Das nächste Zusammentreffen im Fachwerkpalast war für einen Freitag geplant worden, noch nicht Freitag der 13., denn der nächste sollte erst im nächsten Monat folgen. Der letzte, im März, war allen noch in lebhafter Erinnerung, aber immerhin.
Der Brillenträger war ausnahmsweise froh, die Woche mal nicht mit Lesen, Internet und frühem Zubettgehen beenden zu können. Dazu würden sie alle bald wieder viele Gelegenheiten bekommen. Das letzte Mal hatten sie in dieser Runde einige Wochen nach dem Ende der Kontaktbeschränkungen im Frühsommer einen Abend gemeinsam verbracht, und seit der letzten Woche schwang in den Nachrichten die Ahnung mit, dass dieses Mal auch schon wieder das letzte vor dem Anfang der nächsten Kontakt-beschränkungen sein würde. Der Brillenträger versuchte, wie die meisten, diese Ahnung zumindest für einen Abend mal auszublenden. Seine Fiebertexte* über die Welt, unsere Zeit, ihren Schmerz und seine Schultern wollte und musste er erst in einigen Tagen fortsetzen; Chili macht sich nicht von selbst, und ein Pokerspiel kann auch mal acht Stunden dauern, besonders wenn es viel zu erzählen und eine Menge Karten aufzudecken gibt.
Und so schaffte er es gerade noch so, den Tisch aufzubauen, im Bad durchzuwischen und den Herd anzumachen, bevor die anderen in sehr kurzen Abständen zu vereinbarter Zeit klingelten.
„Hallo?“
„Excuse me? Sag mal, was ist denn hier überall los? Mach auf, das sind mir hier zu viele Leute. Die haben sogar alle Masken auf.“
„Also keine Touris?“
„Anscheinend nicht. Mach auf jetzt!“
„Ach ja, sorry.“
Der Sonnenbrillenträger, der T-Shirtträger und das Almänchen polterten vorsichtig die schweren Holztreppen nach oben.
„Sind die etwa immer noch da?“, fragte der Brillenträger die allesamt in dicke Jacken eingepackten Gäste.
„Ja. Was sind das für Leute? Filmen die schon wieder irgendwas hier?“ Das Almänchen gab sich mal wieder ahnungslos.
„Na was denn sonst? Aber was?! Das ist doch die Frage!“
„Kommt doch erst mal rein, können wir drinnen klären.“ Anscheinend hatte es sich doch noch nicht in der ganzen Stadt herumgesprochen, obwohl es inzwischen sogar schon in den lokalen Zeitungen die Runde gemacht hatte.
Kaum hatten sich die meisten ihre Schuhe ausgezogen und einen Platz für ihre Jacken gefunden, klingelte es erneut. Das Almänchen rief aus der Küche: „Wer kommt denn heute noch? Wer neues?“
„Wirst du gleich sehen!“
Der Neuling meldete sich mit einem nüchternen „Ich bin‘s“ an der Gegensprechanlage und ließ sich im Treppenhaus nicht mehr Zeit als nötig. Aber noch ehe er den letzten Absatz erreicht hatte, klingelte es erneut. Im Rahmen der Wohnungstür drehte sich der Brillenträger um, die anderen sahen ihn fragend an. Er nahm den Hörer erneut: „Hallo?“
„Ja, Bedenkenträger hier. Hab mich kurzfristig doch entschieden zu kommen. Ist noch Platz am Tisch?“ Der Brillenträger überlegte kurz, schaute noch ein mal kurz zum Sonnenbrillenträger, der nach einigem Zögern resigniert nickte, und sagte dann: „Klar, komm hoch.“
„Wer is‘ es denn nu noch?“ Der T-Shirtträger hatte den Flaschenöffner in der Hand und suchte anscheinend die passende Flasche dazu. „Der Mützenträger?“
„Nee, aber der kommt bestimmt auch gleich noch. Dann sind wir schon komplett. Wollen wir erst essen, oder gleich anfangen?“
„Anfangen; das Gequatsche kriegen wir schon noch unter heute.“ Grinsend setzte sich das Almänchen an den Tisch und begann die Chips zu verteilen, während der Neuling alle begrüßte und sich zielsicher den Platz neben dem Kopfende sicherte, worauf es ein letztes Mal klingelte.
