„I don’t mind stealin‘ bread
from the mouths of decadents.
But I can’t feed on the powerless
when my cup’s already overfilled,
yeah.
But it’s on the table,
the fire’s cookin‘.
And they’re farmin‘ babies,
while slaves are workin‘.
The blood is on the table
and the mouths are chokin‘.
But I’m goin‘ hungry,
yeah.“
(Temple of the dog: Hunger Strike. 1991)
Der vorerst erlösende Anfruf kam am Ostersamstag. Die Mutter des Brillenträgers klang am Telefon wirklich endlich beruhigt: „Er jammert nicht mehr, er läuft, er hat einigermaßen geschlafen. Und er hat ständig Hunger. Nachher gehen wir in den Garten. Was auch immer die da in Leipzig gemacht haben, es hat geholfen.“
Die gerade an ihr Ende kommende Karwoche hatte der Brillenträger eigentlich ganz anders geplant: Die Sonne auf einem Balkon genießen, in Ruhe die anstehenden Prüfungen vorbereiten, endlich mal in einigen der Bücher vom Nachttisch weiter vorankommen, mit Freunden schick essen gehen und hinterher bei gutem Wein auf der Couch versacken. Der Kreuzweg als einziger, ausladender Privilegiencheck.
Und auch von den Nachrichten wollte er sich fern halten. Denn die hatten seinen Blog inzwischen so sehr in die Nähe irgendeiner Form von Querfront gerückt, dass nur noch Abstinenz ihn davor bewahren konnte, auch noch die letzten vernünftigen Leser zu verlieren, oder neue zu bekommen, auf die er absolut keinen Wert legte.
Über den Ukrainekrieg zu schreiben, hatte sich als genau das Fiasko herausgestellt, das er befürchtet hatte. Es war einfach unmöglich, Position zu beziehen, ohne sich nicht gleichzeitig selbst irgendeiner Form von Äquidistanz bezichtigen zu müssen. Er hatte sich deshalb dafür entschieden, einfach gegen alle Seiten anzuschreiben. In drei fulminanten Teilen sollte die inzwischen siebente Staffel seines bisher immer noch weitestgehend erfolglosen Projektes in sein drittes Jahr starten.
Doch als er gerade
damit begonnen hatte,
die ersten Notizen
der letzten Wochen
in ihre gewohnte Form zu bringen,
klingelte sein Telefon das erste Mal von vielen Malen in den nun folgenden Tagen; und die Nachrichten bildeten nur mehr noch das Hintergrundrauschen einer weiteren Leidensgeschichte. Egal, ob es das mediale Massaker war, das RTL mit der Osterpassion anstellte, oder die rituellen Osterunruhen auf dem Tempelberg in Jerusalem, oder die Rettung des Karl Lauterbach vor radikalen Reichsbürgern in letzter Sekunde, oder der Abgesang auf den Pazifismus, der ratlos machender weise ausgerechnet von den Grünen gesungen wurde, oder die zunehmend klarer werdende Frage, wer jetzt eigentlich der größere Größenwahnsinnige dieses Jahrzehnts wird (Wladimir Putin oder Elon Musk); alles trat hinter das Leiden eines einzigen Wesens zurück.
Denn Pepe war bereits am Wochenende vor Ostern zur Mutter des Brillenträgers zurückgekehrt. Vor genau einem Jahr war der damals gerade einmal vier Wochen alte Dackel-Terrier eine Etage über ihrer Wohnung eingezogen. Sein Herrchen, ein junger Mann, der selbst erst seit kurzem eine eigene Wohnung und auch sonst ein schweres Leben hatte, hatte jedoch schnell festgestellt, dass er den Welpen nicht ständig allein lassen konnte. Schon in der ersten Woche, in der er zur Nachtschicht musste, hatte Pepe mehr als ein Kabel durchgekaut. Immer öfter nahmen sich das Schwesterherz, ihr Freund und die Mutter des Brillenträgers des sehr jungen Hundes an, der ständig ausgelassen hinter ihnen her tobte.
Auf Dauer war das natürlich kein Zustand, auch die Lebensbedingungen bei seinem Besitzer wurden zunehmend untragbarer, und somit wurde kurz vor Weihnachten klar, dass Pepe ein neues Zuhause brauchte. Schweren Herzens trennte sich der junge Mann von seiner neuen Gesellschaft, und Pepe kam zu einer jungen Frau, der guter Umgang mit Tieren nachgesagt wurde und die ihn auch schnell ins Herz schloss.
Die Mutter des Brillenträgers war nach Pepes Abschied aber sehr lange Zeit untröstlich. Denn irgendwas nagte in ihr, eine Unruhe, die sich nicht etwa mit der Zeit legte, sondern immer weiter zunahm. In der Zwischenzeit kamen immer seltener mal Nachrichten oder Bilder vom heranwachsenden Welpen.
An besagtem Wochenende aber erhielt sie einen verzweifelten Anruf. Die junge Frau berichtete ihr, Pepe würde seit fast einer Woche nicht mehr schlafen und zunehmend Essen und Trinken verweigern. Die Box, in die sie ihn gesperrt hatte, als er einfach gar keine Ruhe mehr finden konnte, hatte der kleine Hund gründlich zerlegt und sich dabei mehrere Zähne abgebrochen. Er sei sehr schwach, finde aber absolut keinen Schlaf, so wie sie selbst deswegen auch nicht mehr. Und ob es in Ordnung wäre, ihn morgen einschläfern zu lassen. Immerhin hätte ein Tierarzt gesagt, dass man da eh nichts mehr machen könne. Auf die Frage, was denn die Diagnose sei, bekam die Mutter des Brillenträgers keine wirkliche Antwort.
Also holte sie Pepe am nächsten Morgen wieder zu sich nach Hause. Und wich ihm für zwei Tage nicht mehr von der Seite. Keine fünf Minuten dauerten seine Ruhephasen, der kleine Körper wurde von Zuckungen geschüttelt. Richtete er sich auf, verlor er auf wackligen Beinen sofort die Koordination. Aber er trank wieder, und auch die Hühnersuppe schleckte er bis auf den letzten Tropfen aus dem Napf. Sein allgemeiner Zustand blieb jedoch unverändert.
Am Dienstag Vormittag brachten das Schwesterherz und die Mutter den völlig entkräfteten Hund zum Tierarzt ihres Vertrauens, dessen Praxis im Schatten des Hexentanzplatzes liegt. Nach nur wenigen Momenten Untersuchung hatte der eine ganze Liste von möglichen Diagnosen, wovon er nur wenige mit Sicherheit ausschließen konnte und deswegen eine Überweisung in die Universitätstierklinik nach Leipzig ausstellte. Am wahrscheinlichsten allerdings sei ein Lebershunt, eine Krankheit von der weder der Brillenträger noch seine Mutter oder sein Schwesterherz jemals etwas gehört hatten. In vielen Fällen ist diese Fehlfunktion der Leber angeboren, wird aber erst im Alter von einem Jahr sichtbar, da sich die dadurch entstehenden Giftmengen im Blut auf sämtliche Körperfunktionen auswirken. Bei ausbleibender Behandlung oder sogar Operation würde die Krankheit innerhalb weniger Tage zum Tode führen.
Wenige Stunden später saß der Brillenträger mit dem struppigen, zitternden und bis auf die Knochen abgemagerten Hund auf dem Schoß neben seinem fahrenden Schwesterherz im Auto in Richtung Leipzig. Sie erreichten den weitläufigen Klinikkomplex gegenüber des seit Pandemiebeginn geschlossenen Kohlrabizirkus‘, einer Eisarena aus vergangenen Zeiten, kurz nach Ende des Normalbetriebs. Die Notaufnahme war dennoch gut besetzt. Nacheinander schauten sich verschiedene studentische Hilfskräfte Pepe genauer an, bevor sie ihn zu einer Ärztin brachten, und nachdem der Brillenträger und sein Schwesterherz den ellenlangen Anamnesebogen ausgefüllt hatten. Dann warteten sie eine geschlagene Stunde, bis die Ärztin sich zu ihnen setzte und versuchte hinter ihrem Atemschutz zu lächeln. Die Diagnose des Tierarztes in Thale sei tatsächlich sehr wahrscheinlich. Aber auch unterschiedlichste Entzündungen im Nervensystem könnten noch nicht ausgeschlossen werden. Für ein MRT sei Pepe allerdings noch zu schwach, die notwendige Narkose wäre ein enormes Risiko. Er wäre jetzt auf der Intensivstation und die ersten Blutuntersuchungen waren veranlasst. Morgen könne sie vielleicht schon mehr sagen. Das Schwesterherz und der Brillenträger wussten zwar, dass die Mutter kein Auge zumachen würde, aber sie entschieden sich, in die Klinikein-weisung einzuwilligen, die Ärztin machte ihnen ausreichend Mut.
Am Mittag des nächsten Tages erhielt die Mutter den ersten Anruf aus der Klinik. Pepe hatte die Nacht gut überstanden, weitere Untersuchungen würden folgen. Und er gebe wieder Laut. Am liebsten hätte die Mutter gehabt, dass sie seine Stimme am Telefon hätte hören können, aber noch hieß es weiter bangen. Die Hinweise auf einen Lebershunt allerdings hätten sich verdichtet. Das hieße entweder eine strenge lebenslange Diät und Medikamententherapie, oder eine risikoreiche Operation, die allerdings auch erst in einigen Wochen erfolgen könnte. Geduld sei momentan das beste Heilmittel.
Gründonnerstag dann, kurz nach dem Frühstück, der Brillenträger hatte sich gerade endlich an die Prüfungsvorbereitungen setzten wollen, summte sein Handy erneut. Wahrscheinlich wieder eine der vielen Nachrichten seiner Mutter, die sich selbst und allen anderen versichern wollte, dass es niemals zu spät sei, die Hoffnung aufzugeben, egal wie düster die Zukunft aussah. Das Summen des Handys allerdings dauerte an, ein Anruf. Gefasst nahm der Brillenträger nach einigen Sekunden ab. „Wir können ihn nach Hause holen. Ich bin in einer Stunde da. Du kommst doch mit?“
Der Brillenträger hatte keine Wahl und so saß er einige Stunden später mit dem deutlich lebendigeren Pepe auf dem Schoß wieder vor der Tierklinik in Leipzig und wartete auf seine Mutter, die der behandelnden Ärztin noch ein kleines Dankeschön in Form eines Steins vom Hiddenseer Strand überreichen wollte, bevor sie alle gemeinsam wieder zurück an den Harzrand fuhren.
Am Ostersamstag dann schien also das Gröbste tatsächlich überstanden zu sein, und der Brillenträger bekam ein süßes Hundefoto nach dem anderen geschickt, während er versuchte, die verschobene Arbeit der letzten Tage aufzuholen und sich nebenbei noch irgendwie osterlich zu fühlen. Pepe war wirklich noch mal von der Schippe gesprungen und hatte sich seinen Platz in der Welt ertrotzt; abgekämpft und ausgehungert, aber am Leben und voller Hoffnung.
Und egal, wie diese Geschichte auch weitergehen wird, der Brillenträger hatte sich bereits entschieden, sie an genau dieser Stellen enden zu lassen. Ganz so, als ob sie ihm irgendwie helfen würde, den Glauben an Wunder nicht völlig zu verlieren. Aber wer braucht schon Wunder, wenn er noch Hoffnung hat. Oder Liebe.
„When something’s broke,
I wanna put a bit of fixin‘ on it.
If something’s bored,
I wanna put a little excited on it.
If something’s low,
I wanna put a little high on it.
If something’s lost,
I wanna fight to get it back again.
Yeah, yeah, yeah, yeah!
Fight to get it back again!
Yeah, yeah, yeah!
When signals cross,
I wanna put a little straight on it.
If there’s no love,
I wanna try to love again.“
(Pearl Jam: The Fixer. 2009)

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