Gegenwartsliteratur.
Live.
Nur im Internet.
Aus der Provinz.

# Startseite / Die Kurzgeschichten / Quedlinburger Kurzgeschichten / Money left to burn (Teil 2)

Lesen

Money left to burn (Teil 2)

von | 2021 | 4. April | Die Kurzgeschichten, Quedlinburger Kurzgeschichten, Staffel 5 - How does it feel?

Hi, my name is

Ab der Hochwassermarke am Wasserwerk spazierten sie nur noch. Die Ampeln an der Stumpfsburger Brücke hatten ihren Betrieb zwar schon wieder aufgenommen, Autos waren aber weit und breit keine zu sehen, und über dem Mettehof färbte sich der Himmel bereits rosa.
„Wenn wir nochn Zahn zulegen, können wir in Ruhe nochn Kaffee aufm Markt trinken.“
„Da hat doch alles zu!“
„Kannst du bei dir kein Wasser heiß machen?“
„Ach so, ja. … Strom, Gas und Wasser haben wir ja noch. … Na dann los, Powerwalken. Jott sei Dank sieht uns keener.“
Auf der rechten Seite des Neuen Wegs marschierten sie von Laterne zu Laterne. Der morgendliche Lauf forderte allmählich seinen Tribut. Das Almänchen nahm sich vor, noch regelmäßiger zu laufen, ein Halbmarathon zum vierzigsten sollte noch zu schaffen sein. Der Brillenträger hingegen sehnte sich nach dem Turnhallenboden in der Süderstadt zurück, Laufen macht mehr Spaß, wenn man dabei einen Ball dribbeln kann. Die Bewegung hatte er trotzdem genossen.

Den ganzen Neuen Weg entlang, bis zur Steinbrücke, fragten sie sich, wie viel echte Zukunftsangst in ihrem Schweigen lag. Best Ager gefangen in der Pandemie. Bis ins Mark in ihren Identitäten erschüttert. Verunsichert wie alle anderen. Aber auch darüber sprachen sie nicht, als sie wieder auf dem Markt ankamen, über den jetzt schon die ersten Hunde und ihre Besitzer huschten; mussten sie auch nicht.
„Ich warte auf der Rathaustreppe. Milch, keinen Zucker, bitte.“
„Ay ay. Aber verkühl dich nich, ne?“
Das Almänchen setzte seinen Rucksack ab, holte die Flasche mit dem Osterwasser heraus, stellte sie auf den Stufen ab und legte sich den Rucksack als Kissen zurecht.