„Hallo? … Ja, los, die anderen warten schon.“
Der Mützenträger ließ sich jetzt natürlich erst recht Zeit, auch beim Ablegen und Begrüßen. „Und eine rauch‘ ich noch!“
Auf dem Balkon vergnügten sie sich noch kurz, in dem sie dem Almänchen die besten Lügenmärchen über die geheimnisvolle Filmproduktion auftischten, worauf es aber nicht hereinfiel. „Jetzt sagt schon, ich hab grad keine Lust, das zu googeln.“
„Nee, pass auf, wir machen das so: Du vermutest einfach mal drauf los, und wir sagen Dir, wie nah du dran bist.“
„Na toll. Also, die Härte wäre irgendwas großes. Keine Ahnung, 90 Millionen Budget, Netflix, sowas.“ Die anderen schauten ihn weiter erwartungsvoll an. „Aber wahrscheinlich ist es irgendwas ganz schlimm peinliches. Irgendwas, wozu irgendwelche zugekoksten Marktstrategen vier Wochen Brainstorming gemacht haben. Und was Netflix dann trotzdem abgelehnt hat, weswegen es jetzt von RTL übernommen wurde. Vielleicht irgendwas mit Zombies, das klappt immer, denken die. Und einen Star braucht man natürlich auch. Am besten ne internationale Riege, und als deutschen Topdog, gleichzeitig als Produzent, Regisseur und Hauptdarsteller dann natürlich Matthias Schweighöfer. Das wäre richtig, richtig schlimm. Und? Wie nah bin ich dran?“
Alle lachten, nur der Bedenkenträger schüttelte den Kopf.
Der Mützenträger reagierte allerdings ungewöhnlich: „Ey, du bist so bescheuert, Alter, keine Ahnung warum ich immer wieder drauf reinfalle.“ Und dabei lächelte er nicht ironisch oder prostete anerkennend. „Bedenkenträger, was sagst Du denn dazu?“
„Ist das jetzt mein Spitzname, ja?“
Der Abend schien eben noch lustig begonnen zu haben, jetzt mussten sie zunächst die Kurve zurück zum Spiel kriegen, aber der Bedenkenträger forderte zumindest für einige Minuten noch sein Recht: „Man, hunderte Filmwerker aus der Tschechei und der Schweighöfer, samt Tross, trollen hier drei Tage die Touris. Lustig. In Paris ist seit gestern sechs Wochen lang Ausgangssperre ab 21 Uhr. Merkt ihr was?“
„Na ja, solange du dich noch raustraust, kann es ja hier auch noch halbwegs normal weitergehen.“
„Stimmt. Aber bitte, Schweighöfer dreht Zombiefilm in Quedlinburg im Herbst 2020. Die Filmstudenten in 50 Jahren werden sich nur noch fragen können, ob das ein schlechter Witz sein sollte.“
„Hey, das hab ich euch ja auch noch gar nicht erzählt!“ Der Brillenträger versuchte panisch das Thema zu wechseln. „Jetzt packt die schwarzen Spiegel mal schnell wieder weg. Hier spielt die Musik. Ich hab nämlich neue Karten!“
„Aha, also mal keine gezinkten?“
Diese Bemerkung ignorierte er schlicht und präsentierte sein neues Set.
Die anderen kommentierten pflichtbewusst: „Wow, Trump ist das Pik Ass? Wie sinnig.“
„Ok, John Oliver ist das Kreuz Ass. Das könnte schon mal spannend werden.“
„Und Böhmermann ist die Herz Dame?“ Das erste Lächeln erschien wieder um die verhärteten Mundwinkel des Mützenträgers. „Ja, und bei Karo gibt‘s auch was zu lachen, hier: Höcke, Hildmann, Merz und als Ass? Na? Richtig, Dieter Nuhr.“
Der Sonnenbrillenträger schien auch wieder spielen zu wollen: „Jetzt verrat doch nicht gleich alles, wird doch noch lustiger, wenn das erst beim Spiel rauskommt.“
Darauf konnten sich alle einigen.
