„Alles geschieht zur selben Zeit
und in derselben Welt,
man kann es wissen,
ja, man weiß es,
aber ohne es zu wissen,
denn alle ferne Wirklichkeit
ist ungewiss,
wie ein Traum,
nicht zu ergreifen.“
(Anne Weber: Anette, ein Heldinnenepos. 2020.)
Die Feiertage und der Jahreswechsel waren absehbar ruhig verlaufen. Auf ein eigentlich ziemlich klassisches Weihnachten in Familie (Frühstücken, Essen zubereiten, Essen essen, Ausruhen, Spazierengehen, Brettspiele, Filme, Schlafen, repeat…) war ein ziemlich ähnliches Silvester gefolgt. Vom Buchträger hatte er immer noch nichts gehört, das nass gewordene Buch geriet bereits wieder langsam in Vergessenheit, und die Nachrichten der Gegenwart rannten den Algorithmen hoffnungsvoll hinterher.
Der Brillenträger erholte sich in diesen Tagen mühsam, auch wenn er sich ständig fragte: Wovon eigentlich? Steckte ihm das Jahr denn wirklich so sehr in den Knochen? War es denn wirklich so beschissen gewesen, wie alle Jahresrückblicke immer wieder beteuerten? Benutzte er es nicht, wie viele andere, einfach nur als Ausrede? Könnte er nicht eigentlich noch viel mehr ertragen? Ja, was ertrug er denn überhaupt? Hier an seinem Schreibtisch, auf seiner Couch, in seiner warmen Wanne? Überall auf der Welt wuchs die Katastrophe von Tag zu Tag. Hier passierte wenig, und wenn dann doch meist nur Gutes.
Und trotzdem fühlte er sich erschöpft und war es leid, das ein ums andere mal feststellen zu müssen. Erschöpft vom Nachrichtenlesen. Von Dingen, die auf seinen Alltag nur unwesentlichen Einfluss hatten. Und vom Schreiben darüber. Vom Darüberschreiben- müssen. Vom nicht Nichtschreiben können, nicht dürfen. Denn dass ihn nur der Lockdown in die Hobbyschriftstellerei getrieben hatte, konnte er inzwischen auch nicht mehr als Ausrede benutzen. Denn er hatte ja weitergeschrieben, auch im Sommer, und im Herbst. Wie konnte er da gerade jetzt, im Winter, einfach aufhören? Wie konnte er je wieder aufhören? Beinahe wünschte er sich eine Schreibblockade. Dann aber kamen ihm seit langem wieder einmal die Zeilen in den Sinn, die Rainer Maria Rilke an einen jungen Schriftsteller gerichtet hatte, der fragte, woher er denn wissen könne, ob er wirklich ein Schriftsteller wäre, und die der Brillenträger genauso aufgeblasen fand, wie sie auch immer wieder etwas in ihm zum Schwingen brachten:
„Niemand kann Ihnen raten und helfen, niemand. Es gibt nur ein einziges Mittel. Gehen Sie in sich. Erforschen Sie den Grund, der Sie schreiben heißt; prüfen Sie, ob er in der tiefsten Stelle Ihres Herzens seine Wurzeln ausstreckt, gestehen Sie sich ein, ob Sie sterben müßten, wenn es Ihnen versagt würde zu schreiben.
Dieses vor allem: fragen Sie sich in der stillsten Stunde Ihrer Nacht: Muß ich schreiben? Graben Sie in sich nach einer tiefen Antwort. Und wenn diese zustimmend lauten sollte, wenn Sie mit einem starken und einfachen ich muß dieser ernsten Frage begegnen dürfen, dann bauen Sie Ihr Leben nach dieser Notwendigkeit; Ihr Leben bis hinein in seine gleichgültigste und geringste Stunde muß ein Zeichen und Zeugnis werden diesem Drange. Dann nähern Sie sich der Natur. Dann versuchen Sie, wie ein erster Mensch, zu sagen, was Sie sehen und erleben und lieben und verlieren.“
(Rainer Maria Rilke. 1903.)
Das letzte Jahr hatte ihm gezeigt, wie sein verpasstes Schriftstellerleben hätte aussehen können. Werd Schriftsteller!, hatten seine Träume doch immer gesagt, das wird bestimmt ganz toll. Lass es sein, hatte sein Leben dann gesagt, das ist viel zu einsam.
Und jetzt hatte er irgendwie beides. Und auch noch den Vorteil, nicht vom Erfolg seines Tuns abhängig zu sein. Wenigstens in dieser Hinsicht musste er also nicht schreiben. Er meinte, das gäbe ihm Freiheit, und er brauchte sich einen Dreck um Publikumserwartungen, literarische Moden und Verhandlungen um Verlagsrechte, oder gar Abgabetermine zu scheren. Er schrieb einfach. Ohne großes Publikum, teilweise bestimmt ganz ohne Leser, und träumte eben einfach weiter, wie Schiller gesagt hätte, vom Ruhm der Nachwelt. Manchmal stand er vor seiner Pinnwand und musste über sich selber lachen, wenn er wieder eine neue Idee darauf festhielt, wie in diesen zahllosen Filmen, in denen Menschen über einem selbstauferlegten Projekt verzweifeln. Aber noch hatte er keine roten Bindfäden zwischen den einzelnen Karteikarten gezogen, das wäre dann doch zu viel Klischee des Guten gewesen.
Trotzdem plagten ihn, wie jeden selbstkritischen Autoren (ohne großes Publikum), Zweifel, ob er sich denn nur etwas vormache, ob es nicht besseres zu tun gäbe, und ob er denn überhaupt etwas zu sagen hätte. Zumal noch in der Postmoderne, in der alles bekanntermaßen schon unendlich oft gesagt, wiederholt und variiert worden war, in der es angeblich nichts neues mehr zu erzählen gab und der Weltgeist nur noch ein überproduzierter Remix ist, der keine neuen Melodien und keinen eigenen Sound mehr hat. Der allen eigentlich nur noch auf die Nerven geht, mit seiner ständigen Anklage: Sieh hin! Hör zu! Wisse! Zeige Haltung! Misch dich ein! – „Work! Live! Pose!“
Als einzige Antwort darauf erschien ihm somit nur wieder das Schreiben, gegen den Weltgeist, oder viel mehr ihm nachjagend, ihn vor sich her treibend, in kleine Stücke schlagend, um ihn mit stolzer Überlegenheit in die Tastatur zu schmettern. Alles wollte er festhalten, für die Nachwelt natürlich. Wie es wirklich gewesen war, damals, als alle den Kopf verloren, eingezogen oder zu Markte getragen hatten. Als Bürokraten vereinzelt vor Bildschirmen darüber entschieden, was mit Menschen geschehen soll, die gemeinsam in bosnischen oder afghanischen Flüchtlingslagern erfroren, während Wohlständler unter gleichlautende Nachrichten in den Sozialen Medien Lachsmileys setzten. Als innerhalb eines Tages, kurz nach Weihnachten, aus Russland 130.000 Covid-19-Tote nachgemeldet wurden, einfach so, und diese ermüdenden Zahlen auch hier noch vor dem Jahreswechsel wieder durch die Decke gingen. Und wieder Lachsmileys. Und Links zu unendlich vielen anderen Texten. Zu Magazinen, die die Politik kritisierten, zu Youtubern und bühnenlosen Kabarettisten, die die Politik kritisierten, zu satirischen Podcasts und zu Büchern, die eine bessere Politik forderten. Und die doch alle nichts änderten, die zum Selbstzweck verkamen, denn nichts wurde besser, alles lief genauso weiter und wurde jeden Tag schlechter. Da half es auch wenig, wenn der Brillenträger sich mit weniger aktuellen Büchern trösten wollte, denn scheinbar war es wirklich noch nie anders. Und als er dann den nächsten Wenderoman ausgelesen ins Regal gestellt hatte, saß er erneut ratlos am Schreibtisch, aktualisierte einfach nur ein paar Zeilen daraus und hoffte, dass irgendwann jemandem dieser geniale Diebstahl ein Lächeln ins Gesicht zaubern würde, denn bei aller Tristesse wohnte doch jedem Anfang immer noch …
„Und so weiter, jeden Tag, dauernd Geschichte: Gorbatschow (Biden), Verhandlungen (Brexit, Vakzin- und Flüchtlingsverteilung), was sagen die Amerikaner (was sagen die Chinesen), Thatcher mault rum (Trump lügt weiter), und Mitterand ist jetzt auch wieder dagegen (Orban sowieso) … (…)
Wir hörten vielleicht nicht hin, aber wir hörten es. Der Deutschlandfunk lieferte praktisch pausenlos Sound. Es kam jetzt darauf an, einen Beat zu finden, aus dem Rauschen um uns herum etwas zu machen.“
(Peter Richter: 89/90. 2015. S. 294.)
Im Arbeitszimmer dudelte bei Spotify gerade noch japanischer Math-Rock, als sich der Anrufton in den Gitarrenmelodien verhedderte. Der Brillenträger sah, dass es der Buchträger war, der ihn da so jäh aus seinen Gedanken eines Künstlers als mitteljunger Mann reißen wollte. Er lauschte noch einige Momente diesem Chaos an Klängen, dann ließ er den Buchträger an sein Ohr: „Na? Frohes neues, ne?“
„Ja ja, von wegen! Sag nichts. Ich les‘ einfach vor.“
„Bitte?!“
„Nichts sagen, hab ich gesagt! Hör einfach zu, ich lese vor. Das ist grade bei mir eingetrudelt. Ich soll dir das sogar persönlich vorlesen! Der Typ mit dem Buch, das wir suchen, scheint dich irgendwie zu kennen.“
„Was?“
„Ruhe jetzt! Pass auf: Wie Sie sicher auf Seite 2029 gelesen haben, hatte ich mich also dazu durchgerungen, das einmalige Angebot des Brillenträgers anzunehmen. Auch wenn das seltsam klingen mag, sicher kann ich bald einige ihrer Fragen beantworten. Momentan befinde ich mich in Berlin, habe aber vor, in nächster Zeit nach Quedlinburg und Thale zu reisen, denn hier gibt es gerade wenig zu erleben, wie Sie sich vorstellen können. Das vollständige Manuskript bringe ich dann mit, vielleicht hat es ja dieses Mal das Zeug zum Kritikerliebling. Ich melde mich dann rechtzeitig.
P.S. Dieses Internet, also ehrlich, was für eine geniale Erfindung! Ich lese ihre Texte seit einigen Monaten regelmäßig und mit großer Freude, wenn man das so ausdrücken kann.“
„What?“
„Nein, ich verarsch dich nicht. Komm einfach her, ich bin noch eine Weile im Laden. Dann können wir uns da gemeinsam den Kopf drüber zerbrechen.“
„Ok. Heute? Ich schreibe nämlich gerade.“
„Oh, der Herr Künstler hat die Muse zu Besuch! Na, wegen mir auch morgen, aber dann is‘ halt vielleicht Kundschaft da.“
„Und? Aber schick mir das mal, ich will das noch mal in Ruhe lesen. Wieso Manuskript? Was für ein Brillenträger? Wieso ist das Internet eine geniale Erfindung? Seite 2029? Soweit bin ich nie gekommen!“
„Ja, ich habe genauso viele Fragen. Ich schick‘s dir. Bis morgen. Ab Zehn is‘ auf.“
„Alles klar. Stand denn dieses Mal wenigstens ein Name dabei?“
„Nope, nur ne neue Mailadresse: doppelgänger19_29(at)diedoppeltenzwanziger.de. Aber brauchst nich‘ gucken, die Seite is currently under construction.“
„Und ich dachte, das was ich heute Nacht geträumt habe, wäre strange.“
„Lustig. Also. Frohes Schaffen noch!“
„Danke. Bis morgen. Ich bin pünktlich.“
In den nun folgenden Stunden schrieb der Brillenträger kein Wort mehr, er las die Nachricht wieder und wieder, aber außer abstrusesten Theorien, die hirnverbrannter waren als DARK, The Umbrella Academy, Inception und Interstellar zusammen, konnte er sich keinen Reim auf die Worte machen. Gegen Mitternacht schlief er noch einen Grad erschöpfter ein. Und in dieser Nacht träumte er zum ersten Mal ausschließlich in Zahlen und Buchstaben.
