immer spielt ihr und scherzt? Ihr müsst! O Freunde! Mir geht dies
In die Seele, denn dies müssen Verzweifelte nur.
(Hölderlin)
Sollten sich unter den aktuellen Leser*innen
auch Theater-Schauspieler*innen befinden,
habe ich nach dem heutigen Tag
eine dringende Frage:
Gibt es etwas undankbareres
als eine Montag-10-Uhr Vorstellung
vor ca. 300 Schüler*innen
provinzieller Oberstufen?
Eines vorweg:
Ich schreibe und lese
immer noch ungern Rezensionen.
Nur wollte es die Vorsehung
anscheinend nicht anders,
und nur drei Tage
vor dem Neunten November
gab des hiesige Städtebund-Theater
tatsächlich
Taboris „Mein Kampf“.
Und das, wie gesagt,
an einem Montag Morgen,
im Jahre 2023,
und beinahe ausschließlich
vor deutschen Teenagern.
Wenn das momentan kein Anlass
für eine Spezialepisode ist,
was dann?
(Spoiler:
Das hier wird kein Verriss,
im Gegenteil.
Aber immer der Reihe nach:)
Drei Stunden Aufführungszeit!
Ich sitze glücklicherweise am rechten Rand,
von der Bühne aus also links.
Das Licht am Ausgang
reicht gerade so,
damit ich nicht ganz im Dunkeln
mitschreiben muss.
Das Gemurmel verstummt nicht,
und so warten Herzl und Lobkowitz
mit allen gemeinsam auf Hitler,
auch wenn sie die einzigen sind,
die noch nicht wissen,
wer da gleich die Bühne betritt.
Die erste komische Ergänzung des Originalstoffes
erreicht nur wenige im Publikum:
Hitler lauscht aus noch sicherer Entfernung
Schlomos Lamentieren über dessen
nicht gelingendes Buch,
er hat noch nicht mal einen guten Titel.
Der Koch der Asylunterkunft, Lobkowitz,
gibt den über alles erhabenen
und brennt mit Herzl gemeinsam
ein erstes Feuerwerk an Wortwitz ab.
Einer meiner Lieblingsvorschläge?
Schlomo Faber.
Allen ist inzwischen aufgefallen,
dass niemand in Dialekt spricht.
Aus Lehrer*innensicht
und in Anbetracht des Publikums
ein sinnvolles Entgegenkommen.
Außerdem ist die Masse an Text,
die vor allem Lobkowitz hat,
eh schon eine permanente Überforderung.
Nur Hitler
klingt dadurch
halt irgendwie nicht wie Hitler.
Der jedenfalls betritt die Szene nun
mit der erwartbaren Arroganz,
er bewegt sich zackig,
aber auf eine peinliche Weise,
und wird von den beiden Juden
erstmal an seine gute Mutterstube erinnert
und daran, dass er ja womöglich auch Jude sei,
schließlich ist der Weg von Schüttler,
über Shitler zu Hitler nicht sehr lang.
Einigen im Publikum
will die grafische Darstellung
auf einer transparenten Leinwand
dabei helfen, den Witz zu verstehen.
Gelacht wird aber eher
bei „Schlomo-Homo“.
Kein Wunder,
Hitler hasst Witze,
auch wenn er nicht weiß warum.
So richtig gut
wird es das erste Mal,
nachdem sich Lobkowitz und Herzl
über Hitlers zwielichtige Kunst amüsiert haben
und ihn im violetten Bühnenlicht
und vor dem Wiener Schnee
mit dem „Tannhäuser“
in den Schlaf singen;
wäre es keine Farce,
ich hätte Gänsehaut.
Am nächsten Morgen
versaut sich Hitler zu slapstickig
die Schuhe,
einer davon landet sogar in der ersten Reihe,
endlich kann wieder herzlich gelacht werden,
immerhin sind ja auch daran
wieder mal die Juden Schuld.
Es folgt die berühmte Rasur.
Herzl legt all seine Liebe in den Akt,
heraus kommt der Hilterbart.
Hübscherweise aber
sieht Hitler zwischenzeitlich
Chaplin zum Verwechseln ähnlich.
Dann erst wird wieder gelacht:
Hitler hält den Spiegel
mit durchgestrecktem rechten Arm
und verspricht Schlomo
einen Ofen zum Dank.
Und ich frage mich:
Wo bleibt eigentlich Gretchen?
Doch bevor die endlich kommt,
gibt’s noch mehr Slapstick.
Im Streit tritt Hitler Schlomo zwischen die Beine,
viele finden das lustig.
Hitlers folgendem Monolog
lauscht Schlomo verängstigt
unter seiner Decke,
dann erst kann er Hitler zum Gehen bewegen.
Seinem eigenen, brilliant vorgetragenen Monolog
lauscht dann endlich doch Gretchen,
die sich dabei direkt bis auf das Unterhemd auszieht.
Und prompt wird das nächste Geheimnis gelüftet:
Das leise Hintergrundgackern
stellt sich als eine echte Henne heraus.
Tiere funktionieren immer.
Die dann folgende, spürbare Befangenheit,
als Gretchen Schlomo ihr Hymen schenkt,
drückt sich vor allem
durch das gehäufte Verlassen des Saals aus;
die erste Stunde ist lange vorbei.
