israel gleich. Eine Studie der Bundeswehr findet heraus, dass 61% der deutschen Männer ihr Land mit der Waffe verteidigen würden. Der Militärflughafen in Kursk wird von zwei ATACMS-Raketen getroffen. Dienstag: Luftalarm in Kiew, die Luftabwehr holt dutzende Drohnen vom Himmel. Der deutsche Militärexperte Carlo Masala fordert eine „Koalition der Willigen, die im Zweifel auch bereit ist, Bodentruppen in die Ukraine zu entsenden.“ Gemeint sind: Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Polen. In Ternopil (Westukraine) brechen Strom- und Wasserversorgung zusammen. Kopanky (Charkiw) ist „befreit“. Pokrowsk ist inzwischen eingekesselt, die Grundversorgung der Stadt ist zusammengebrochen. In Sumy sterben zwei Menschen nach Artilleriebeschuss. Mittwoch: Weiter Drohnenangriffe auf Kiew. Ursula von der Leyen fordert eine deutliche Erhöhung der europäischen Rüstungsausgaben. Die USA fordern eine Senkung des Rekrutierungsalters in der Ukraine von 25 auf 18. Donnerstag: Nova Illinka (Kurachowe) ist „befreit“. In Odessa schlagen Marschflugkörper ein. Am frühen Morgen herrscht über der gesamten Ukraine Luftalarm, überall wird die Energieinfrastruktur angegriffen, hundertausende sind ohne Strom. Der Kreml droht u.a. Entscheidungszentren in Kiew zu bombardieren, auch mit „Oreschnik“. Deutschland bietet Polen Patriots an. Freitag: In der Nacht greifen Drohnenschwärme die Gebiete Kiew, Odessa, Cherson, Sumy, Tschernihiw, Poltawa und Kirowohrad an. In Rostow brennt ein Öldepot. Kiew schickt weitere Reserven an die Front nach Pokrowsk und Kurachowe. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj schlägt in einem Interview mit den Sender Sky News vor, der Ukraine die Mitgliedschaft im westlichen Militärbündnis NATO zu gewähren, gleichzeitig aber Russland vorerst zu gestatten, die besetzten ukrainischen Gebiete zu behalten. Damit könnte die „heiße Phase“ des 33 Monate andauernden Krieges beendet werden. Samstag: Zunächst Nichts Neues: Bei Pokrowsk treten russische Truppen im Tagesverlauf zu 28 Sturmangriffen an. Bei Kurachowe, das bereits von drei Seiten angegriffen wird, stoßen russische Einheiten seit dem Morgen insgesamt 38 Mal vor. Sonntag: Der Himmel über der Ukraine bleibt dunkler von den Drohnen. Die neue EU-Führung besucht Kiew. Der Kreml verabschiedet den russischen Staatshaushalt für die nächsten drei Jahre: 40% gehen an das Militär.

 

Bis zum Sonntagnachmittag hatte der Brillenträger aber keine Antwort auf den Entwurf von Karoline bekommen. Er wusste, das bedeutete, es gab nichts auszusetzen oder zu wenig, das entscheidendste hatte er also wieder getroffen. Er hätte also mit dem Schreiben beginnen können. Aber noch fühlte er sich dafür irgendwie nicht edgy genug, also strich er sich seine noch nicht silberne Locke aus der Stirn, hängte das erste Mal in diesem Winter lange Unterhosen zum Trocknen auf und dachte dabei darüber nach, wie angenehm unaufgeregt es doch war, weiter gemütlich unter dem Radar des Literaturmarktes zu segeln. Es waren nur noch vier Episoden zu schreiben, und er würde die Mitte seiner Erzählung erreicht haben. Fünf Jahre schriftstellerischer Ausnahmezustand zogen an ihm vorbei, während er die letzte lange Unterhose aus dem Wäschekorb nahm, fünf weitere tauchten vor ihm auf. Seine aktuelle Leser*innenschaft schätzte er momentan auf vielleicht ein bis zwei dutzend. Trotzdem verstieg er sich nicht zum ersten Mal dazu, während er die lange Unterhose auf den Trockner hängte, schonmal an der Rede zur „Ablehnung“ seines ersten Literaturpreises (höchstwahrscheinlich den für den dünnsten aber originellsten und längsten Erzählfaden) zu arbeiten: Kein Danke. Außer an Freunde. Das Geld sofort spenden. Aber erst irgendwann viel später in irgendeinem Underground-Magazin verraten wohin. Vielleicht. Auch über die andere Variante, einfach in der Mitte stumpf abbrechen und Erzählfäden mal gepflegt Erzählfäden bleiben zu lassen, dachte er mal wieder nach. Nur wusste er, wie schon seit fünf Jahren: Aufhören würde nur bedeuten, wieder von vorne anzufangen; und nicht, dass das etwas schlechtes wäre.
Als er mit der Hausarbeit fertig war, legte er sich spontan zur Deadline auf die Couch und fragte sie vorsichtig, wie okay es wäre, heute mal wieder nicht weiterzuschreiben. Die Deadline spürte, dass sich hinter diesem Wunsch mehr verbarg als zu wenig gefühlte Edgyness, und antwortete mit einer Gegenfrage. Und ja, er hatte wichtigeres zu schreiben, wenigstens aber musste er damit beginnen. Spätkapitalistische Erschöpfungsdepressionen kurierten sich nicht von alleine.

 

From Zero (Entwurf)

Ritter Lien, eine irgendwann später noch ausführlicher vorzustellende neue Figur dieser Geschichten, dessen Verbindungen zu Morpheus, dem Sandman/Sandmännchen und anderen zwielichtigen Figuren ebenfalls erst später durchsichtiger werden sollen, war inzwischen dabei angekommen, vom Durchschlafen nur noch zu träumen. Der zwischen Büchern lebende x-te Wiedergänger des modernen Heldentums, der jeden Morgen auf einem dünnen silbernen Seil aus Mondlicht in die Tage balancierte, wo er dann sein Leben damit verbrachte, an Märchen für Kinder und Erwachsene zu arbeiten, saß, seinen silbernen Bart kratzend, an seinem Schreibtisch und hatte gerade den letzten Entwurf für sein diesjähriges Weihnachtsmärchen verworfen und in den Papierkorb verschoben. Zu viel durchsichtiges Privilegiertengejammer und noch viel zu wenig auf Messers Schneide. Stattdessen öffnete er ein neues, leeres, noch unbetiteltes Dokument.
Er brauchte lange, bis er wusste, wie er das Märchen beginnen konnte, das im Traumreich auf ihn gewartet hatte, dessen Titel er aber erst jetzt aufschreiben konnte: Komm nach Hause, Schneewittchen, Mutter ist nicht mehr da. Das Märchen begann er dann mit einem Brief, den Schneewittchen vielleicht niemals lesen würde:

„Komm nach Hause, ruh Dich aus, gönn dem Leben diesen Sieg. Du selbst bist schon weiter gekommen als viele, viele andere es jemals werden und bist noch sehr lange noch jung genug. Komm nach Hause, komm zur Ruh, lass das Denken Denken sein, sei allein. Die Wälder hier warten auf dich, die Bäume und Vögel schweigen für dich. Verlauf dich so lange in dir, bis es nur noch zwei Auswege gibt, und du endlich nur noch den wählen kannst, der wieder aus den Wäldern hinausführt. Komm nach Hause, lern das Fürchten neu. Fang doch einfach von vorne an.“ Living well, even at the tip of the edge, is the best revenge.

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