„Ich glaub, ich hol mir aber doch noch schnell was zu essen.“
„Ja, ich auch.“
„Ok, aber dann können wir endlich mit unserer vorgezogenen Wahlniederlagenparty anfangen?“
Der Neuling schaute verwundert, und das Almänchen öffnete bereits das zweite Bier: „Du meinst also immer noch, der Frisurensohn verliert?“
Der Brillenträger lächelte so, dass der Neuling es als vielsagend interpretierte:
„Spielen wir es doch aus. Die Karten lügen nie.“
„So, keine Handys am Tisch, wisst ihr Bescheid.“ Der Neuling kam der Aufforderung sofort nach, nicht ohne zu schauen, ob sich die anderen auch dran halten würden. Der Brillenträger war der erste am Dealerbutton: „Und damit keiner nen Grund hat, das Ding doch wieder rauszuholen: Ja, n Flush is‘ höher als ne Straße.“
„Sicher? Ich guck lieber noch mal schnell.“
„Ok, aber kein Doomscrolling, ja?“
„Pardon?“ Der Sonnenbrillenträger, der seine Sonnenbrille heute zu Hause gelassen hatte, sah die anderen verständnislos an: „Was soll das denn schon wieder sein?“
„Alter, das kenn‘ sogar ich!“, lachte das Almänchen. „Ganz gemeine Sache das, vor allem wenn man harte is‘. Also bimmelharte!“
Diese Ausdrucksweise kannten anscheinend noch nicht alle, einige lachten. „Ja, das is ja noch keiner hier, und vielleicht kriegen wir das auch mal hin, dass das so bleibt?“
Ungefähr die Hälfte der Anwesenden nickte kaum merklich, und über das Gesicht des Neulings huschte ein skeptisches Lächeln, als der Brillenträger die Regeln des Abends anscheinend zum wiederholten Male wiederholte. Nachdem der Flop für alle sichtbar war und jeder umständlich unter seine je eigenen Karten geblinzelt hatte, setzte das Almänchen zunächst seine Erläuterung fort: „Also Doomscrolling, ne? Wie genau soll ich das erklären?“
„Bitte für digitale Anfänger.“
„Ok, kennste Dr. Doom?“
„Klar, wer nich? Der Antagonist der Fantastischen Vier.“
Der Neuling sah eine Gelegenheit am Gespräch teilzunehmen: „Den Beatles?“
„Quatsch! Benjamin Grimm, Susan und Reed Richards, Johnny Storm.“
Stoisches Kopfnicken beim Sonnenbrillenträger, der T-Shirtträger versicherte sich noch kurz: „Ja, is klar. Marvel, ja?“
„Ja. Aber wir waren bei Dr. Doom. Dessen krasse Kräfte sind, unter anderen: Technopathy, Telekinese, Telepathie, Energieabsorption, Teleportation, Projektion und Zauberei.“
„Also Psionics?“
Das Almänchen meldete sich: „Äh, sorry? Könnt ihr mal bitte aus eurem Nerdsprech wieder zurück zum Thema finden?“ Der Mützenträger applaudierte ironisch. „Gut. Hätten wir das. Krasseste Gedankenmanipulation also. Dass Doom auch Weltuntergang heißt, is so weit auch klar, und jetzt, für digitale Anfänger: Scrolling ist das, was inzwischen mehr Menschen beim Lesen machen als dass sie Seiten umblättern.“ Der Sonnenbrillträger holte tief Luft, atmete langsam aus und sagte: „Ach so, ja kenn ich. Und das sollen wir also nicht machen heute? Aber wenn mir wer wichtiges schreibt, dann darf ich schon mal schauen, ja?“
„Ja, mal schauen.“
Und so spielten sie bis kurz vor Mitternacht. Die Welt würde auch ohne ihre Beobachtung untergehen. Sie sprachen lieber über sich. Der Brillenträger unterdrückte den Drang, sich Notizen zu machen. Darüber wie sich die letzten Monate auf alle ausgewirkt hatten, was sich verändert hatte, und er versuchte auch nicht daran zu denken, was die nächsten Monate mit ihnen machen würden. Kleine Unterschiede waren bereits auszumachen, in den Wörtern selbst, die eines nach dem anderen ihre Bedeutung dem neuen Jahrzehnt anpassten. Andere hingegen waren verschwunden, hatten sich verkleidet oder waren bis zur Unkenntlichkeit geschminkt worden. In die Gesichter der Spieler hatten sich die Sorgen und Unsicherheiten noch nicht eingegraben, auch wenn an einigen Stellen schon genügend Platz in den Falten gewesen wäre. Falten, die andere Sorgen hinterlassen hatten, oder Falten, die Zeichen für den Humor waren, mit denen man das alles ertragen hatte. Nur der Mützenträger schien heute genau diesen verloren zu haben. Alle sahen ihm an, dass er müde war, zu müde, um morgens noch schwungvoll aus dem Bett kommen zu können, zu müde, sich um etwas anderes als sich selbst sorgen zu können, zu müde von sich selbst. Aber egal wie viel Bier er trank, nie war er müde genug, das Spiel einfach aufzugeben. Und so sprach er über illusorische Pläne, Orte, die ihm Arbeit und einen Neuanfang verhießen, vom nächsten Jahr, wenn alles anders sein würde. So wirklich sprach der Mützenträger dabei aber nur mit dem Bedenkenträger.
Dieser war nämlich sehr bald als erstes ausgeschieden, sein Paar aus Karo König (Friedrich Merz) und Kreuz König (Angela Merkel) musste sich einem 3er Drilling des T-Shirtträgers geschlagen geben. Und so konnte er sich abwechselnd mit dem Mützenträger und dem Neuling unterhalten, die deswegen nie wirklich ins Spiel fanden.
Der Brillenträger hatte einige Hände gewonnen, am besten hatte ihm die Herz-Straße gefallen, 9, 10, Kobe Bryant als Buben, dem blassen dünnen Jungen als Dame und Alexandria Ocasio-Cortez als Königin. Er hoffte, vielleicht später am Abend, noch etwas ähnliches mit der Herz-Ass Karte zu erreichen, denn die war die schönste im ganzen Spiel. In diesem Moment glaubte er sein Handy summen zu hören. Da er nicht mehr der erste gewesen wäre, der gegen die Tischregeln verstoßen hatte, und er sowieso gerade keine guten Karten zu bekommen schien, stand er auf und holte es aus dem Bücherregal. Erst zog sich sein linker, dann schnell auch sein rechter Mundwinkel nach oben. Die Brillenträgerin, die ungern ihre Brille trägt, hatte geschrieben, ungewöhnlich zur Nachtstunde: „Hallo. Na, hoffe ihr habt Spaß. Hab gerade einige von deinen Texten lesen müssen 😉 Ganz schön fiebrig, was? Und als Abendlektüre ist das auch nicht wirklich was, vielleicht sollte man das lieber tagsüber lesen. Aber schön, dass Du Dein Herz für den Flattersatz entdeckt hast. Gute Nacht“. Er setzte auch die nächste Runde aus und schrieb eilig zurück: „Hey, nicht entdeckt, ich bin ganz sein. Ohne Dich wär ich wahrscheinlich nicht mal auf die Idee gekommen. Dir auch eine Gute Nacht“. Sollte er noch ein halbromantisches Emoji hinterhersenden? Die Brillenträgerin, die ihre Brille ungern trägt, hatte sich länger nicht auf diese Weise bei ihm gemeldet, also entschied er sich vorsichtshalber dagegen. Ihre Antwort kam einige Minuten später, da hatte er das Handy aber schon wieder zurückgelegt, und konnte sie so also erst spät in der Nacht lesen.
Jetzt sah er sein neues Blatt und den dazugehörigen Flop; auf dem Tisch lagen: Dieter Nuhr (Karo-Ass), Friedrich Merz (Karo-König) und schon wieder Jan Böhmermann (Herz-Dame). Er selbst hielt seine Lieblingskarte und auch Kobe Bryant (Herz-Bube) auf der Hand.
