Teil 1 – Berlin breeze
Als die Temperaturen wieder stiegen, die vorerst letzten Worte zum Schuljahresende ausgetauscht waren und ein „Bis bald“ nach dem anderen gesagt war, spürte der Brillenträger einen angenehmen Wind auf dem Bahnsteig. Seinen Rucksack, der noch neben ihm stand, hatte er gestern schon gepackt, er war voll, aber nicht zu schwer. Oft würde er ihn auch nicht tragen müssen, nur beim Umsteigen in Magdeburg, denn der andere Brillenträger wollte ihn vom Ostbahnhof abholen.
Die folgenden knapp drei Stunden versteckte er seine Nase hinter einem schwarzen Multifunktionstuch in den Büchern, die ihn das stumpfe Vergehen von Zeit vergessen ließen. In Annie Erneaux‘ „Erinnerung eines Mädchens“ las er vom schweren Prozess des Erinnerns, von dessen Tücken und schwarzen Löchern. Beim dunklen „Gaza“ von Joe Sacco kam er nicht mehr weit, denn vor den Fenstern sah er schon keine branden-burgischen Kiefernwälder mehr und wusste den Wannsee hinter den Bäumen, deren Blätter rascheln mussten, so deutlich konnte er ihre Bewegung im Wind durch die große Scheibe erkennen. Er verstaute die Bücher wieder und suchte noch ein paar Momente die Verbindung, die zwischen ihm und allem da draußen bestand. Die älteste von allen. Auch wenn er seit seinem dritten Lebensjahr Exilberliner ist: Man kriegt den Jungen zwar aus der Stadt, aber die Stadt nicht aus dem Jungen. Es existiert ein Foto, auf dem der Brillenträger 25 Jahre nach seiner Geburt vor dem Torbogen der Klinik in Friedrichshain steht, nachdem er dahinter seinen eigenen Eintrag im Archiv gesehen hatte. Die Idee hatte seine Mutter gehabt; ein Geburtstagsgeschenk.
Seine Kamera hatte der Brillenträger heute morgen bewusst zurückgelassen. Die kommenden Momente wollte er nur erleben, und er konnte sich darauf verlassen, zur Not Bilder zu bekommen: Wo Menschen sich treffen, werden Bilder gemacht, die Augenblicke festgehalten; wer weiß denn schon, wie oft wir das noch erleben?
Der Sommerwind auf dem Bahnsteig am Ostkreuz war noch zugiger als am Harzrand. Aber bei bald 30°C eine Wohltat, im Zug war es stickig. Beim Schultern des Rucksacks atmete der Brillenträger tief durch: Leute wiedersehen, neue Leute kennenlernen.
Achtsamkeit bedeutet, seine Introvertiertheit abzulegen, bedeutet zum Wind zu werden, der alles gleichsam streift, oder zu Mitchells „Atem im Nacken“ des anderen. Die Perspektive des Windes einzunehmen war eine schöne Idee, nur leider nicht sehr neu, aber der Brillenträger hatte eine Möglichkeit gefunden, von den Menschen zu erzählen, die er treffen würde, ohne ihnen zu nahe zu kommen oder ihnen unangenehm zu werden. Ein Teil seines Gedächtnisses schmolz also in die Luft und vermischte sich mit dem Berliner Sommerwind.
Was für ein Segen doch Tische sind.
Im fünften Stock steht das Fenster weit offen, der Wind trifft als erstes auf den alten Küchentisch, auf dem zwei Flaschen, ein Feuerzeug und eine Schachtel Zigaretten liegen. Vieles mehr davon und noch andere Dinge wird der Sommerwind in den nächsten Tagen immer wieder streifen, einer Flasche vielleicht einen leisen Ton entlocken oder einer Feuerzeugflamme die Luft rauben.
„Also, wegen Hannah morgen, ne!?“ Der Gastgeber plant noch lieber und ein bisschen neurotischer als der Gast.
„Ja, brauchen wir da irgend eine Reservierung?“
„Ach, bestimmt nicht.“
„Es ist Samstag?“
„Und? Also der andere Schlaue kommt vorher her, und dann nehmen wir den Berlkönig zur Museumsinsel. Und morgens geh‘n wir schön zum Boxi einkaufen, Kühlschrank is noch leer.“
„Der Berlkönig? Is‘ das nen schwarzes Taxi? So wie das Kokstaxi, nur ohne Koks?“
„Nee, die sind von der BVG, um die Bahnen zu entlasten, und billiger als ein Taxi, meistens.“
„Berlkönig … ja, is‘ lustig.“
Die Gastgeberin kommt mit der Dämmerung, Überstunden. Für zwölf Stunden Charité sieht sie blendend aus. Und ist hungrig. So sitzen sie und die Brillenträger wenig später im Kurhaus K. und lassen es sich schmecken. Trotz der Brise, die vom Boxhagener Platz vorbeizieht, ist es stiller als sonst, immer noch, die Wochenendtouristen fehlen, die Clubs haben geschlossen, die Restaurants und Kneipen sind … „Ich weiß auch nicht, wo die ganzen Leute auf einmal herkommen!“ Der Oberkellner ist hin und hergerissen zwischen Stress und Freude. Der Laden ist voll. Also zumindest an den Außentischen stehen sogar Leute an und warten geduldig.
Die Dunkelheit hat begonnen und am Küchentisch sitzen sie bis nach Mitternacht, aber wissen, dass sie den Schlaf noch vermissen werden, egal wie leicht und einfach und gut das Wiedersehen ist. Mitsamt den Rauchschwaden zieht es den Wind durch das immer noch weit geöffnete Fenster. Alle drei hoffen, nicht zu viele Mücken angelockt zu haben.
Teil 2 – Straight outta Boxi
Schon vor dem Mittag war es warm, selbst im Schatten der Bäume des Boxhagener Platzes. Jeder erneute Windzug wurde von jedem gespürt, hoffentlich bliebe das so, hoffentlich war es noch nicht der letzte, hoffentlich würde die Hitze nicht zu bald zu drückend. Der Wochenendmarkt war vergrößert worden, die Stände nicht so eingeengt. Besonders die Blumenstände konnten diesen Umstand ins Schöne verkehren, wie kleine Gärten reihten sie sich zwischen Käse, Gemüse, Fleisch und Fisch, Kosmetik, Haushaltswaren, Sommer-bekleidung, Kaffee, Wein, Schmuck und Handwerkskunst ein.
Nach einer knappen halben Stunde hatten sie beinah alles zusammen, und während die Gastgeber die letzten Kartoffeln aussuchten, stand der Brillenträger erneut beim Fisch. „Hi, ich würd‘ gern das zurückgelegte Paket von den beiden Netten vorhin abholen, wir sind soweit fertig.“ Der Händler warf einen beiläufigen Blick über die Theke: „Ach ja, was hatten die nochmal? Heringe?“
Haha. „Nee, Lachs.“
„Ach ja, und da war doch noch wer dabei, oder?“
„Hm, der hatte ne Brille auf, ne?“
„Ja?!“
„Das war ich.“
Der Händler lächelte: „War schon bezahlt, wa?“
„Genau.“
Ganz so leicht fühlten sich die Taschen im Treppenhaus nicht mehr an, aber die abendliche Party war vorbereitet. Den Kaffee auf dem Markt hatten sie ausgelassen und holten ihn jetzt nach, als der andere Schlaue eintraf. Er und der Brillenträger kannten sich seit dem Studium, aber über erahntes Wissen über den anderen waren sie bis heute nie hinausgekommen. Wenn man andere Universitätsstädte nur zum Partymachen besuchte, waren die Gespräche in den neuen Freundeskreisen eben eher so Partygespräche. Ansonsten wussten sie einiges über den anderen durch den anderen Brillenträger. Schulfreund des einen und Studienfreund des anderen.
Alle drei also schlau wie nur was, warteten sie wie hingestellt und nicht abgeholt auf den Berlkönig. Nach drei Typen, die mit Masken in einem schwarzen Coupé sitzen, hätten sich vor kurzer Zeit noch alle Streifenpolizisten drei mal umgesehen, aber heute fühlte sich das nicht mal annähernd gangsta an. Alle Fenster waren geöffnet, der Wind drang nicht an ihre Nasen.
„Ob wir in der Ausstellung auch Maske tragen müssen?“
„Ich hoffe nicht.“
„Ach, und wenn! Ich zitiere: Haben sich diese Masken nicht in Andere Gesichter verwandelt, ohne irgendeine Geschichte oder eine Herkunft, welche diese Masken erst hervorgebracht haben, eher als das Verschwinden eines Gesichtes, denn als das Erscheinen aller Gesichter, die nicht in Bilder verwandelt werden können?“
Sogar der Fahrer musste die Augen verdreht haben. Die anderen beiden schüttelten nur ironisch mit dem Kopf. Dann hielt der Berlkönig, und sie standen an der Spree.
„Und falls es doch nichts wird mit Hannah, dann gehen wir eben zu Attila.“
Die anderen schüttelten wieder mit dem Kopf, diesmal nicht ironisch. Bevor sie den richtigen Eingang zum Deutschen Historischen Museum gefunden hatten, ließen sie sich auf den nächsten Kaffee nieder. Aus Hannover traf per SMS ein weiterer erleuchtender Kommentar zum Ausstellungsbesuch der drei Schlauen ein: „Ihr geht zu Hannah? Heideggers Bi-a-tch!“ Diesmal verdrehten alle drei die Augen. Halbironisch.
Es kam wie es kommen sollte und kurze Zeit später waren sich alle einig, noch nie so nett und zugewandt darüber informiert worden zu sein, irgendwo in Berlin nicht reinkommen zu können. „Die kann gar nicht aus Berlin sein!“
„Oder der Wind hier hat sich endlich mal gedreht!“ Die Dame hatte alles versucht, Anrufe, andere Terminvorschläge, nichts zu machen, sie hätten online Tickets gebraucht. Wenn ein Schlauer sich auf einen anderen Schlauen verlässt und ein dritter Schlauer den anderen beiden einen Grundrest an Mitdenken zutraut, dann stehen eben drei davon wieder auf der Museumsinsel rum und haben unendlich viel Zeit bis zum Abend.
Teil 3 – Die unerträgliche Leichtigkeit des Berliner Abendwindes im ersten Sommer der doppelten Zwanziger
„Stellt euch mal die Luft vor, als die Nazis hier die Bücher verbrannt haben. Dreckig, schwer und heiß.“
„Und unverzeihlich.“
Nach zu langem Suchen standen die drei Schlauen endlich um das Mahnmal auf dem „richtigen“ Bebelplatz. Jeder stellte fest, dass er zum ersten Mal hier war. Der Wind wehte aus Richtung der Juristischen Fakultät (also Westen) durch ihre Beine hindurch, als sie nach unten durch die Scheibe, die mitten in den Boden des Platzes eingelassen ist, blickten.
Ein quadratischer Raum von geschätzt vier Metern im Kubik war bis unter die Decke (also dem Boden, auf dem sie standen) vollgestellt mit großen, gähnend leeren Buchregalen. Sofort waren alle tief beeindruckt. Umstehenden Touristen erklärte der andere Brillen-träger begeistert die Bedeutung.
Bevor sie die Museumsinsel noch einmal in Richtung Auguststraße überquerten, drehte sich der Brillenträger um. Nichts war von hier aus auf dem Platz zu sehen, kein materieller Widerstand stoppte den Wind, keine Flamme konnte von ihm genährt werden. Ein gutes Mahnmal.
Eine Ausstellung wollten sie dann aber wenigstens gemeinsam besucht haben. Und so war die Wahl auf Hassan Sharif im KW Institute for Contemporary Art gefallen (ein Tipp von der Gastgeberin, die in Friedrichshain über ihrer Steuererklärung saß). Der Brillenträger nahm sich bereits in diesem Moment vor, später nicht über eine Kunstaustellung zu schreiben, aus Gründen.
Danach hatten sie es erstaunlich leicht, einen Platz vor Clärchens Ballhaus zu bekommen. Und da der Innenbereich leer war, konnte der Wind, ohne Schweiß, Parfüm und Endor-phine riechen zu können, hindurchwehen. Und als er wieder zurückkam, konnte er den anderen Brillenträger mit gedrückter Stimme sagen hören: „Kannst Dir ja vorstellen, was hier sonst abends los ist, wa? Alles rammelvoll.“
Der andere Schlaue und der Brillenträger nickten stumm und dachten vielleicht jeder für sich an heute Abend, doch da konnte der Wind sich nicht sicher sein. Ruckartig setzte er seinen Weg fort, über die Straße; die Tische auf der anderen Seite waren noch unbesetzt. Also kehrte er ganz einfach wieder um, und entschied sich, bei den drei Schlauen zu verweilen, die schienen an diesem Samstag noch eine Weile wach bleiben zu wollen. Die Namen, die genannt worden, von all den Leuten, die heute Abend im Boxi und später am Küchentisch sein würden, konnte er sich nicht merken, also schnappte er nur nach den ersten Buchstaben. T. T. T. Y. S. S. I. V. M. M. H. J. A. M. N. D. D. G. Beim Wolkenscrabble mit den anderen Winden würde er damit weit kommen.
Als er also wusste, wann und wo er eine Nachgeburtstagssause erleben würde, konnte er sich noch in aller Ruhe umziehen, um später als Abendwind zu rauschen.
Wie viele noch hier auf den Wiesen saßen, oder zwischen den Bäumen, oder, wie die kleine Meute um den anderen Brillenträger herum, am Rande des trockenen Beckens, und sonst wahrscheinlich in ganz ähnlichen Konstellationen in einem der unzähligen Berliner Clubs gewesen wären, wusste der Abendwind nicht, als er den Boxhagener Platz mit der ihm eigenen Leichtigkeit erreichte. Mit dieser streifte er jeden einzelnen, kühlte die warme Haut, die er erreichte. Seit Wochen schon genoss er diese Samstagabende. Endlich waren die schönen Leute draußen, und nicht in diesen stickigen Clubs, in die er nie rein wollte oder durfte. Der Wind konnte bis vor kurzem die Gesichter der Partypeople in Berlin so selten umwehen, jetzt streifte er genüsslich über die nackten Arme und Beine, durch die Gesichter und Haare. Er sprang von einem Nacken zum nächsten, verglich die Gerüche und sammelte sie ein, um sie von einem zum anderen durch die einsetzende Dunkelheit zu tragen. Immer wieder kehrte er zum Becken zurück, zu T und M, dann zu D und D, die als letztes gekommen waren, weiter zu Y, S, T und T, die bereits tief ins Gespräch vertieft waren, sie schienen sich gut zu kennen. Die beiden Brillenträger von vorhin waren auch da. Beide hatten alles im Blick. Der eine, weil er das Geburtstagskind war, der andere, weil er die wenigsten Leute kannte, und das sich gerade änderte. Kurze Gespräche, nichts wirklich wichtiges, leicht und unbeschwert, mal mit dem, mal mit jemand anderem. Eine Einstimmung auf den Küchentisch, an dem dann nur noch die Hälfte der Gruppe Platz finden würde.
Die Laternen waren inzwischen erloschen. Auch der Boxi war in den vergangenen Wochen schon geräumt worden. Aber heute war von Polizisten weit und breit nichts zu spüren, die Dunkelheit sollte die Menschen in ihre Häuser treiben, auch wenn es der laue Abendwind nicht erlauben wollte. Noch vor vielen anderen beschloss die Nachgeburtstagsrunde aufzubrechen, die Getränke waren fast alle, und einige verabschiedeten sich bereits wieder.
„Natürlich ist das Leben kein warmer Sommerabend!“
Diesen Satz vernahm der Abendwind in jedem Kopf der Menschen, die alle Platz um den oder am Küchentisch gefunden hatten. Aber niemand sprach ihn aus. Alle redeten mit ihren Nachbarn oder hörten den Gesprächen der anderen zu, nippten an ihrem Getränk, schenkten nach, suchten ein Feuerzeug oder etwas anderes. Wie immer bei solchen Gelegenheiten wurde sich viel erinnert. Was Best Ager so machen, wenn sie nicht im Club sind. Über die Welt sprach niemand, über die Zeit nur in der Rückschau, und von der Zukunft wollten sie nichts wissen, weil sie nie ungewisser war. Also zog der Abendwind beständig umher, wehte kurz aus dem Fenster, um frische Luft zu holen und suchte sich erneut seinen Weg über, unter und um den Küchentisch herum.
Kurz vor der Dämmerung, blieb er kurz in den Haaren des Brillenträgers hängen. Er erspürte seine Gedanken, denn er sprach gerade nicht. In der letzten halben Stunde hatte er dem anderen Schlauen zugehört, auch die Gastgeberin war ganz Ohr gewesen. Wie an jedem anderen auch, war auch am Schlauen der Lockdown der letzten Monate nicht ohne Folgen vorüber gegangen, als der Wind einsam durch die leeren Straßen des abendlichen Berlins gezogen war. Und er erzählte ohne Scheu und Scham. Dankbar sahen sich die drei an. Ehrlichkeit und Offenheit, wie sie nur kurz vor Sonnenaufgang möglich ist.
Der Brillenträger hing diesem Eindruck noch schweigend nach, als der Abendwind ihn beim nächsten Gedanken ereilte. Dachte der Brillenträger wirklich darüber nach, dass er doch diese unerträglich schöne Stelle aus Lotzers „Begrabt mein Herz am Heinrichsplatz“ stehlen könnte? Die in der Paul das erste Mal aus Kreuzberg rüberfährt, nach Mitte, im Frühling vor 30 Jahren. Der Abendwind raubte ihm diesen Gedanken schnell und machte ihn so zu einem verwehten Zitat: „Sie reden über sich, über die Liebe, über ihre Vergangenheit, (über die Zukunft). Über ihre Ängste, ihre Träume, aber nur selten drehen sich ihre Gespräche um die politischen Entwicklungen. Vor allem aber erfreut sich (der Abendwind) daran, dass hier jeder von sich selbst erzählt. Sich preisgibt mit seinen Schwächen und Unsicherheiten, sich nicht versteckt hinter Phrasen und Positionierungen. Absurderweise wirken alle dadurch zugleich verletzlicher als auch selbstsicherer.“
Der Brillenträger hatte dem anderen Brillenträger schon früh angekündigt, dass er gerne einfach so von Partys verschwindet. „ ‘N Polschen machen, heißt bei den Polen übrigens ‘n Engländer machen. Alles jut. Mach wie de denkst,“ hatte der nur darauf geantwortet. Und obwohl noch ein „Ost-West“ Gespräch angekündigt war, war der Brillenträger müde genug, bei Sonnenaufgang einfach so über den Flur in sein Gästebett zu gehen. Der Abschied von den anderen war kurz und leicht und schmerzlos. „Mach die Türen lieber zu, glaub mir“, rief ihm der andere Brillenträger noch hinterher.
Bei weit geöffnetem Fenster lag er im Bett und las bis ihm die Augen zufielen. Er bemerkte noch, dass in den Erinnerugen von Annie Erneaux alle Figuren nur mit den Anfangs-buchstaben ihrer Vornamen bezeichnet waren.
„In welchem Modus – tragisch, poetisch, romantisch oder sogar humoristisch, was so schwer nicht wäre, soll ich erzählen?“
Der Abendwind nahm diesen Satz mit in den Morgen, als er aus den Haaren des einschlafenden Brillenträgers in die Nacht zog.
Teil 4 – Easy
„I’m not happy when I try to fake it!
No!
Ooh, that’s why I am easy.
I’m easy like sunday morning.“
Mauerpark. Sonntag Mittag. Auf den ersten Blick war alles wie immer. Der Brillenträger legte sich auf eine kleine Mauer schräg gegenüber des Amphitheaters. Eine Band hatte gerade ihr Set begonnen: Schlagzeug, Gitarre, Bass und ein Drumkit aus Alltagsbehältern, keine Mikros, kein Gesang. Sie waren gut, sie passten. Schnell sammelten sich Menschen, einer tanzte sogar exaltiert auf einem Stein, viele wippten mit den Füßen oder den Hüften, niemand hatte ein Handy in der Hand. Es war warm, der Staub blieb aber noch auf den Pfaden der Wiese liegen und vor dem Flohmarkt hatte sich eine beachtlich lange Schlange gebildet. Hier zu liegen konnte ihn nur an einen der vielen Festivalsonntage der letzten beiden Jahrzehnte erinnern, die Luft roch ähnlich, die Leute sahen ähnlich aus, die Musik klang ähnlich; nur war alles viel gedämpfter, weniger und leichter irgendwie. Und irgendwie unbeschreiblich.
Gerade wollte der Brillenträger diesen Moment behutsam verstauen als einen, den er nicht erlebt hat, um später darüber schreiben zu können, als einige Polizisten sich anschickten, das kleine Konzert zu beenden. Niemand protestierte wirklich, die Musiker packten ihre Sachen zusammen und die Umstehenden gingen wieder ihrer Wege. Ob er wohl noch einmal etwas von ihnen hören würde? Er wusste keinen Namen, hatte die Band auch nicht gesehen. Aber es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass er von Musikern, die im Mauerpark ihre ersten Auftritte hatten, später noch mal hören würde. Flüchtigkeit heißt nicht Vergehen. Der Wind, der ihn im Vorbeiziehen wiedererkannte, lächelte wissend.
Vor einer Stunde hatte der Brillenträger Friedrichshain verlassen, die letzten Gäste waren gegen Mittag gegangen und die Gastgeber freuten sich auf den kommenden, wohlver-dienten Mittagsschlaf. Zum Abendbrot hatten sie sich für das Dong Xuan Center in Lichtenberg verabredet, denn sie würden hungrig sein. Da er wusste, dass er morgen noch eine ziemlich ausführliche Stadtrundfahrt bekommen würde, entschied er sich nun für den Klassiker: Alex.
Auch hier war alles wie immer, nur weniger. Weniger Menschen, weniger Lärm, weniger Polizei, weniger als sonst. Manchmal dachte er, ob die Menschen wohl Abschied nähmen von all dem hier: Von Freizeit, die man mit Konsum verbringt. Konsum von Lebens- und Genussmitteln, Konsum von Kulturangeboten, Konsum von Fitnessangeboten, oder einfach Öffenlichkeit. Auf alles davon hatten sie in den letzten Monaten verzichten müssen, und trotzdem hatte sich scheinenbar so wenig geändert.
Als er die Bank unter den Bäumen südöstlich vom Fernsehturm gefunden hatte, auf der er schon mehr als einmal gesessen und nachgedacht hatte, versuchte er sich zu ärgern, keinen Notizblock mitzuhaben. Um diese Beobachtung festzuhalten, um sie später mit schlauen Kommentaren über Postwachstumsökonomie verknüpfen zu können, über ein Leben „danach“. Nach der Auflösung, nach der Neuausrichtung, wenn die neue Normalität Wirklichkeit geworden wäre. Aber es gelang ihm nicht. Auch er gab sich dieser leichten Wehmut hin, dass das alles hier im nächsten Jahr noch ganz anders und noch viel weniger sein könnte, sein würde, sein wird, und spazierte in Richtung Karl-Marx-Allee davon. Der Wind hatte nachgelassen, war nur noch selten zu spüren, und die Sonne wärmte, wie sie es immer tut.
Auch im Dong Xuan Center war wenig Betrieb, gut, es war Sonntag Abend. Aber selbst die Restaurants waren nur halb gefüllt. Eine gute Stunde waren sie durch die Markthallen geschlendert, die wie immer übervoll waren mit allem. Unmengen an Kleidung, Technik, Plastespielzeug und Lebensmittel. Sollte der Kapitalismus wirklich über Nacht zusammenbrechen, dann würde ganz Berlin mindestens eine Woche durchhalten. Das Essen war wie versprochen fantastisch und zu üppig, der Eiskaffee eine ausgemachte Wohltat. Den Rest ließen sie sich einpacken.
Es war immer noch warm genug, sodass eine kleine Abkühlung das nächste Ziel war. Gegenüber der Insel der Jugend, in Alt-Stralau, mit Blick auf den Treptower Park und die Spree entlang bis hinein zum Fernsehturm, mit den nackten Füßen im Wasser, sinnierten sie noch eine Weile über gute Orte zum Leben, gute Orte zum Wohnen, gute Orte zum Arbeiten und gute Orte zum Glücklichsein. Die Auswahl war riesig, die Welt immer noch weit. Dem Brillenträger fiel auf, dass an diesem Wochenende das Alter von irgendwem in den vielen Gesprächen nie eine Rolle gespielt hatte. Vor Jahren noch hatte er gedacht, dass demnächst 40 werden irgendwie stressiger wäre. Aber vielleicht war es nur der Sommerwind, der ihnen diese Gedanken für ein paar Tage abgenommen hatte. Keine Nachrichten, kein Vergehen der Zeit, keine Unsicherheit, keine Angst.
Zum zweiten Abendbrot einigten sie sich dann wenigstens auf ein bisschen Sozialkritik, der andere Brillenträger hatte die letzte Folge der Anstalt zum Thema Rassismus noch nicht gesehen. Sie hielten fast alle tapfer durch, aber die Leichtigkeit der Tage verwandelte sich zunehmend in die Sehnsucht nach wohligem Schlaf, und außerdem waren sich bei dem Thema eh alle einig.
Kurz vorm Schlafengehen dann das erste Mal etwas aus den aktuellen Nachrichten. Der andere Brillenträger erkundigte sich, ob er schon von den riesigen Fortschritten bei der Impfstoffentwicklung gehört hätte. Das hatte er. Beide nickten sich zu, vielleicht würde alles ja bald wieder viel leichter. Oder wieder schwerer, das konnte noch niemand sagen.