Als die Glocke der Marktkirche sechs Uhr schlug, kam der Brillenträger mit zwei dampfenden Tassen zurück. Das Almänchen kam ihm entgegen: „Doch janz schön frisch. Gehn wir noch die kleine Null?“
„Klar, wenn du die Kruke grade halten kannst.“ Der Brillenträger hielt ihm den Kaffee unter die Nase. Auf dem kurzen Weg um das Rathaus und die Marktkirche passierten sie die wenigen hier zu findenden Hinweise auf das künstlerische Leben der Stadt. Ein, zwei Galerien, Ölmalerei, Papierkunst, eine Rahmenwerkstatt, die zur Ruhe gekommenen Bühnen im Palais Salfeldt, im Marschlinger Hof und die gerade renovierte Bühne 7.
„Was machen die jetz eigentlich alle?“
„Die Künstler meinst du?“
„Ja, ich mein, so ohne Publikum is mit Darstellung schlecht, oder?“
„Die machen auch irgendwie weiter. Malen weiter, proben weiter, spielen weiter. Online halt. Oder im kleinsten Kreis. … Und halten halt durch. Prinzip Hoffnung, was sonst?“ Beide zuckten mit den Schultern. Das Almänchen blieb stehen: „Hast du die Stories von denen gehört, die fordern, dass ihre Werke in Museen gelagert werden müssten, so lange bis die Galerien wieder öffnen können?“
„Ja, aber ich glaub, von denen gibt es hier nich so viele, hier is noch Platz in den Schaufenstern. Ich weiß nich mehr, wie der hieß, irgendwas nichts sagendes, aber einer hat sich vom mdr dazu interviewen lassen und gesagt, er würde sonst seine Bilder im Garten zerdreschen, das ganze natürlich filmen und dann als Aktionskunst ins Netz stellen.“
„Langweilich.“
„Jap, mein Mitleid springt da auch nich drauf an.“
„Nich ma son bisschen? … Ich dachte du machst auch irgendwie sowas.“
„Ja, schon. Aber Schreiben, na ja, das is sowieso ohne Publikum. Wenn da überhaupt Beifall kommt, dann immer erst viel später.“ Der Brillenträger machte eine kurze Pause, sie waren wieder vor dem Rathaus angekommen.
„Aber warum kommste denn dann ma nich ins Machen?“
„Laber nich wie son Instagramcoach!“
„Sorry, du weißt schon was ich meine. … Du hast doch nix zu verliern!“
Der Brillenträger überlegte kurz, dann gab er sich mit hochgezogener Augenbraue einen Ruck: „Na gut. … Aber noch keinem verraten, ja?“
„Wie jetz?“
Er hatte bis heute nur wenigen davon erzählt, auch weil ein nicht geringer Teil von ihm self-publishing immer noch irgendwie stümperhaft und wichtigtuerisch fand. Die Suche nach Verlagen, auf eigene Faust, war ihm schon im Studium gründlich vergangen. Wer keinen kennen will, den kennt auch keiner. Sein geheimes Schriftstellerego schien im letzten Jahr aber doch noch Torschlusspanik bekommen zu haben und hatte endlich die Oberhand gewonnen: „Seit heute hab ich einen Blog.“
„Ach ja? … Hast du nich sonst immer bei Facebook geschrieben? … Hat mir der Sonnenbrillenträger erzählt.“
„Ja. Na ja, Blog … eigentlich eher ein Buch, nur halt im Internet. … Isses blöd, erst nach den Sturm- und Drangjahren ins kalte Wasser zu springen?“
Das Almänchen grinste: „Kann es sein, dass du blöde Fragen stellst? … Ich stell mir grad vor, wie früher im Freibad immer die 40jährigen auf den Dreier geklettert sind, um sich dann mit nem fast eleganten Köpper selbst und allen anderen zu beweisen, dass sie es einfach mal schon immer drauf hatten. Und wie wir dabei am Beckenrand standen und uns bloß unseren Teil gedacht haben.“
„Ja, so fühl ich mich ja auch! … Gleichzeitig. … Voll late to the game.“
„Quatsch! Qualität setzt sich immer durch, wirste sehn. … Schick mir mal nen Link, man! Glückwunsch!“
„Danke.“
„Aber sag mal … Is dir eigentlich klar, dass ausgerechnet morgen Kurts 27. Todestag ist?“
„Ja, is mir klar. Ich fand das Datum für den Launch auch makaber genug.“

Das Almänchen fragte den Brillenträger noch weiter über dessen Projekt aus, während weitere Hunde mit ihren Besitzern über den Markt liefen; die Nacht war schon hinter dem Münzenberg verschwunden.
„Denkste also, dass du endlich soweit bist, ja?“
„Worauf soll ich schon noch warten?“
„Na auf den Durchbruch natürlich! … Wirste Interviews geben? … bei aspekte, mit Jo Schück. Das wärs doch oder? “
Der Brillenträger lächelte: „Wenn mit irgendwem nich, dann mit dem. Oder nur ganz spärlich. Und mit ausführlichem Vorgespräch.“
„Rarmachen is am Anfang vielleicht nich so ne gute Idee? … Schaltest du irgendwo Werbung?“
„Klar, im Super Sonntag. … Und außerdem, Proselyten machen is was für Karrieristen. Der Zug is weg. So kann ich ganz ohne Erfolgsdruck schreiben.“
„Und da biste wahrscheinlich auch noch stolz drauf, wa?“
„Ein bisschen. … Rate mal, welchen Titel mein offizieller Debuttext hat!“
Das Almänchen holte sein Handy aus der Tasche: „Warte. Du klaust doch immer Songtitel und so was, ja?“
„Jaa?“
„Vielleicht, warte … Slim Shadys Debutbrett vielleicht? … nee, warte ich habs. … Das hier!“ Er tippte elegant auf seinen schwarzen Spiegel und dann krächzte es auch schon aus dem Lautsprecher:

„Das schlechte Gewissen.
Der sterbende Schwan.
Es is‘ alles erledigt,
nachdem was wir sah‘n.
Als ob wir anders wär‘n.

Und die, die‘s wissen,
behalten‘s für sich.
Das is‘ irgendwie schade.
Oder auch nich‘.
Als ob wir anders wär‘n.“

(Kettcar: Money left to burn. 2002.)