Der Buchträger war am nächsten Morgen bereits um Acht im Laden. Seit Monaten sahen nun auch seine Samstage so aus. War er früher des Öfteren über das Wochenende nach Berlin gefahren, um den ihm so verhassten Provinzmief kurzzeitig aus seinen Klamotten zu kriegen und den Puls des urbanen Lebens zu fühlen, so stand er nun regelmäßig vor den Auslagen und sortierte um, blätterte in einzelnen Büchern, las sogar in dem einen oder anderen ein paar Minuten. Bis jetzt war es ihm gut gelungen, vor anderen immer noch den Eindruck zu erwecken, er hätte, selbstverständlich nicht alle aber doch viele der Bücher gelesen, die er hier verkaufte, aber seit einigen Wochen fiel ihm auch das zunehmend schwerer, denn er las schon länger überhaupt nicht mehr so, wie er es sonst getan hatte. Nicht dass er nicht genügend Zeit gehabt hatte, aber die Gegenwart war eben auf diese langweilige Art einfach zu wichtig geworden. Die sich überschlagenden Nachrichten ließen ihm keine Ruhe mehr. Und die brauchte er, um wirklich zu lesen. Einzig dem Brillenträger hatte er davon erzählt, auch weil der natürlich sofort mitbekommen hätte, wenn er nur so tat, als ob er Ahnung hatte. Der hatte aber nur verständig gelächelt, er solle sich nicht zu sehr wundern, ihm gehe es fast genauso. Auch deswegen hätte er wohl zu schreiben begonnen, als Ausgleich zum Lesen müssen sozusagen, nach zwei Stunden Zeitung und Internet könne er nicht einfach mit dem ganzen Chaos ins Bett gehen und in Romanen nach Sinn suchen. Als der Buchträger ihm daraufhin den ein oder anderen Podcast empfohlen hatte, hatte er nur abgewunken, er habe ja wohl besseres zu tun, schlafen zum Beispiel.
Der Brillenträger hatte etwa zur gleichen Zeit die Augen geöffnet, wäre aber am liebsten einfach liegengeblieben. Nur ein Wochenende noch, dann wäre er wieder Teil der Frontlinie, wie jetzt die Menschen genannt wurden, die in Einrichtungen mit erhöhtem Infektionsrisiko arbeiteten, obwohl sich das natürlich nicht wie eine Front anfühlte. Jedenfalls nicht mehr als sonst. Nur noch zwei Tage Aufschieben können, 48 Stunden zur freien Einteilung. Aber seine Beine hatten sich schon aus dem Bett geschwungen und schlurften mit ihm in die Küche. Fast automatisch begann er sich Kaffee zu kochen, den Aschenbecher zu suchen und den Laptop hochzufahren. Aber bis zu den Nachrichten kam er gar nicht erst, denn nach dem Sperrbildschirm erschien sofort seine Stichpunktliste für die nächste Folge, und nach kurzem Überfliegen schlug er den Rechner wieder zu.
Anschlag auf Flughafen in Aden (Jemen) – Neue Regierungsmitglieder alle unverletzt (Warnschuss? Inkompetenz? False Flag? Infos zum Jemenkrieg?). Schwere Erdbeben in Kroatien, Erdrutsch in Norwegen – Return of the Naturkatastrophe?). Legalisierung von Schwangerschaftsunterbrechungen in Argentinien (Vergleich mit Polen? Umgang der katholischen Kirche damit?). „Impfchaos“. Infektions- und Todeszahlen (nicht müde werden!). Unbeschwerte Silvesterfeier in Wuhan, illegaler Rave in Frankreich. – Titel: Bleibt alles anders (?).
Klar, alles wichtig, alles Teile der Geschichte, nichts davon konnte er weglassen. Doch die Nachricht von gestern machte es ihm leichter als er es für möglich gehalten hatte, nicht gleich wieder nach den neuesten Zahlen zu schauen und den Tagesschau-Feed einmal nach unten durchzuscrollen. Er dachte sogar kurz daran, die ganze nächste Folge gar nicht zu schreiben – es würden sich auch in der nächsten Woche genug Meldungen finden, die es einzuordnen galt – konnte darauf aber selbst nur mit einem Achselzucken reagieren; das würde ja doch nicht passieren. Er zog sich an und ging bereits gegen Neun los, vielleicht wäre der Buchträger ja schon im Laden.
Da das neue Jahr gleich mit einem langen Wochenende begonnen hatte, war es nicht verwunderlich, dass nur wenige Menschen in den Gassen und auf den Straßen unterwegs waren. Die Stadt gewöhnte sich allmählich an die ausbleibenden Touristen, konnte sich deren Rückkehr im Sommer aber gewiss sein und sich so mal auf sich selbst konzentrieren. Die Spuren der Silvesternacht waren hier und dort noch zu sehen, aber die großen Schlachtfelder der letzten Jahre waren nirgends auszumachen. Es war zwar alles andere als ruhig geblieben (von wegen Böllerverbot!), aber die Stadtreinigung würde einen vergleichsweise entspannten ersten Arbeitstag haben, auch weil es momentan tagsüber zwar gut kalt, aber trocken blieb. So ließ sich der Brillenträger auf dem kurzen Weg einige Momente mehr Zeit, auch wenn die Spannung hinsichtlich der mysteriösen Mail keinen Anlass zum Trödeln bot. Wie erwartet winkte ihm der Buchträger schon aus der offenen Ladentür.
„Und, warste schon im Schnee?“
„Du etwa noch nicht?“
„Sorry, wir haben nicht alle Ferien.“
„Okay, okay. Ja, war ich, gestern. Benneckenstein.“
„Und, war‘s so voll, wie alle sagen?“
„Nee, gar nicht, die waren alle noch im alten Jahr oben, damit da wenigstens mal eine gute Sache passiert ist. Jetzt hat der Wald erst mal wieder seine Ruhe.“
„Gut für den. Noch mehr Smalltalk, oder wollen wir loslegen?“
„Ja, geht gleich los. Nachrichten haste schon gelesen, oder wollen wir noch schnell Uhrenvergleich machen?“
„Nee, bin im Bilde. Lass mal gut sein. Komm rein jetzt!“ Der Buchträger schloss die Ladentür hinter dem Brillenträger wieder ab; Touristen, so selten sie auch geworden waren, taten sich manchmal schwer damit, die Öffnungszeiten ernstzunehmen. Der Brillenträger sah hinter der Theke eine Kanne Tee dampfen und während der Buchträger den Rechner hochfuhr, fragte er: „Und, sag mal, wärst du Silvester eigentlich hier gewesen?“
„Hä? Na logisch nicht! Hatten dummerweise im Sommer schon angefangen zu planen und zu organisieren. Haben im Herbst wieder aufgehört. Schöne Scheiße. Es wäre das 20. Jubiläum gewesen. 2020. Verstehste?“ Ihm war die Enttäuschung immer noch ins Gesicht geschrieben. „Ich war jetzt seit Monaten nicht in Berlin. Dass die Clubs zu sind, geschenkt, aber auch auf der kleinsten Wohnküchenparty sind Gäste aus der Provinz grade nicht sooo gern gesehen. Kann ich ja auch verstehen, aber trotzdem! Man, wir waren bereit! Die Jahre haben beschissen angefangen, okay, aber jetzt sollte es losgehen! Alle Clubs high-end, und davon ne riesige Auswahl! Alle Leute durchpolitisiert und woke, alle irgendwie Künstler, alle relevant. Und für jeden Drogen in Hülle und Fülle!“ Der Brillenträger unterbrach ihn nicht, offensichtlich gab es eine Menge Frust, der wenigstens jetzt mal kurz an die frische Luft musste. „Was da für Werke bei rausgekommen wären, und wie viele noch dazu! Jeder hätte sich in der Musik, dem Text, dem Bild des anderen wiedererkannt, hedonistischer Sozialismus. 20 neue Kalekos, 40 neue Wilders, 50 neue Marlenes, 100 neue Tucholskys!“
„Aber wieder nur ein Kästner.“
„Wieso, du wolltest doch nie mit?!“
„Stimmt, auf endlosen Partys kann man ja auch so gut das echte Leben beobachten.“
„Ja ja, spar‘ dir deinen Hohn mal für deine Internetliteratur auf“, dabei setzte er den letzten Teil seiner Antwort mit jeweils zwei Fingern auf Brusthöhe in Gänsefüßchen.
„Ach komm schon. Du weißt, dass es darum nicht geht.“ Er blickte auf den Bildschirm hinter der Ladentheke, der Computer war bereit, der schwarze Spiegel in den Rest der Welt war frisch geputzt. Nach ein paar Klicks las der Brillenträger noch ein weiteres mal die Mail des Doppelgängers lesen.
Immer noch wusste er wenig damit anzufangen. Der Buchträger holte einen zweiten Hocker, setzte sich, zündete sich wie nebenbei eine Zigarette an und sah den Brillenträger erwartungsvoll an: „Also, was schreiben wir zurück?“
Kurz vor Zehn waren sie fertig und mit dem Ergebnis sichtlich zufrieden. „Gut. Wenn der Doppelgänger gerne in Rätseln schreibt, nehmen wir das Angebot doch gerne an.“
„Ja, aber findest Du nicht, wir haben ein bisschen übertrieben?“
„Meinste?“ Der Buchträger drückte seine Zigarette geschickt im Aschenbecher aus, stellte ihn unter die Ladentheke und stand auf, vor der Tür schien bereits Kundschaft zu sein. „Lies noch mal in Ruhe, ich kümmer mich mal hier. Und vielleicht fällt dir ja noch ne smarte Anrede ein.“ Er schloss die Ladentür auf und bat das davor wartende Pärchen herein. Der Brillenträger nahm den letzten Schluck Tee und las die Mail ein letztes Mal. Bis jetzt begann sie denkbar banal: Hallo, na Sie machen es ja spannend. Und ja, daran klingt einiges seltsam, aber momentan für uns am wichtigsten ist die Frage, warum Sie von einem Manuskript schreiben. Der Kunde hatte ja ein Exemplar des Buches gesucht. Dennoch sind wir mehr als interessiert und laden Sie gerne ein, uns zu besuchen, wenn Sie in der Nähe sind. Wir gehen davon aus, dass es Ihnen nicht möglich sein wird, das Manuskript einfach per Post aufzugeben, sonst würden Sie ja nicht so ein Geheimnis daraus machen. Aber vielleicht ist es Ihnen möglich, einfach mal ein Foto davon zu schicken? Und uns natürlich auch gerne einen vorläufigen Kaufpreis zu nennen.
Wir erwarten mit Spannung eine baldige Antwort und wünschen weiterhin Gesundheit.
Mit freundlichen Grüßen.
Der Brillenträger dachte nicht noch weiter nach, klickte auf Senden und sah vom Bildschirm auf, in das erstaunte Gesicht des Buchträgers. Das eben eingetretene Pärchen war zügig in den hinteren Teil des Ladens gegangen und hatte nur spärlich gegrüßt, man schaute sich gerne selber um.
„Hast du die gesehen?“
„Nich‘ so richtig. Wieso?“
„Super strange Kombi. Ein Vollblut Hipster, Wollmütze über den Ohren, überdimensionierte Nickelbrille, Jogginghose, Bomberblouson, aber eigentlich viel zu alt für so‘n Outfit, und eine astreine Garçonne.“
„Eine was?“
„Sag mal, ich seh‘ schon, du musst echt noch‘n bisschen recherchieren für dein Projekt. Schau selber. Da fragste dich, wer von beiden sich verkleidet hat, und wer nicht.“ Aber in diesem Moment kamen die beiden schon wieder nach vorne und blieben nebeneinander vor der Ladentheke stehen, jeder mit einem Buch in der Hand.
„Schön haben sie es hier.“
„Danke. Wären sie so freundlich, sich hier einzutragen, wir nehmen die Kontaktnachverfolgung sehr ernst, und augenscheinlich sind sie nicht von hier. Und wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, die Dame, sie sehen hinreißend aus.“ Die Frau rückte gespielt verlegen ihren grauen Glockenhut zurecht. Der Mann nahm ihr verunsichert das Buch aus der Hand, legte beide auf die Theke und sagte gebieterisch: „Sieht man uns das an, ja?“ Buch- und Brillenträger schauten die beiden weiterhin entgeistert an. „Sagen sie mal, führen sie auch Tagespresse?“ Dabei hatte er bereits begonnen, die Liste auszufüllen, und zwar mit beiden Namen, wobei seine Hand auffällig zitterte. Der Buchträger räusperte sich: „Nein, nur die Wochenendausgaben. Wenn sie einmal hinter sich schauen würden?“ Die Frau war bereits auf dem Weg zur Rückseite des Schaufensters und fischte eine Berliner Morgenpost aus dem Aufsteller. „Gut, ich denke das wär‘s dann. Ach nein, eine Frage noch. Ich sehe, sie führen auch ein Antiquariat. Sie haben nicht zufällig eine Ausgabe von diesem Doku-Schinken aus den letzten 20ern. Ich komm nur leider schon seit Jahren nicht mehr auf den Namen.“ Buch- und Brillenträger wechselten einen verschwörerischen Blick. „Nein, ich fürchte da kann ich ihnen nicht helfen. Im Antiquariat führen wir nur Belletristik.“
„Schade. Dann versuche ich mein Glück ein anderes Mal.“
„Gerne, das macht dann 24 Euro.“
Das Pärchen bezahlte, wünschte noch einen guten Tag und Gesundheit und verließ dann schweigend den Laden. Während der Buchträger immer noch wie vom Donner gerührt da stand, hatte der Brillenträger die Liste von der Theke genommen. „Komm mal her.“
„Ey, diese beiden haben nicht wirklich gerade nach dem gleichen Buch gefragt, oder?“
„Du sollst dir das mal angucken, komm her, hab ich gesagt.“ Der Buchträger kam langsam zurück, las die Namen und schaute den Brillenträger ratlos an. „Charlotte Ritter und Gereon Rath. Und weiter?“
„Was? Die Namen sagen dir nichts?“
„Nee?“
„Echt? Das sind die beiden Hauptfiguren aus Babylon Berlin.“ Der Buchträger lief dunkelrot an. „Erzähl mir nicht, du kennst das nur dem Namen nach.“
„Ähm, na ja, warum soll ich lesen, was alle anderen schon gelesen haben?“
„Ich fasse es nicht! Aber egal. Ja, ich denke die meinen das gleiche Buch.“
In diesem Moment erklang leise der Benachrichtigungston des Rechners. Und dieses Mal hatte der Doppelgänger keine Zeit für eine Antwort verstreichen lassen.
Die Mail beinhaltete nur ein Foto, auf dem eine zierliche Hand ein vergilbtes Blatt in die Kamera hielt, auf dem handschriftlich ein Inhaltsverzeichnis festgehalten war, das mit den Worten: „Arbeitstitel: Babylon Münzenberg“ überschrieben war. Die Betreffzeile war mit nur einem einzigen Wort gefüllt: Unverkäuflich.
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