Gerade als Schlomo
mit frisch geschnittenen Fußnägeln
an Gretchens Brust beginnen will zu weinen,
kommt Hitler hereingestürmt
und hat einen hypochondrischen Nervenzusammenbruch.
Das vermehrte Lachen
kann nur noch eine Übersprungshandlung sein,
die Unruhe legt sich nicht mehr,
eine Pause ist überfällig.
Doch das Ensemble
kennt weder Furcht noch Gnade.
Der Dialog über das Weinen
ist grandios gut gesprochen,
die Wortspielnadel auf Anschlag.
Gelacht wird dabei wieder über Hitler,
weil der eine „Tiroler Schwuchtel“ ist.
Und dann folgt der vorläufige Höhepunkt:
Während der Magd-Parabel über die Liebe
will Schlomo Hitler gar die Füße waschen,
und Gretchen kann nicht anders als ihn zu küssen.
Pause.
Fast alle verlassen den Saal,
viele mit einem leuchtenden Display in der Hand.
In einer der vorderen Reihen
unterhält sich ein Best Ager-Kollege
mit einer Abiturientin
so auffällig, dass an den Rändern getuschelt wird.
Dort fragt eine Kollegin
ihre Schüler*innen auch auffällig laut,
ob sie denn bis jetzt alles verstanden hätten.
Eine wirkliche Antwort bekommt sie nicht.
Ein älteres Paar vor mir fragt,
ob die Schüler*innen denn vorbereitet gewesen seien,
im Foyer hätten sie gehört,
dass das wohl nicht der Fall gewesen wäre.
Ich kann zum Glück für meinen Teil nicken.
Der Applaus zum Beginn des zweiten Teils
klingt zu sehr nach angenervtem Hohn,
bilde ich mir jedenfalls ein.
Dann aber passiert etwas,
das so wohl wirklich
nur im Theater funktionieren kann:
Die Tod tritt auf.
Und zwar in Gestalt von Julia Siebenschuh,
die dem Gevatter
mit einer fast atemberaubenden Präsenz
so viel Raum verschafft,
dass es sogar mal kurz
wirklich richtig leise ist.
So kommt auch bei den letzten an,
um wessen Kampf
es hier eigentlich geht.
Denn Schlomo gelingt es,
sogar den Tod zu bequatschen,
vor lauter Liebe für ein Ungetüm.
Das sitzt währendessen aber auf dem Klo
und es gibt Lachen über Pipi-Kacka.
Immerhin steigert sich Hitler
in seiner Überheblichkeit sogar dabei noch.
Der Dialog über
die Wiener Nekrophilie
als schlichten Realismus
im Angesicht der modernen Weltlage
geht im Anschluss leider zu sehr
in Hitlers Verschissenheit unter.
Die Tod aber hat Hitlers Talent erkannt.
Deswegen betritt er die nächste Szene
auch schon in Uniform.
Und jetzt nimmt das Stück
dann auch so richtig Fahrt auf.
Hitler feuert ein Beleidigungstourette ab,
das auch die letzten auf Kurs bringt.
Beim Streit um Schlomos Buch
übergießt er Gretchen dabei sogar mit seiner eigenen Scheiße,
erste Schnappatmungen im Publikum.
Die Schlachtung von Mitzi, der echten Henne,
wird über einen Videoeinspieler realisiert,
dessen Ekelhaftigkeit und Länge
niemanden kalt lässt.
Die sich aufdrängende Analogie
müsste allen klar geworden sein;
Bildung auf drastisch;
ich bin positiv vom Mut der Inszenierung überrascht,
schließlich ist das hier nicht die Volksbühne Berlin.
Das muss dann auch die Stelle gewesen sein,
bei der es bei der Premiere
zum empörten Saalverlassen gekommen sein muss,
habe ich jedenfalls gehört.
Aber mit der Grosteske nicht genug:
Zu Game Boy-Musik
jagt Hitler Schlomo
durchs Asylheim in der Blutgasse,
so lange,
bis der Tod wiederkehrt
und Hitler mitnimmt,
in eine verheißungsvolle Zukunft,
am Beginn einer „wunderbaren Freundschaft“.
Als Schlomo die Henne bestatten will,
kommt Lobkowitz zurück,
und während sich meine Nackenhaare aufstellen,
bei der Frage: „Gott, wo bist du gewesen?“,
hat Lobkowitz den besten Witz des Morgens auf Lager:
Er betrachtet die tote Henne
und bemerkt lapidar:
„Hier riecht es wie im Wienerwald.“
Endlich kann Schlomo weinen.
Das Licht verschwindet.
– Der Beifall ist zunächst aufrichtig und wohlgemeint.
Die erwartbare theaterpädagogische Katastrophe allerdings
bleibt nicht aus:
Hitler kriegt den lautesten Applaus.
Meine Verzweiflung schwindet erst,
als sich wenigstens unsere Reihe
genau darüber aufregt.
Zum Ende dieses Versuches
einer Rezensionsfarce
bin ich hin und hergerissen.
Zwischen ehrlicher Hochachtung
vor der Inszenierung
und Zweifeln über seine Wirkung;
also nur
der ewige Kampf
um das Gute und Schöne.
In diesem Sinne
noch ein letztes Mal:
Kein Verriss!
Sondern Beifall.

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