Teil 5 – Was vom Tage übrig blieb
„Solange man in dieser Welt lebt,
lebt man in ihr
d.h. mit seinen Freunden
und nicht eigentlich
mit sich selbst.“
(Hannah Arendt)
Der Montag begann windstill, aber warm genug. Das Auto hatten sie in der Nähe des Museums abgestellt, zwischen zwei Baustellen. Da sie zu früh waren (beim zweiten Versuch sollte nichts dem Zufall überlassen bleiben), schlurften sie durch die eindrucksvollen Säulen der Museumsinsel zur Spree. Hier am Westufer bot sich ihnen ein doppelt verwirrender Anblick: Der Säulengang verläuft parallel zum Fluß und teilte sich vor ihnen in zwei Gänge auf. Rechts fand offensichtlich ein Wirtschaftsmeeting mit Getränken und Häppchen statt, links war eine Yogagruppe gerade ganz eins mit ihren Körpern. Nichts an dieser Konstellation passte zum anderen, aber doch schien es für alle zu funktionieren. Der andere Brillenträger fotografierte beide Szenen, vielleicht würden sie sich irgendwann später darauf einen Reim machen können.
Da der Brillenträger immer noch keinen Titel, bzw. Untertitel für seine nächste Kurzgeschichte gefunden hatte, war er gespannt, was sich das Deutsche Historische Museum hatte einfallen lassen zur Theoretikerin der Banalität des Bösen. Die Antwort war erleichternd nüchtern: eine gute Ausstellung. Thematisch ausgeglichen, was schwer ist, will man das Leben, Werk und Jahrhundert einer Denkerin ausstellen. Was gibt es da schon auszustellen? Außer Texten und ein paar persönlichen Gegenständen? Das Lesen passte gut zum Montag. Die beiden Brillenträger übertrieben es trotzdem nicht, und trafen sich nach einer guten Stunde wieder im Foyer. Da es ihr letzter gemeinsamer Tag war, schienen sie eher an Gemeinsamkeit als an Geistesgeschichte interessiert. Langsam mussten sie sich wie Flaneure vorgekommen sein, die noch vor Mittag den nächsten Kaffee im Sitzen trinken konnten.
Dieses Mal saßen sie kurz gegenüber des Dorotheenstädtischen Friedhofs in Mitte, auf dem sie sich dann auch umschauten. Brecht und Weigel. Klaus Bonhoeffer. Eisler. Fichte. Geschonnek. Heartfield. Heinrich Mann. Heiner Müller. Elizabeth Shaw. George Tabori. Zweig. … Nur Hegel konnten sie nicht finden, obwohl auf Marcuses Grabstein als einziges weiteres Wort „Weitermachen!“ steht. Keine Pointe.
Sie hatten sich für den späteren Nachmittag mit Y verabredet. Sie wollten ihn in seiner Werkstatt besuchen, die etwas abgelegener in Friedrichsfelde liegt. Aber da ja Montag war, wollte Y noch bis zum Feierabend arbeiten. Es folgte also die angekündigte Stadtrundfahrt. Der andere Brillenträger erklärte natürlich nur die interessanten Dinge, und so konnten sie sich der nicht wegzudiskutierenden Schönheit von Wilmersdorf und Charlottenburg hingeben: Zum Durchfahren hübsch, aber hier leben? Nein, danke. Neu-Kölln sieht da schon einladender aus, besonders Rixdorf, dem Brandenburg in Berlin. Mit Blick auf das Tempelhofer Feld, auf dem (Montag) absolut nichts los war, aßen sie nur eine Suppe. Am Nebentisch genossen ein paar Freunde, die anscheinend auch so etwas wie Kollegen zu sein schienen (Politische Kunst?) ihren vermeintlichen Feierabend. Sie hatten ein großes, dreidimensionales Kreisdiagramm dabei, eine Requisite. Ein roter Halbkreis und ein grüner Viertelkreis. Eine Wahlprognose für 2021? Gut, das war tatsächlich lustig. Über ein halbes Lachen kamen aber beide Brillenträger nicht hinaus.
Die Werkstatt von Y ist eigentlich nicht nur eine Werkstatt, sondern in einem riesigen Gebäude eine von vielen. So gut wie alle Handwerke scheinen hier ansässig. Selbständige in einem solidarischen Verband, die sich mit jeder Form von gegenseitiger Hilfe unterstützen. Unter Freunden sind die Wege eben sehr kurz.
Y führte die beiden doppelten Linkshänder herum. Überall roch es nach Arbeit, aber von Hektik keine Spur. Möbelbau. Holzspäne, Schraubzwingen, der Geruch von Leim und Stoff. Y sah doppelt stolz aus, und das konnte er sein. Wenn sie noch etwas zusammen getrunken hätten, würde er nach Hause fahren, zu seiner Familie, seinem halbjährigen Sohn, von dem er bei jeder sich bietenden Gelegenheit wie beifällig sprach, um nicht zu sehr zeigen zu müssen, wie sehr er in ihn verliebt war. Die Brillenträger hatten das natürlich schon lange vor ihm erkannt und freuten sich so mit der angemessenen Zurückhaltung.
Zurück in Friedrichshain stand wenig später endlich der Lachs auf dem Tisch. Dass die Gastgeber einen Teil ihres Herzens an Japan verloren hatten (und das in keiner Sekunde bereuten), merkte man an den Beilagen. Es schmeckte so gut, dass für einige Minuten niemand sprach. Der Brillenträger zerkaute den Fisch wie die Erinnerungen an die letzten Tage: Er bemerkte, wie die Inhalte der Gespräche schon zu verblassen begannen, und nur noch die Situationen und Emotionen übrigblieben, die Essenzen der Zeit. Er bemerkte auch, wie er bereits begann auszusortieren, zu vergessen. Etwas, das ihm immer leichter fiel; erst Recht nachdem er irgendwo gelesen hatte, dass das ein Zeichen für ein gesundes Gedächtnis ist. Natürlich ist das Gehirn ein Sieb. Wie dicht die Maschen sind, darauf kommt es an. Welche Momente sind so dicht und groß, damit sie hängenbleiben? Wie viele streiten um einen Platz und zermahlen die anderen so lange zwischen sich, bis sie durchrieseln? Der Brillenträger kaute auf seinen letzten, gebratenen Nudeln und schluckte, während auf dem Laptop vor ihnen Anthony Hopkins damit beschäftigt war, zwischen Pflicht und Liebe, Pflicht und Familie und Pflicht und Moral alles zu verpassen, das eine gute Erinnerung hätte werden können. Freunde, und Zeit mit ihnen, zum Beispiel.
Re-brise – switchin‘ bubbles
Wer mag schon Abschiede? Sie bedeuten, dass man von einem Moment zum anderen wieder allein mit seinen Gedanken an die anderen ist, die man gerade verlassen hat. Das Erlebte wird zu einer Erzählung, die von nun an wieder nur der eigenen Stimme folgt und sich unaufhörlich an den Wänden der eigenen Echokammer bricht.
Der Brillenträger wusste sich aber zu helfen und fand in Kreuzberg seinen Lieblings-comicladen, wodurch er im Zug in die nächste Bubble einsteigen konnte. Ironischerweise fand er zwischen den ganzen anderen Superhelden auch einen Band über Noam Chomsky, mit dem Titel „Das Bedürfnis nach Kooperation“. Viel passender ging es in diesem Moment nicht mehr.
Die beiden Brillenträger verabschiedeten sich noch ein paar Mal per Handy, Fotos wurden ausgetauscht, kurze Anspielungen auf die letzten Tage. Abschiede sind ja irgendwie keine richtigen Abschiede mehr. Sie bedeuten nur, dass man für eine unbestimmte Zeit auf Fotos und Worte beschränkt bleibt. Wenn man sich überlegt, dass es noch keine 50 Jahre her ist, als diese Möglichkeit zwar bereits existierte, aber eben nicht in Echtzeit, nicht gleichzeitig.
Bevor der Brillenträger in den Zug Richtung Magdeburg stieg, brachte ihm der Wind noch eine Erinnerung, und im Zug schlug er ein weiteres Mal Annie Ernaux‘ Erinnerungen auf, die Seite mit dem Eselsohr:
„Seltsam, wie tröstlich dieser Gedanke im Rückblick ist, wie er die Erinnerung beruhigt, die Einsamkeit und Vereinzelung durchbricht, indem er Parallelen zieht – wahre oder eingebildete – zwischen dem, was man selbst erlebt hat, und dem, was andere zur selben Zeit erlebt haben.“
Kurz vor Quedlinburg machte sich der Brillenträger doch noch eine Notiz:
Unbedingt dran denken,
das Denkmal,
dass mit der Kurzgeschichte gesetzt wird,
zum Abschluss
noch am Sockel
mit einem Graffiti zu beschmieren.
So was wie:
Und jeder Vollidiot weiß,
dass das die Liebe versaut!
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