 

Der Brillenträger nickte anerkennend und wippte sofort zustimmend mit. Die Hookline flüsterten dann beide leise vor sich hin. Um das Maß voll zu machen, umarmten sie sich zum Abschluss doch noch. Mitten auf dem Markt.
„Na, dann genieß mal die Freiheit.“
„Mach ich, danke. Grüß zu Hause alle, ja? Bis bald.“
Das Almänchen winkte noch, als er am anderen Ende des Marktes in die Blasiistraße einbog.

Gegen drei saß der Brillenträger wieder am Schreibtisch. An Schreiben war allerdings nicht zu denken, und er war froh, dass es keine Schreibblockade war, sondern schlicht Müßiggang, schließlich hatte er den ersten Schritt gewagt, eine Pause also mehr als verdient. Aber die Notizen der letzten zwölf Tage verlangten nach Bearbeitung, die Ereignisse hatten nicht aufgehört sich weiter zu überschlagen, die Chronik stand nie still:

 

25. März bis 4. April

S5:Ep0-1 – Back to busyness

– Atlanta, Boulder, Orange (die ersten US-Massaker seit einem Jahr)

 – Autoanschlag auf das Capitol (Karfreitag aka Good Friday)

– Harris muss die Migranten betreuen
– 2 Billionen Infrastrukturplan (nur 6% für Straßen und Brücken)

China dreht weiter auf (sogar Sibylle Berg ist sich da im Spiegel ziemlich sicher)
(Hat der „Kommunismus“ (aka Staatskapitalismus) doch noch gewonnen?)

– keine Beruhigung in Myanmar, im Gegenteil

– russische Truppen vor der Ostukraine

 – Randale in Brüssel, St. Gallen (!), London (#killthebill)

Angelas Stinkefinger (Osterruhe!, dann doch nicht, dann: „mea culpa“, dann bei Anne Will (passiv-agressiv hoch2?), Wirtschaft und Kirche loben dafür, der Rest, sicher aber die meisten Ossis, haben die Message verstanden, nur die Ministerpräsidenten, zumindest die tief im Westen nicht) – Laschet „denkt nach“ über Ostern

CDU paktiert in Plauen mit AfD und III. Weg

 – Steinwürfe auf die ARD in Stuttgart

Doppelmutante in Indien,
Super Biest in Tansania
(over next pandemic, weil impstoffresistent?)
(Verständnis für Skeptiker: „Wer soll das alles noch glauben?“; kappa.)

– ehrlicher Quarantänebericht

AstraZeneca heißt jetzt Twix

– Nächtliche Ausgangssperren in: Hannover, Brandenburg (Landkreise über hundert, also so gut wie alle), Hamburg, Halle, München, Berlin.

– Inzidenz im Harzkreis auch bereits um die 200

Triage in Paris, Polen, Ungarn
Vierte Welle in den USA

Alan Turing auf der britischen 50 Pfundnote

Rant:
Endlich mal mit perverser social media Werbung abrechnen!
(Jüngstes Beispiel: Mitten in den NBA Top Ten auf Youtube weint plötzlich ein Kind in Großaufnahme, und es wird um Spenden gebeten, danach dann irgendein schmieriger Coach für Coaches, dem das Koks noch an der Nase klebt: Werbeagenturen sind verachtenswerte Agenten der doppelmoralischen Zersetzung.)

– irgendwas aufmunterndes? (ach ja, Ostern in Jerusalem)

 

Der Brillenträger überlegte, die Episode einfach so zu lassen und vielleicht eine neue Kategorie einzuführen, so was wie Die ungeschriebenen Episoden. Vielleicht würde er aber auch noch eine andere Möglichkeit finden, um dem Internet Texte überzuhelfen, die er gar nicht wirklich geschrieben hatte, denn gerade war die Sonne, die über dem Schuhhof noch nicht hoch genug stand, um länger als eine Stunde über die Dächer auf seinen Balkon zu scheinen, um den Giebel des Nachbarhauses gewandert. Er räumte also kurz auf dem Balkon auf und entschied sich, statt zu schreiben, lieber in irgendeinem teuren Buch zu lesen, nebenbei in Erinnerungen zu schwelgen und neue Projekte auszuhecken; die kleine Bluetooth Box auf Anschlag:

„I’m free
to be whatever I,
whatever I choose
and I’ll sing the blues
if I want.
I’m free
to say whatever I,
whatever I like,
if it’s wrong or right,
it’s alright.

(Oasis: Whatever. 1994.)

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert