Gegenwartsliteratur.
Live.
Nur im Internet.
Aus der Provinz.

# Startseite / Die Serie / Mister Sandman, bring me a dream (S7:Ep11)

Lesen

Mister Sandman, bring me a dream (S7:Ep11)

von | 2022 | 21. August | Die Serie, Staffel 7 - Half a world away

„Hush, little baby,
don’t say a word.
And never mind
that noise you heard.
It’s just the beasts under your bed,
in your closet, in your head.
Exit light.
Enter night.
Grain of sand.
Exit light.
Enter night.
Take my hand.
We’re off to never-never land.

(Metallica: Enter Sandman. 1991.)

 

Lieber Morpheus,

ich weiß, ich weiß, die ganze moderne Welt nennt Dich im Moment nur noch „The Sandman“, oder gleich ganz einfach nur: „Dream“.
Warum? Die Antwort ist, wie so oft heutzutage: Wegen Netflix. Da feierst Du gerade Deinen x-ten Wiedergang. Mit mächtig Applaus aus der Hall of Fame der Meister der Mythologie. E.T.A. Hoffmann hört gar nicht mehr auf zu klatschen. Erst in den Abiturprüfungen, jetzt auf Milliarden Schwarzer Spiegel. In wirklich allen Ländern der Welt derzeit auf Platz Eins im Streaming.
Warum? Wahrscheinlich, weil das Upside Down langsam wieder aus der Mode kommt, und das Original (echte Albträume) sich wieder größerer Beliebtheit erfreut. Wahrscheinlich auch, weil der Unterschied zwischen einem Albtraum und der Wirklichkeit nur noch selten klar zu bestimmen ist. Und wahrscheinlich auch, weil Deine neueste Quest vielen so vertraut vorkommt, auf irgendeine seltsam surreal-reale Weise. In der ersten Staffel der Serien musstest Du nämlich erst mal Deinen Scheiß wieder auf die Reihe kriegen. Hundert Jahre in einer Glaskugel rumhocken und starren, das war auch sicher kein Zuckerschlecken. Und dann stehst Du da, Dein Reich in aber millionen Teile zerfallen, und Du zu schwach, um sie wieder zusammenzusetzen.
Warum ich Dir aber eigentlich schreibe: Könnte ich vielleicht noch ein bisschen Nachschlag bekommen? Nur solange, bis der nächste Winter vorbei ist; der Sommer war einfach zu gut, um wirklich wahr gewesen zu sein. Ginge das? Ich helfe auch dabei, den riesigen schwarzen Scherbenhaufen aufzuräumen, versprochen.
Auf eine Antwort warte ich im nächsten Traum. Bis dahin. Grüße an Trinity und Neo und die ganzen anderen Traumtänzer!

So.
Die Chronik beginnt heute
gleich ganz ganz unten
in den Traumschichten,
kurz vorm Limbo.
Da, wo die Probleme
wirklich alles
auf den Kopf stellen:
Unter allem Treibgut,
das sich im Abschaum der Empörungen anhäuft,
war es diese Woche vor allem eins,
dass die hiesige Seele in Aufruhr versetzte:
Pommes-Gate!
Bei Ikea!
Oder anders:
Kartoffeln
regen sich auf,
über zu viele Kartoffeln.
Aus Energiespargründen,
und auch, weil Frittieröl
weiterhin ein rarer werdendes Gut ist,
gibt es ab jetzt bei Ikea
als Beilage zum Mittagstisch
keine Pommes mehr,
sondern nur noch Kartoffeln.
Im Internet steigert sich die Aktion
zu einem Honeypot,
in dem alle kleben bleiben,
die immer noch von 2016 träumen.
Der Skandal zieht aber
auch deshalb so viel Aufmerksamkeit,
weil er eines dieser Beispiele ist,
an dem noch so viel mehr
abgelesen werden kann.
Und vor allem:
Alles wird nicht nur teurer,
alles ist schon viel teurer geworden
und wird noch sehr viel teurer.
Die Preissteigerungen
fallen inzwischen wirklich überall auf.
Und das, noch bevor die momentanen Rabatte
(aka Mehrwertsteuerersenkung)
wieder verschwinden.
Mindestens die untere Hälfte der „Mittelschicht“
wird sich in wenigen Monaten,
spätestens bei der nächsten Betriebskostenabrechnung,
die Frage stellen müssen,
wie weit weg die Armutsgrenze noch ist.
Und das bedeutet:
Die Straße ruft!
Aber dazu später.
Bis dahin zerstreitet sie sich
über die Finanzierung dieses Abstiegs.
Die Top-3 Schlagworte in dieser Diskussion
sind momentan:
Gasumlage,
Mehrwertsteuersenkung (aka Rabatte)
und Übergewinnsteuer.
Nur eine Regierungspartei
kann sich nicht mit allen davon anfreunden,
kein Wunder,
sie würde dann auch
noch die letzten Unterstützer
in Richtung Club Der Unternehmer (CDU)
oder nach noch weiter rechts verlieren.
Der wahre Albtraum aber
ist die Argumentation der Liberalen:
Während die ganze Welt inzwischen weiß,
dass, nur zum Beispiel,
die großen Energiekonzerne
ihre Gewinne im letzten halben Jahr
vervielfacht haben
(z.B. Shell um 500%),
sitzt die Vorsitzende des Bundesverteidungsausschusses
in Talkshows und sagt:
Übergewinne?
So etwas gibt es gar nicht.
Gewinn ist Gewinn.
Neoliberales Blut scheint transparent zu sein,
sonst hätte Marie-Agnes Strack-Zimmermann
verdammt blutrote Hände.
In Spanien sieht man das anders,
dort ist die Übergewinnsteuer
beschlossene Sache.

Aber nicht nur die Übergewinne
der Kriegsprofiteure sorgen weiter
für anschwellende Panik
in abschwellenden Geldbörsen,
natürlich trägt auch die Inflation
weiter zum „Absturz der Vielen“ bei.
Und in Deutschland geht es ja noch:
Der UK und die USA sind schon zweistellig,
die Türkei bleibt weiter Spitzenreiter
und baut ihren Vorsprung
sogar noch aus: 80% Inflationsrate.
Was bei uns aktuell noch knapp 8% bedeuten,
rechnet man die Preissteigerungen mit ein
und zieht die kaum steigenden Löhne wieder ab,
das kann man sich heute
in der Welt am Sonntag vorrechnen lassen:
„Wir rechnen damit,
dass wegen der deutlichen Preissteigerung
perspektivisch bis zu 60 Prozent
der deutschen Haushalte
ihre gesamten verfügbaren Einkünfte
– oder mehr –
monatlich für die reine Lebenshaltung
werden einsetzen müssen.“
(Helmut Schleweis, Präsident des DSGV)
Nicht 6%.
Nicht 16%.
60% aller Haushalte… Gute Nacht, Deutschland.
Um den Inflationsblock abzuschließen,
hier noch die letzte lustige Wortschöpfung
in diesem Zusammenhang,
damit sich das alles wenigstens kurz mal
mit Humor nehmen lässt:
Die Shrinkflation.
Heißt: Produkte bleiben gleich teuer,
es ist aber weniger drin.
Das Brot kostet noch
genau so viel wie letzte Woche,
hat aber drei Scheiben weniger.
Hier auf dem Quedlinburger Markt kostet das normale Brötchen
inzwischen schon knapp 50 Cent,
vor einem Jahr waren gut 30 Cent normal.

Vor einem Jahr war auch normal,
dass sich alle irgendwie
mit der russischen Annexion
der Krim abgefunden hatten.
Ja, Völkerrecht und so,
aber was soll man denn machen?
Heute ist die Krim wieder
der Hotspot der Weltpolitik.
Seit gefühlt drei Wochen
läuft die angekündigte „Rückeroberung“
durch die Ukraine.
Und zwar eigentlich
nur in den Nachrichten.
Die meisten ukrainischen Drohen
werden von der russischen Luftabwehr
vom Himmel geholt,
die wenigen, die ihr Ziel finden,
richten kaum Schaden an.
Über die sonstigen täglichen Opfer
des Artilleriebeschusses von beiden Seiten
liest man nur noch, wenn man danach sucht,
denn neben der Krim, also eigentlich darüber,
macht sich alle Welt weiter Sorgen
um das größte AKW Europas,
das zum Lieblingsspielball
im Lügenmeer der Propaganda auf beiden Seiten geworden ist,
und ja trotzdem jederzeit
wirklich zum Albtraum werden kann.
Es bleibt dabei,
ein Ende des Krieges
entfernt sich immer mehr.

Ein anderes Ende aber,
das wird so ganz allmählich immer dicker,
und kommt sogar hoffentlich bald doch noch.
Und zwar für den Frisurensohn.
Es dürfte nur noch wenige
Anwaltskanzleien in den USA geben,
die nicht irgendeinen Fall aufrollen wollen.
Und auch die Generalstaatsanwälte
müssten ihre Akten geschnürt haben.
Die Frage bleibt trotzdem:
Worauf warten die alle noch?
Ach ja, die Midterms.
Der Rattenschwanz
dieses üblen Traumes einer Präsidentschaft
zieht sich also noch ein paar Monate hin.
Und ich kann noch ein bisschen länger
von einem Frisurensohn träumen,
dessen Dresscode demnächst
farblich auf sein Toupet abgestimmt ist.

Sein Nachfolger allerdings
hat zwar beschissene Umfragewerte,
macht aber innenpolitisch,
was er eben kann.
Seit einer Woche ist Klimaschutz
in den USA tatsächlich Gesetz,
nur als „Green New Deal“
bezeichnet das keiner mehr;
clever, da wissen die MAGApeople gar nicht,
worauf sie genau wütend sein sollen.
Und immerhin wird
auch ihnen ja was angeboten,
nämlich das, was in den Staaten
immer alle wollen:
Jobs, Jobs, Jobs.
Zur Not sogar mit Gewerkschaften.
Im Heartland, der Keimzelle des Trumpismus,
soll jetzt der „Electric Car Battery Belt“ entstehen.
Modernste Antriebe für die beliebten Trucks.
Kohle?
War gestern.
Diesel?
War gestern.
Arbeitslosigkeit?
War gestern?
Trump?
Wird bald gestern sein.
Den Herzschlag der Energiewende
ins Zentrum der Republikaner zu legen,
ist ein ziemlich cleverer Schachzug;
Politiker können also nicht nur gewieft sein,
wenn es um sie selbst geht.

Außer die heißen Olaf Scholz.
Der stand in dieser Woche
das erste Mal
vor dem Cum-Ex-Untersuchungsausschuss.
Untersucht wird,
was der Kanzler von
der Selbstbedienungsmentalität
der neoliberalen Heuschrecken wusste
(im besonderen der Warburgbank),
die sich Steuern
in Milliardenhöhe
erstatten ließen,
die sie nie gezahlt hatten.
Zumindest nach der ersten Anhörung
bleibt der Eindruck hängen,
dass man sich die auch
getrost hätte sparen können,
denn Scholz bleibt sich
in persönlichen Krisenfragen
traumwandlerisch treu:
Er kann sich an wenig erinnern,
aber Einfluss habe er
ganz sicher keinen genommen,
auf Dinge,
an die er sich nicht wirklich
erinnern kann.
Für seine Träume kann ja niemand was.
Solche Aussagen stärken natürlich
weiterhin das allgemeine Vertrauen
in eine Regierung,
und der nächste demokratische Albtraum
labt sich an diesem Versagen.

Und in den Kulissen dieser Traumwelt
geht alles weiter ohne Pause kaputt.
Wenn es nicht abfackelt,
wird es überschwemmt.
Auf die nächste Jahrhundertdürre
(das macht dann vier der letzten fünf
in den letzten fünf Jahren)
folgen verheerende Stürme,
erneut mit hunderten Opfern in ganz Europa,
vielen tausenden allein in Pakistan,
und überall auf Jahre hinaus
zerstörter Wohn- und Lebensraum.
Im Süden Europas tauchen
wegen der historisch niedrigen Pegelstände
der größten Flussmündungen
inzwischen schon Schiffswracks
aus dem Zweiten Weltkrieg wieder auf.
Der Colorado River ist nicht mal mehr
ein Schatten seiner selbst.
Und wo noch Wasser fließt,
da treiben tonnenweise tote Fische
an der Oberfläche:
Die Menschen an der Oder
wundern sich seit zwei Wochen,
und immer noch
sucht man nach einer singulären Ursache.
Toxische Einleitungen in Polen?
Die Wassertemperatur für viele Fische zu hoch?
Invasive Algenarten?
Alles davon?

Alles also nur noch
zum endlich „Aufwachen“wollen.
Zum Glück ist mal wieder
kurz vor „Deutscher Herbst“.
Dieses Jahr mit ordentlich Feuer
unter der Pfanne!
Dieses Bratkartoffelomelett
kennen wir zwar schon,
aber im Küchenradio werden die Boxen
in diesem Jahr
wohl endlich auf Anschlag gedreht werden:
„Deutschland erwoke!“
gegen „Deutschland erwache!“
Wie tief so ein Land anscheinend schlafen kann.
Doch damit ist es bald vorbei,
zumindest wenn es nach den Leuten am Grill geht.
Bald heißt es nämlich an allen Fronten:
Raus! Auf die Straße!
Egal, ob
Northface-Jacke,
Cord-Jakett
oder Schwarzes Hemd.
Die Querfrontmärsche/-spaziergänge
versprechen ein heilloses Durcheinander zu werden.
Ukrainefahnen neben Russlandfahnen,
grüne Träumer neben grünen Abräumern,
entnervte Gewerkschafter neben Freelancern,
Identiäre neben Identitätsverweigerern,
Normalos neben Faschos.
Die Entwertung des gesellschaftlichen,
demokratischen Widerspruchs
hat sich zwar bereits totgelaufen,
aber wer rastet, der rostet.
Außerdem,
wenn es nach Kubitschek, Elsässer,
Wagenknecht, Höcke, Kubicki
oder auch Schirdewan geht,
dann wird sich in den nächsten Wochen
ja auch nur warmgelaufen,
für den #Wutwinter.
Für Populisten kann Krise eben auch geil sein,
mehrere Krisen sind sogar noch geiler.
Und für wen das nicht genug ist,
der kann dann immer noch
nach ganz rechts außen weichen
und sich neben den Typen einreihen,
die die ganz widerliche Opferrolle fahren,
und die einen Ursula-Haverbeck-Platz
in irgendeinem ostdeutschen Dorf wollen.
Wegen Artikel 5 GG.

An dieser Stelle
stellen #DieDoppeltenZwanziger
zum Schluss für heute
ein mal mehr ihren Sinn
für allergeilste Ironie unter Beweis.
Es folgt ein absoluter
Hypertraum einer Meldung,
mit so vielen ironischen Brechungen,
das ich nach drei durchwachten Nächten
aufgehört habe zu zählen.
Bitte, hier,
zum Genießen:
In Berlin-Kreuzberg
wurde heute
der Heinrichplatz
umbenannt.
Vorbei das Rätselraten,
wer denn nun
der eigentliche Namensgeber sei,
seit heute steht es fest,
und ist unzweideutig.
Wie einer dieser Träume,
aus dem man sich wünscht,
nie wieder zu erwachen:
Rio-Reiser-Platz.
Nichts, aber auch wirklich überhaupt gar nichts,
hätte besser in diese Zeit passen können,
denn:

 

„Der Traum ist ’n Traum,
zu dieser Zeit.
Doch nicht mehr lange,
mach‘ dich bereit
für den Kampf ums Paradies.
Wir haben nichts zu verlieren,
außer uns’rer Angst.
Es ist uns’re Zukunft, unser Land
Gib mir deine Liebe,
gib mir deine Hand.“

(Ton Steine Scherben: Der Traum ist aus. 1972.)

 

Eins noch:
Sorry Quedlinburg,
ich weiß, ich bin heute
wieder ein sehr schlechter Chronist gewesen.
Aber hey, nimm‘s als Kompliment.
Du bist momentan
mein Wachtraum vom Frieden,
von Sicherheit, Glück
und relativem Wohlstand.
Bleib bitte noch ein bisschen liegen;
du siehst so schön aus,
wenn du träumst.

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert