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New Circus (S11:Midseason Review) (Teil 1)

von | 2024 | 25. Oktober | Berliner Kurzgeschichten, Die Kurzgeschichten, Staffel 11 - If We Hold On ...

oder: Nebensächliche Beobachtungen eines Provinzlehrers
während einer Klassenfahrt ins vollherbstliche Berlin

 

„I, I can remember
standing by the wall
and the guns shot above our heads.
And we kissed
as though nothing could fall.
And the shame
was on the other side.
Oh we can beat them,
for ever and ever.
Then we could be Heroes,
just for one day.“

(David Bowie. 1977)

 

 

Teil 1 – Rose Quartz Hero Squad

 

Montag

Die Klassenfahrt, Gruppenfahrt, Exkursion, Bildungsreise beginnt in immer voller werdenden Zügen. Der Provinzlehrer spielt mit dem Gedanken, eine Geschichte zu schreiben, die sich erneut des Wolfsmotivs bedient, doch das Rudel ist sich noch zu uneins, um das verdient zu haben. Stattdessen steht eine Woche Orientierungslauf in der „Post Car World“ auf dem Programm; der Besuch des New Circus-Stücks „Wolf“ ist außerdem auch zu teuer für die Klassenkasse, es reicht nur für die Komödie am Ku’Damm, die auf den Potsdamer Platz umgezogen ist. Abernicht mal über den jüngsten Charité-Skandal schreibt der Provinzlehrer aka Brillenträger nichts, obwohl die ihm zugespielten Geheim-Memos, die an die komplette Belegschaft der Prestige-Klinik geschickt worden waren, einfach zu haarsträubend sind. Stattdessen beginnt er eine Geschichte zu schreiben, in der das frisch gekürte Jugendwort des Jahres („Aura“) in seinen Plus- und Minusvarianten seine Rollen spielen soll, aber auch die bricht er schnell wieder ab; „Schere“, „wie Teenager heute so sagen…“
Statt all dessen verlegt er sich auf’s einfache Dokumentieren von kleinen Nebensächlichkeiten (man soll das machen, was man kann), denn für „große Kunst“ lässt sein Beruf ihm in den nächsten Tagen wenig, wenn auch nicht keine Zeit, und das ist sehr gut so, wegen sehr vielen Gründen: Auf dem Bahnsteig am Alexanderplatz werden sie von einem aufgeregten Star begrüßt, der aufgeregt zwischen ihnen hin und her fliegt, bis sie sich für eine der Treppen abwärts entschieden haben. Unten, im Schatten des Fernsehturms, ziehen Zeugen Jehovas ihre Rollwagen müde über den Alex, ein einzelner Kiffer hält gerade genug Abstand zu den Trampolinen, auf denen ziemlich alte Kinder hüpfen. – In Kreuzberg läuft der Kita-Betrieb in der Regenbogenfabrik noch auf Hochtouren, als sie ihre Rollkoffer durch den Hofeingang ziehen, erschrecken die Damen an der Rezeption. – An der East Side Gallery, am frühen Abend, joggt ein Mann an ihnen vorbei, er trägt einen Pizzakarton und knabbert, im Laufen, am vorletzten Stück. – Gegen neun Uhr passieren sie den Rio-Reiser-Platz, die Laternen beleuchten das Namensschild, außer dem Brillenträger und seiner Kollegin weiß niemand mehr, wer das mal war; die Kreuzung wirkt unheimlich friedlich; Montag Abend, willkommen in Kreuzberg. – Am Paul-Linke-Ufer suchen zwei junge Frauen nach einem „Homeless Guy“, der ihre Tasche gestohlen haben soll, der Brillenträger und seine Kollegin zucken mit den Schultern, schauen noch eine Weile dem Vorübertreiben von Geistern der Vergangenheit zu, und gehen dann zurück in die Regenbogenfabrik, die Kinder müssen ins Bett. Es dauert nicht länger als erwartet, bevor sich die Aufregung des ersten Tages gelegt hat; die Nachttemperaturen sind erfreulich mild, eine dünne Decke reicht.