„So Freunde, ich sag‘s gleich, ich hab Trump und John Oliver, das sind dann schon mal drei Asse.“ Das Almänchen grinste, das erzählte er bereits den ganzen Abend. Die anderen ließen sich nichts anmerken, aber alle reagierten scheinbar gleich gelassen mit einem nüchternen „Call“, als der Sonnenbrillenträger das Spiel zu seinem Ende führte, denn alle verbliebenen hatten in etwa gleich viele Chips.
„All in.“
„Na dann, erheben sie sich mal, Gentlemen.“ Niemand zögerte lange, der Mützenträger fragte nach einer Zigarette. Der T-Shirtträger ermahnte ihn: „Aber dann mach das Fenster auf, ja?“
„Ja, mach ich doch.“ Die Luft war noch nicht weiter abgekühlt, aber alle spürten den leichten Herbstwind hereinströmen, der Brillenträger zwinkerte ihm heimlich zu, als dieser ihm über die Schulter in seine Karten schaute und zufrieden nickte. Er zog weiter, das Almänchen hatte nicht gelogen, verborgen in seiner hohlen Hand versuchte John Oliver neben Trump böse Miene zum guten Spiel zu machen, also wirklich drei Asse. Auch beim Sonnenbrillenträger sah es vielversprechend aus, er hielt den Pik König (Vladimir Putin) und die Karo 10, hatte also bereits ein hohes Pärchen. Der Herbstwind entschied sich als nächstes beim Neuling vorbeizuschauen. Die finstere Konstellation erkannte er erst nach einigen Momenten, denn der Neuling versteckte seine Karten gut: Bube und Dame, beides Pik (Bolsonaro und Erdogan). Auch hier also ein hohes Paar. Beim Mützenträger fand er nur Luschen (7 und 8), aber der schien ihm eh aussteigen zu wollen, und beim T-Shirtträger versteckten sich der Kreuz Bube (Simon Neil) und eine Herz 10. Kurz bevor der Herbstwind wieder in die Nacht verschwand, streifte er den Brillenträger zuversichtlich, und der schaute ihm kurz nach, am Himmel war das Sternbild des Schützen noch halb zu sehen.
„Na dann, wer dreht um?“
„Der Bedenkenträger vielleicht? Würdest Du uns die Ehre erweisen?“
„Aber gerne doch, wollt ihr gleich aufdecken?“
Das Almänchen knallte seine beiden Asse auf Dieter Nuhr. „So, Bazinga!“ Die anderen schüttelten lachend die Köpfe, aber noch sah niemand wirklich enttäuscht aus. Wortlos deckte der Neuling sein Blatt auf und einige zogen scharf die Luft ein, Putin und Erdogan lagen wie mit dem Lineal vermessen auf beiden Seiten von Böhmermann. „Ou, fieses Gefolge, aber noch führt Trump!“
„Noch!“ Der T-Shirtträger legte seine Straße aus, worauf der Mützenträger teilnahmslos aber schulterzuckend seine Luschen auf den Tisch warf: „Ich bin dann raus, ne?“
Als letztes deckte der Brillenträger auf.
„Aha, da ist sie ja! Die haben wir ja den ganzen Abend noch nicht gesehen!“ Der Sonnenbrillenträger schaute sich das Herz Ass näher an. „Echt, da ist sogar eine Göttin dabei? Eine römische auch noch? Respekt.“
„Ja, cool, oder? Und dann auch noch die! Ihr Gegenpart, Janus, kocht bestimmt vor Neid, dass er hier nicht dabei sein kann.“
Das Almänchen drängelte: „Trotzdem, bis jetzt hast Du nur ein Pärchen, ne? Und was für eins! Eine mytholgische Überfigur und …“, er schaute auf den Tisch, „ach ja, nen ehemaligen Lehramtsstudenten, der erfolglos versucht, im Ersten lustig zu sein. Glückwunsch. Da müssten jetzt schon noch zwei Herzen kommen, damit deine, wie heißt sie denn nun?, Göttin der Jagd und dein verunglückter Basketballheld mit meinen drei alten weißen Männern mithalten können.“
Der T-Shirtträger wurde kurz panisch: „Achtu, stimmt, das könnte noch ein Flush werden. Der ist doch besser als meine Straße, ja?“ Keiner antwortete und der Bedenkenträger zeigte allen, welche Karte auf dem Turn lag.
„Yes!“ Der Sonnenbrillenträger ballte sanft die Faust. Alexandria Ocasio-Cortez, die Herz Königin machte aus seinem Paar jetzt einen Drilling. Der T-Shirtträger schaute nur verständnislos auf seine Straße: „Was denn, eure Karten können mir gar nichts. Wenn jetzt nicht Angela Merkel auf dem River kommt, dann bringt dir das nicht viel.“
„Aber ein tolles Matchup, das musst du schon zugeben.“
„Abwarten“, sagte der Brillenträger betont leise und nickte dem Bedenkenträger zu. Der machte es, wie immer, noch spannender als nötig, aber hielt die Spannung auch nicht lange aus. Herz 7. Tatsächlich. Der T-Shirtträger fluchte nur oberflächlich: „Glückwunsch, tolle Karten.“
„Danke.“
„Und wie heißt die denn nu?“ Das Almänchen hatte sich wieder gesetzt.
„Diana. Göttin und Beschützerin der Frauen und Mädchen, der Jagd, des Feuers und des Mondes. Abgeleitet von „taghell leuchtend“, schön oder?“
„Hör auf, ich weine gleich!“
„Mach ruhig. Ich geh jetzt erst mal auf den Balkon, mal schauen, wo der Mond heute steht.“
„Ja, wäre toll, ne? Wenn das alles nur ein Kartenspiel wäre.“
„Und wenn der Einsatz halt nur ein paar Euro wären, und nicht gleich Millionen und Abermillionen von Menschenleben.“
Auf dem Balkon und in der Küche hatten sich alle einen Sitzplatz gesucht. Das Gespräch dauerte noch fast zwei Stunden an. Das gemeinsame sich Gedanken machen, auch wenn es noch so spät und irgendwie unnütz war, half ihnen dabei, heute etwas leichter in den Schlaf zu finden, was zumindest beim Mützenträger kein größeres Problem werden sollte, der war kurz nach Spielende schon das erste Mal kurz auf seinem Stuhl eingenickt. Doch jetzt stand er mitten unter ihnen und holte zusammen mit dem Bedenkenträger und dem Neuling noch einmal alles raus. Ihr erfolgloses Abschneiden beim Spiel verstärkte ihren Frust nur noch. Wie ungerecht und unfair das doch alles inzwischen sei, wie unverhältnismäßig, und das solle nicht heißen, dass sie nicht jedes Menschenleben gleich wertvoll finden würden, aber …
„Stop. Jeder von euch drei Boris Palmern hört jetzt einfach mal auf hier rumzunörgeln. Wir sind hier heute auch, um das bevorstehende Ende der Herrschaft des Frisurensohns anzufeiern.“ Der Sonnenbrillenträger hob an, davon zu reden, wie viel besser alles werden würde, natürlich erst nach diesem schlimmsten Winter seit dem letzten Weltkrieg. Wie sich der Sieg der Demokraten auf die ganze Welt auswirken werde, ein gesellschaftliches Antivirus sozusagen, die Vernunft werde zurückschlagen, sobald der König der Lüge, wie auch immer, vom Thron gestoßen sei. Der Brillenträger gab jedoch zu bedenken, dass der Frisurensohn nicht einfach verlieren würde, das ganze könnte noch viel schlimmer kommen.
„Ja, das kannst Du ja dann in deinen missmutigen Interneteskapaden erzählen. Aber jetzt stoßen wir erst mal an. Schritt für Schritt, ne?“
Der Neuling wagte sich zu dieser späten Stunde doch noch ein mal aus der Deckung: „Nee, aber mal ehrlich. Das mit der Herdenimmunität, da ist doch was dran. Egal, ob Trump das jetzt auch befürwortet.“
„Ja, Scheiße ist da dran. Deswegen befürwortet der das ja auch, was anderes bleibt ihm nicht mehr. Aber mit Rechnen hat er es ja noch nie so gehabt, oder aber er denkt, Verluste ließen sich irgendwie abschreiben. Die Staaten sind noch lange nicht bei 10% und es sind schon eine Viertel Million Menschen gestorben. Mindestens. Dazu kommt jetzt noch der Winter. Also mit Ansage gut zwei Millionen Menschen über die Klinge springen lassen, und sich dabei nicht mal im Ansatz die Hände schmutzig machen, denn es sind ja Freunde, Verwandte, Kollegen, die die anderen anstecken; ja, das sieht ganz nach dem puren Trumpismus aus.“
Kurzes, wütendes Schweigen machte sich breit. Der Neuling wackelte noch ein bisschen mit dem Kopf, sagte aber nichts mehr. Also versuchte sich der Brillenträger weiter im Konjunktiv, um zumindest noch einen weiteren Versuch einer utopischen Rettung der Welt anzubringen, der ihm selbst aber schon bedauernswert naiv vorkam: „Schade. Erinnert ihr euch noch an die Memes aus dem Frühling? Die mit den Menschen in Betten, auf Couchen, im Wald, auf dem Rad? Das Zeitalter der Couchpotatoes hatte doch schon begonnen. Wo ist das alles hin? Was wäre denn, wenn wirklich irgendwann Historiker oder so auf diese Jahre zurückschauen würden und denken: Wahnsinn, was die Menschen aus diesem Drecksjahr noch gemacht haben. Einfach mal so in nicht mal 18 Monaten 6 bis 7 Millionen Menschenleben gerettet. Mit nichts machen, nur mit durchhalten und weitermachen. Ein bisschen Verzicht hier und da, Atemmasken im Freien. Das war‘s schon. Und wie sie dann ab 2022 wieder auf Festivals rumgelungert sind, mit historischen Sprüchen auf ihren Shirts: „Friedensnobelpreis 2022 – Couchpotato“.
„Genau, wenn wir schon alles andere nicht hinkriegen, Umweltschutz, Gerechtigkeit und Gewaltlosigkeit, dann doch wenigstens das. Auf meinem Shirt würde stehen: „Time Person of the Year“, über einem Bild von einer Kartoffel auf einer Couch.“ Das Almänchen spielte sich künstlich auf: „Excuse me? Dann wäre auf meinem aber „Immun(?)“ zu lesen.“
Den anderen wollten keine besseren T-Shirtsprüche einfallen, und sowieso waren sie aus dem Alter dann doch schon raus.
„Also, hat noch jemand einen Toast?“
„Is‘ dir schon wieder schlecht?“
„Almänchen, lass es einfach.“
Der Sonnenbrillenträger sah den Brillenträger an, beide schüttelten kaum merklich den Kopf, nur der Neuling registrierte die Geste aufmerksam. Der T-Shirtträger verkündete, er freue sich schon auf die Couch, er würde heute nicht mehr nach Hause fahren.
Die anderen hatten es nicht weit und machten sich bald auf den Weg. Die Abschiede waren herzlich und zuversichtlich, das Spiel würde weitergehen, irgendwann, auf das Kopfsteinpflaster fiel seit Stunden schon kein Regen mehr.
Der Brillenträger schloss die Haustür und lief die Treppen schon beinah nach oben. Im Fachwerkpalast waren fast alle Lampen schon erloschen, der T-Shirtträger befand sich bereits in der Waagerechten. Keine Sekunde musste er überlegen, dann hatte der Brillenträger sein Handy gefunden. „Dann mal gute Nacht. Frühstück um 10?“ Ein ausgestreckter Daumen lugte unter der Decke auf der Couch empor: „Gute Nacht.“
Die letzte Zigarette (die sich der Brillenträger übrigens aus Hermann Kants Aula von Robert Iswall gestohlen hatte, aber dazu an anderer Stelle vielleicht mehr) rauchte er am Schlafzimmerfenster. Kein Doomscrolling mehr heute, nur ein mal schauen, ob sie vielleicht doch noch geschrieben hatte, und das hatte sie. Sein Lächeln beim Betrachten der Sterne auf seinem schwarzen Spiegel war ihm inzwischen zu vertraut, um nicht bedeutsam zu sein und er schaute auf. Am Himmel war der Schütze jetzt ganz zu sehen. Irgendwo.
*Diese Bezeichnung verdanke ich Tobias Peuke.
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