An diesem Abend klingelte es zum ersten Mal um sieben. Der Brillenträger war mit allem pünktlich fertig geworden, was auch daran gelegen hatte, dass es nicht viel vorzubereiten gab, denn im Grunde war außer des Spiels alles Nebensache. Fast genau ein Jahr war es her, dass sie in dieser Runde zusammengekommen waren. Einige Male hatten sie schon Anlauf genommen, aber für mindestens einen war der vorgeschlagene Termin immer mehr als unpassend. Im Sommer kam gar die Frage auf, ob man sich denn überhaupt nochmal gegenseitig das Geld aus der Tasche ziehen würde, oder ob Pokern einfach mal wieder out war. Umso erfreuter waren heute alle, dass es doch wieder weiterging. Das Kochen sollte sich der Brillenträger sparen, in Quedlinburg war an diesem Wochenende Street Food Festival. Er aber hatte den anderen viel Vergnügen gewünscht und lieber den Fachwerkpalast auf Vordermann gebracht; als Gastgeber galt es, einen guten Ruf nicht zu verlieren. Deswegen lag auch der Soundtrack für den Abend ordentlich gestapelt auf der Anlage, und das erste Album für heute lief bereits:
„Start up my motor
Eat, drink, some burgers and cola
Feed my addictions and vices
Oh how my iPhone entices
My echo chamber media
Reurgitated trivia
Here For the left and the right
Catered for privileged whites“
(Sam Fender: White Privilige. 2019)
„Alter, Du hast wieder das beste verpasst!“ Der Sonnenbrillenträger, der T-Shirtträger, der Mützenträger und das Almänchen schleppten zwei Bierkästen die Treppen herauf.
„Gab‘s etwa wieder frittierte Marsriegel?“
„Es gab alles!“ Der Sonnenbrillenträger rieb sich ausgiebig den Bauch. „Ich muss mich gleich hinsetzen, da passt kein Minzblättchen mehr rein! Haste Tee? Fenchel vielleicht?“ Beinah vergaß er, seine Schuhe auszuziehen.
„Und ihr?“ Der Brillenträger schloss hinter den anderen die Tür. „Auch randvoll?“
„Noch nicht!“ Das Almänchen klopfte dem Brillenträger auf die Schulter. „Aber du bist mal wieder auf Diät hab ich gehört?“
„Mediendiät is was ganz anderes! Davon kriegt man selten Magenkrämpfe. Außerdem is‘ es eh nur halb und auch unfreiwillig. Mein Router spinnt, und ich hab grad wenig Lust, stundenlang in Hotlines rumzuhängen.“
„Verstehe. Mehr so Ten Days of Darkness light, was?“
„Japp. Handyfeeds reichen erstaunlich gut aus. Oder könnte ich was wichtiges verpasst haben?“
Aus dem Wohnzimmer rief der Sonnenbrillenträger: „Ihr kriegt gleich alle welche verpasst, wenn wir hier nich bald alle am Tisch sitzen!“
„Sind wir denn schon vollständig? Was ist dem Neuling?“
Der Mützenträger war fast zu schnell mit einer Antwort parat: „Du, der kommt doch nicht. Hat gesagt, ihm wären die Vibes irgendwie nich so bekommen.“
„Welche Vibes?“
„Das hat er nicht gesagt. Aber ich glaub, der hat grad eh ganz andere Probleme.“
„Na, das klingt doch spannend genug für einen Einstieg. Mir kam der auch irgendwie komisch vor.“
„Ja. Nee, lasst uns erst mal anfangen. Vielleicht hab ich später noch genug Lust auf Gerüchte.“
Der Sonnenbrillenträger hatte seine erste Zigarette bereits fertig gedreht und angezündet: „Schön, du hast alles schon aufgebaut. Wer gibt als erstes?“
Die anderen sahen sich bei ihrer gemeinsamen Antwort gar nicht erst an: „Immer der, der dumm fragt.“
„Das wollte ich hören!“ Und noch bevor sich der letzte gesetzt hatte, hatten alle ihre Karten vor sich liegen.
Die erste Stunde spielten sie wie vergessen, selbst der gewöhnliche Trashtalk war auf ein Minimum begrenzt. Jeder spielte so konzentriert, wie es das Spiel zuließ. Es gab keine Diskussionen über Regelauslegungen, keine großen Gewinne und demzufolge auch keine großen Verluste.
Als der T-Shirtträger das zweite Album des Abends eingelegt hatte, stand der Mützenträger plötzlichunerwartet auf: „All in! Und fragt gar nicht erst blöd.“ Er warf sein Blatt vor sich auf den Tisch. Karo 8 und Kreuz 10. Alle außer dem Brillenträger gingen die Wette ein. „Haste keine Lust mehr?“
„Ja. Nich schlimm, oder? Ich mach auch den Geber.“
„Und erzählst uns noch die Gerüchte über den Neuling?“
„Kann ich machen. Scheinst du ja drauf zu stehen.“ Dem Brillenträger entging der scharfe Unterton keineswegs. „Kannst du dann alles in deinen tollen Blog reinschreiben.“
„Du liest meinen Blog?“
„Nee, aber hab davon gehört.“ Die anderen legten ihre Karten vor sich auf den Tisch, das Almänchen klopfte dem Brillenträger erneut auf die Schulter: „Siehste, die Leute reden über deine Kunst.“
„Kunst?“, der Mützenträger machte sich das dritte Bier auf. „Das soll Kunst sein? Sich permanent über Leute mit ner anderen Meinung lustig machen?“
„Bitte? Hab ich doch gar nicht! Und was für ne andere Meinung?“
„Ach ja? Und was ist mit dem Waldorfpädagogenpaar, das du durch den Kakao gezogen hast?“
„Was ist denn mit denen? Und was haben die bitte mit dem Neuling zu tun?“
Kurz überlegte der Mützenträger: „Ne Menge. Die arbeiten zusammen.“
Der Brillenträger bekam seine rechte Braue nicht unter Kontrolle: „Ach ja? Was du nicht sagst! Seit wann? Wo? Was?“
„Gar nichts sag ich mehr! Kannst du nicht lieber weiter über den ganzen unwichtigen Kram schreiben? Über die Pandora Papers zum Beispiel. Oder über die Scheiße mit Nordstream 2. Oder diese bekloppten Sondierungsgespräche? Oder die Nobelpreise. Oder das System Kurz? Oder die Nummer mit diesem Juden da in Leipzig, der wegen einem Assi ein ganzes Hotel in Verruf gebracht hat? Irgendwas, was für so Schlaumeier wie dich halt relevant ist. Aber Gerüchte über Leute verbreiten, die hier was aufgebaut haben … das is doch Mist.“
Der T-Shirtträger mischte sich ein: „Was haben die denn aufgebaut? Ne Schule, die sich seit Jahren gegen ihren Naziruf verteidigen muss? Oder sind das auch alles Gerüchte?“
„Leute, wovon redet ihr eigentlich?“ Der Sonnenbrillenträger drehte sich die nächste Zigarette. „Ich hab gestern erst ein Plakat von denen gesehen. Einladung zum Tag der offenen Tür. Mit feierlicher Einweihung des neuen Schildes am Eingang: ‚Schule ohne Rassismus. Schule mit Courage‘.“
„Ja, genau so was mein‘ ich! Das müssen die jetzt schon machen, weil alle nur noch Scheiße labern!“
„Jetzt beruhig dich mal!“ Das Almänchen stand auf, um das dritte Album einzulegen.
„Nee, ich beruhige mich jar nich! Man, versteht mich nich falsch. Ich kann so Leuten doch auch nich auf‘s Fell gucken. Aber jeder der sich mal nett mit denen unterhalten hat, steht grad unter Generalverdacht.“
„Vielleicht zu Recht?“ Der Brillenträger biss sich zu spät auf die Zunge.
„Hast du sie noch alle? Was sollen die denn alle machen? Deine Meinung haben?“
„Nee, aber ne eigene wär ganz gut.“
Das Almänchen wurde etwas lauter: „Ihr sollt euch mal beruhigen! Was soll das hier werden? Euer Beitrag zur Spaltung der Gesellschaft? Ich dachte, wir wollen hier spielen und ne gute Zeit haben.“
Seine nächsten Worte wählte der Brillenträger mit Bedacht: „Ja, will ich auch. Aber.“
„Was aber?“ Der Mützenträger hatte sich wieder gesetzt. „Haste noch mehr Gerüchte?“
„Ja hab ich. Und die werden dir genauso wenig gefallen.“
„Lass hören!“
„Sicher?“
„Sicher, dass was dran ist?“
„Ja. Also, warst du am Mittwoch inner Reiche?“
„Ich war krankgeschrieben.“
„Gut für dich, dann redet über dich auch keiner. Da gab‘s ein tolles Konzert.“
„Und? Ist noch nichts neues.“
„Stimmt. Aber: Über den Musiker wird geredet. Und zwar schon seit letztem Herbst.“
Der T-Shirtträger machte ein ahnungsvolles Gesicht: „Sag bitte nicht …“
„Doch, ganz genau. Schwurbeldemo auf dem Markt. Gleich neben den eben schon erwähnten.“
„Und der hat in der Reiche gesungen?“
„Hm. Irish Folk und eigene Lieder.“
„Und weiter? Ist die Reiche jetzt auch schon verdächtig? Merkst du was?“ Der Mützenträger war wieder aufgestanden. „Ich glaube, ich gehe jetzt.“
„Du bleibst schön hier. Du wolltest nämlich geben.“ Der T-Shirtträger machte eine versöhnliche Geste. „Ich wollte euch eh alle mal was fragen.“
„Du willst nur vom Thema ablenken.“ Der Mützenträger wirkte unentschlossen.
„Nee, will ich nicht. … Doch, auch. Weil: Ehrlich, wir brauchen uns hier nicht über das Auseinanderbrechen von Gemeinschaften aufregen, wenn wir selber kein Stück besser sind. Leute, vor ein paar Jahren hätten wir heute über den neuen Bond-Film gequatscht. Du“, er zeigte auf den Brillenträger, „hättest es wahrscheinlich als wokes Meisterwerk gepriesen, das endlich mal aufräumt mit den ganzen Klischees und die Sache zu einem würdigen Ende bringt. Und du“, er boxte den Mützenträger in die Seite, „hättest zurecht den Verlust von weiteren Traditionen beklagt. Und ihr beide“, er lachte das Almänchen und den Sonnenbrillenträger an, „hättet euch gar nicht mehr eingekriegt, über die geile Knarrenaction. … Und das wär‘s gewesen. Wir hätten weiter Poker gespielt und uns gefreut, dass wir das so problemlos können, noch dazu im Fachwerkpalast, weit weg von jeglichem Weltuntergang.“
Das Almänchen und der Sonnenbrillenträger nickten zustimmend, und antworteten abwechselnd: „Ganz genau. Demokratie hält andere Meinungen nämlich aus. Das ist der Witz daran. Und die Knarrenaction war sogar für unseren Geschmack ein bisschen drüber.“
„Seht ihr! Und deswegen jetzt zu meiner Idee.“ Er machte eine kleine Pause, bis er sicher war, dass alle bis auf‘s äußerste gespannt waren: „Wir gründen eine Männerstepptanzcompany.“
„Wir machen bitte was?“
Der T-Shirtträger nahm zwei Pokerchips von seinem Stapel, ging mit ihnen in den Flur und kam mit einem seiner Schuhe zurück. „Und wir brauchen nicht mal Stepptanzschuhe. Nur sehr guten Kleber.“
„Und das machen wir warum genau?“ Mehr fiel dem Brillenträger nicht ein.
„Na, um unsere Meinungen zu steppen.“
„Nochmal, bitte!?“ Der Sonnenbrillenträger sah die anderen sichtlich verwirrt an.
„Nein, natürlich nicht. Aber so was, das wäre doch völlig unverfängliche Kunst. Wir könnten damit auch in der Reiche auftreten, und keiner hätte was zu tuscheln.“
„Außer darüber, wie unfassbar schlecht und peinlich das wäre. Kann hier etwa irgendwer steppen?“
„Ach komm, das ist wie Mundharmonikaspielen. Und Rhythmusgefühl haben wir doch alle, oder?“
Mehr oder weniger zustimmend wackelte jeder mit dem Kopf.
Der Mützenträger war nicht gegangen. Und er hatte auch seine Chips noch. „Ähm, ich ziehe mein All-In mal zurück?“
„Ausnahmsweise!“
„Okay. Danke. Aber dann brauchen wir natürlich als erstes einen megacoolen Namen.“ Alle atmeten hörbar erleichtert aus. „Wie wär‘s mit … Rasierklingenstepper? Wegen der uneindeutigen Zweischneidigkeit.“
„Hm. Ein bisschen mehr Zeitbezug vielleicht? Oder ne astreine Referenz zu den Goldenen Zwanzigern? Da war das ja auch schon mal in, oder?“
„Oh nein, müssen wir dann zu Charleston steppen?“
„Ist doch erst mal egal. Also vielleicht so was wie Die Steppenwölfe?“
„Langweilig. Zu offensichtlich. Und außerdem zu viel Hesse. Da muss noch mehr Apokalypse rein. Irgendwas mit Vulkan und Dyonisus vielleicht.“
Der Brillenträger tippte hastig auf seinem Handy. Er wusste, wer aus diesen ganzen Vorschlägen etwas richtig gutes basteln konnte. Die Brillenträgerin, die ihre Brille ungern trägt, ließ nicht lange mit einer Antwort auf sich warten: „Leute, hier. Das passt: Sintfluttänzer.“
Das Almänchen stand bereits wieder an der Anlage. „Ihr meint das ernst, ja? Dann lasst uns mal proben.“
„Jetzt? Hier? Was ist mit dem Spiel? Und mit den Nachbarn?“ Die anderen sahen den Brillenträger an. Der Sonnenbrillenträger sprach als erstes: „Vorschlag: Der Sieger des heutigen Abends kümmert sich bis zum nächsten Treffen um die Schuhe, ein paar Grundschritte und eine Probemöglichkeit.“
Nach kurzem Abwägen stimmten alle zu, der Mützenträger verteilte die Karten und sagte dann leise, mit einem verschwörerischen Lächeln zum Brillenträger: „Und darüber kannst du ab jetzt in deinem Blog mal Gerüchte verbreiten.“
„So gut wie erledigt!“

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