 

Dienstag

Morgens um Sieben werden nördlich des Kanals eher weniger Rüben und anderes Gemüse vor die Ladeneingänge gelegt, vor dem Späti an der Ecke sitzen zwei Menschen, die restlichen Stühle stehen noch zusammengeklappt an der Linde, der Filterkaffee ist stark. – Vorne auf der Skalitzer bläst ein einsamer Laubbläser Laub, die Kippe im Mundwinkel ist frisch angezündet. – In der U3, die eigentlich die U1 sein sollte, herrscht gegen Neun reichlich Gequetsche, es reicht nur für den absoluten Mindestabstand. Der Brillenträger übt sich ein in die komplexe Gruppenkommunikation beim komplexen Umsteigen an komplexen Metropolbahnhöfen; das Rudel hört ganz gut. – An der Bernauer Straße droht der Rummel zum Zirkus zu werden: Übertrieben viele (Real-)Schulabschlussklassen von überall laufen und stehen sich auf und zu beiden Seiten des ehemaligen Todesstreifens durch die Hauptstadt die Füße wund. Dem Brillenträger fällt auf einer Bank goldgelbes Lindenlaub in den offenen Rucksack. – Auf dem neuesten Schrei der linksintellektuellen Jutebeutel-Fangemeinde (aka ernsthafte Dussmann-Kunden) stehen wie selbstversttändlich fünf Namen, verbunden durch fünf selbstverständliche Ampersands:
„Adorno&
Horkheimer&
Marcuse&
Habermas&
Honneth.“
Kurz bevor sich der Brillenträger an der Kasseschlange anstellt, denkt er kurz über eine Kurzgeschichte nach, nur ein ganz kurzes, theoretisches, kritisches Fuck You an den Literaturzirkus: A Story on How to Fuck my Publisher in the Future: Einfach das Gesamtmanuskript behalten, dem Verlag dann erst „freie Hand geben“, dann später dessen Handling öffentlich relativ scheiße finden (vorher aber gerne noch den oder die eine oder den oder anderen Preis/Listenplatznominierung ablehnen) und so, de facto, die Rechte am Text behalten, um ihn dann danach wieder in Gänze und als „Director’s Cut“ (und unter dem richtigen Namen („#DieDoppeltenZwanziger“)) online stellen, weil vorher „unter falschem Namen („Die_Doppelten_20er“) verkauft. Ergo: Selfmade Legend; just not my academy, not just for one day. – Im Tränenpalast checken Jungs, die sich für was besseres als Talahons und/oder Nazis halten wollen/sollen, die Mädchen aus, die ihrerseits die Ausstellung auschecken, oder Auschecken, wie die anderen irgendwas auschecken. Nur der Hauptstadtangestellte an der Rezeption hat kurz mal das Auschecken eingestellt; Fotos seines Kurznickerchens fluten das kostenlose W-Lan, die Freiheit unter den grauen Wolken vor den großen Fenstern muss grenzenlos sein. – Von den Dächern der ehemaligen Überwachungsanlage des Westens, auf dem Berliner Teufelsberg, im Westen der Stadt, kann das Rudel bis an den östlichen Rand von Berlin schauen. Der Bunthaarige jagt mit der Kamera den Schatten eines Fuchses im dichter werdenden Gebüsch rund um die Ruinen des Zweiten Weltkriegs, die der Teufelsberg nun mal sind. – Der letzte Rat an die stellvertretende Alpharüdin vom Alpharüden und der Alpharüdin beim hoffentlich nicht letzten Abschied am Kottbusser Tor: „Im Licht bleiben! Keine dunklen Ecken, keine Seitenstraßen oder Back Alleys.“ Das Rudel ist später mit absolut tolerierbarer Verspätung zurück und gut drauf.

 

Mittwoch

Die Berliner Morgenpost verkündet: Keine Klassenfahrten! Wegen Haushaltsstopp! Ein Brandbrief wird veröffentlicht: „Unsere Kinder haben ein Recht auf Bildung, auch außerhalb der Schule. Klassenfahrten sind kein Luxusgut, sondern Bildungsreisen, die den Horizont erweitern, Wissen stärken und das soziale Lernen sowie die ganz persönliche Entwicklung unserer Kinder stärken.“ Der Provinzlehrer stellt den Kaffee vom Späti an der Ecke auf einen der Holztische auf dem Hof und wischt das Laub zum anderen Laub auf der Erde; in einer halben Stunde kommt das Rudel zum Frühstück. – „Ich hab Abitur, Mann! Abitur!“, der junge Mann auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig am Görlitzer Bahnhof ist um kurz nach Neun auf Hochtouren: „Abitur, Mann! Zwei, Komma, Null! Was hast Du?“ Die Männer von den Stadtbetrieben setzen ihre Arbeit ungestört fort, von jungen Männern mit Abitur lassen sie sich um diese Uhrzeit besonders gerne mal was sagen. Das Rudel schämt sich aufrichtig, der junge Mann mit Abitur (Zwei! Komma!! Null!!!) wird zum Running Gag der nächsten Tage, jedes Mal, wenn wieder irgendwer denkt, auf einem Bahnsteig herablassenden oder anmaßenden Rabbatz machen zu müssen, oder premature Abschlussklassenpullis zu tragen. – Auf der Karl Liebknecht Allee, dicht vor dem Illuseum, in dem das Rudel gerade spielt, sonnt sich ein Rollstuhlfahrer auf dem breiten Gehweg, und der Brillenträger fotografiert das Hauptstadtbild. – Das Rudel tollt gelassen durch seine erste gemeinsame Ausstellung: „Träum Weiter! Die 90er in Berlin. Fotoschule Ostkreuz; „Beste“, wie der andere Brillenträger schreibt, während der Provinzlehrer vor einem Foto verharrt, auf dem an einer Wand in einem Jugendzimmer das gleiche Poster hängt, das auch an der Wand in seinem Jugendzimmer hing, vor 30 Jahren (2Pac Graffiti, aus der Bravo). – In der S3 schmettert ein Bariton „Time to Say Goodbye“, vermutlich auch chilenisch oder rumänisch, diese zeitlose Melodie des Abschieds erkennen alle sofort. – Die Komödie am Ku’Damm im Theater am Potsdamer Platz (offizieller Name während des Heimspiels des westlichen Humors) wartet mit „Das Perfekte Geheimnis“ auf, der Applaus ist großflächig dünner als es die Höflichkeit gebietet; kein Rudel der Welt kriegt die Welt durch peinliche Parodien auf ihre Eltern erklärt. Der Brillenträger nickt zufrieden, als die stellvertretende Alpharüdin zum frühstmöglichen Zeitpunkt das Ende der Vorstellung anklatscht. Es ging um den „Fluch der Handys“, aber eigentlich auch bloß wieder um Adulterie. Der Bunthaarige and Friends wundern sich darüber, dass sich der Brillenträger darüber wundert, dass sie Queen und Bowie erkannt haben, was ihn dann auch schlagartig doch nicht mehr wundert. Zurück unter der Erde, lässt der Provinzlerher das Rudel das erste Mal kurz aus dem Blick, wie buchstäblich alle im Waggon schaut er kurz mal auf sein Handy: „Es passt wirklich alles zusammen. In den kommenden Jahren würden wir Social Media gut brauchen können, denn wenn ein Land nach dem anderen und vielleicht sogar das wichtigste Land der Welt autoritär bis faschistisch wird, wäre es sehr wichtig, wenn auf Facebook & Co schnell Alarm geschlagen wird, sobald staatlich sanktioniertes Unrecht geschieht. Es wäre lebenswichtig, wenn sich die, die nicht begeistert mitlaufen, austauschen und einander informieren könnten. Aber Social Media wird gerade zerstört. Einerseits von Eigentümern wie Elon Musk, dem „Free Speech Absolutist“, der sich Zensurforderungen autoritärer Regierungen allzu bereitwillig beugt und selber ein Faschist ist. Andererseits durch KI. Immer mehr wird Social Media mit KI-Bildchen geflutet. Das könnte ein harmloser Spaß sein, wären wir nicht zu unkritisch und zu ungebildet, um KI als KI zu erkennen. Und ja, das wird immer schwerer werden, je besser die KI-Programme werden. Was ist das Problem daran? Dasselbe, was auch das Problem mit rechtsextremer Demagogie ist: Die Zerstörung der Realität. Wenn wir nicht mehr wissen, was real ist, verlieren wir nicht nur die Basis demokratischer Kommunikation, sondern auch unsere historischen Bezugspunkte sowie unser Unrechtsbewusstsein. Das ist manchmal, wie in Fällen staatlicher oder privatpolitischer Akteure, Absicht und manchmal ist es nur Business (der Überhand nehmende Clickbait-Scheiß mit KI generierten Bildchen zB). Die Wirkung ist dieselbe, das dreifache D: Desorientierung, Desensibilisierung, Destabilisierung.“ (Bernhard Torsch) – Am Görlitzer Bahnhof huscht das Rudel die Treppen nach unten, orientiert, sensibilisiert und stabil bleiben sie dabei im Licht.

 

 

to be continued …

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