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… Rockin‘ in the Free World

von | 2024 | 19. Mai | Die Kurzgeschichten, Thalenser Kurzgeschichten

 

Smells Like Olympic Spirit (hidden story)

Nicht nur der Brillenträger war drei volle Schultage lang zum Sonnenbrillenträger geworden. Die Maisonne begann spätestens ab halb elf zu brennen als ob sich die Atmosphäre um zwei Monate vertan hatte. Soweit er das übersehen konnte, hatten aber genug Kinder, Jugendliche und Kolleg*innen etwas auf dem Kopf und/oder waren dabei sich einzucremen. Am ersten der vier „Olympischen Tage“ hatte er noch auf die Creme verzichtet, einer uralten Weisheit seines Großvaters folgend, wonach man sich zu Beginn des Sommers einmal richtig verbrennen solle, aber bereits am Mittwoch, auf dem Sportplatz in Thale, über dem drei Sonnen standen und wo es kaum Schatten gab, ging er dann doch lieber auf Nummer Sicher. An allen Tagen aber rockte er sein schönstes Basecap. Sonnenschutz, Millenialstyle. Die Jungs der Gen Z und Gen Alpha waren hier in der ostdeutschen Provinz zu Fischermützen übergegangen, aber die Mädchen wussten noch, wie Kopfbedeckung aussieht, wenn sie wenigstens ein bisschen cool und nicht komplett albern aussieht.
Die Vorbereitungen für dieses ausgeuferte Sportfest hatten vor Monaten begonnen; wann wenn nicht in diesem Jahr? Der Olympische Geist! Gastschüler*innen aus Frankreich! Weidenkränze statt Medaillen! Alle Gruppen der Schule vereint im friedlichen Wettkampf! Wagenrennen mit Bollerwagen, Gruppenmarathon in der Gartenanlage, Diskuswurf auf dem Rasen, Speerwurf auf dem Bolzplatz, Staffellauf im Stadion, Orientierungslauf im Wald, Volleyball auf dem Fußballfeld. Und eine Sommerwoche, die gemalter nicht hätte sein können. Am Ende der Woche, bei den abschließenden Fuß- und Völkerball-Turnieren waren keine Sonnenbrillen mehr nötig, dafür sahen aber alle so aus, als ob sie gerade vom Strandurlaub am Mittelmeer gekommen wären. Der Brillenträger bedauerte kurz, dass es nicht auch Schwimmwettkämpfe gegeben hatte, aber das Wasser in den Freibädern in der Umgebung war noch so kalt, wie es Mitte Mai nun mal noch ist, egal wie traumhaft ein verfrühter Olympia-Sommerbeginn auch sein konnte.

 

* * *

 

Nach dem ersten Sommerregen sortierte der Brillenträger die Fotos der zurückliegenden Tage und stellte dabei nicht zum ersten Mal in diesem Jahr fest, dass sich sein Musikgeschmack anscheinend wieder ein erkennbares Stück weiterentwickelt hatte: Neben seiner Liebe zu allen Spielarten der Band-Musik; also mindestens drei Musiker*innen, mindestens Schlagzeug, Gitarre, Bass; dröhnten immer öfter und immer regelmäßiger die Pop-Rhythmen der Gegenwart aus seiner Stereo-Anlage, die gerade dabei war, zum Oldtimer zu werden: Billie Eilish, Beyoncé, Taylor Swift. Band-Musik war wieder zu einer Subkultur geworden, und er hatte nichts dagegen. Nur die (ehemalige) Mainstream-Rockmusik (also der ehemalige Inbegriff von Band-Musik), die war, bis auf ganz wenige Ausnahmen, zu einem abstoßenden Spektakel geworden, bei dem es anscheinend vor allem darum ging, dass sich alte, weiße Männer auf viel zu großen Bühnen viel zu wichtig vorkamen. Rammstein spielten gerade tatsächlich ihre Dresden-Konzerte. AC/DC spielten auf Schalke. Die Stones wollten es auch noch mal wissen. Da half es auch nichts, dass Empire State Bastard die Red Rocks in Colorado rockten, das war viel zu weit weg. Denn besonders die nicht ganz kleinen Bühnen hier in der provinziellen Umgebung würden auf Jahre höchstens noch den abgestandenen Aufwasch von etwas zu hören bekommen, das noch vor nicht allzu langer Zeit so viel mehr war als Live-Unterhaltung für ansonsten gelangweilte Kleinbürger, die vor lauter Wohlstand nicht mehr wussten, was sie sonst noch konsumieren sollten, außer Giovanni Zarella, der sich für das Ende des Sommers auf dem Marktplatz des Weltkulturerbes angekündigt hatte.
Der Brillenträger hatte sich aber schon vor Jahren damit abgefunden, dass er für ernstgemeinte Musik nun mal mindestens bis in die Bördemetropole, nach Halle/Leipzig oder gleich nach Berlin fahren musste. Trotzdem war er in diesem Sommer gespannt wie selten, denn es endlich war soweit! Die Grüne Bühne in Thale sollte nach mehrjährigem Ausbau wieder eröffnen. Und die war spätestens jetzt groß genug, um auch mal gute Bands anzufragen. Vielleicht sogar ein kleines Festival, gut kuratiert. Genug Unterbringungsmöglichkeiten gab es am Fuße des Nordhangs des Hexentanzplatzes ja auch inzwischen. Wer wusste schon, ob nicht ausgerechnet das Bergtheater in Thale mal wieder neue Wege gehen würde. Der Brillenträger öffnete sein Notebook und wollte gerade nach dem Spielplan der Wiedereröffnungssaison suchen, als ihn die Tagesschau mit folgender Schlagzeile begrüßte: Der IS bedroht EM-Stadien. Von wegen Free World.

 

 

18. Mai

S10:Ep14(u) – Einkaufen in Zeiten des Krieges

 

„Die Nerven lagen blank, gerade eben
Hat es fast ein Blutbad im Supermarkt gegeben
Aber Gott sei Dank, wir sind am Leben
Es wurde durchgesagt, es wird noch
Eine zweite Kasse aufgemacht“

(Marcus Wiebusch. 2024)

– Der Dow Jones ist auf einem Allzeithoch
(Krieg ist nun mal gut für die Wirtschaft,
but as always: Weltwirtschaftskrise incoming?)

Kriegsprotokoll. Schreibtisch. Deutsche Heimatfront. Letzte Reihe.
Woche 116.
Ablenkungsmanöver oder Eroberungsversuch? Warum nicht beides? Sonntag: Um Charkiw werden erneut tausende Menschen evakuiert und in die Millionenstadt gebracht, vier weitere Ortschaften werden besetzt. Die Situation ist „schwierig“. Ein Hochhaus in Belgorod ist nach ukrainischem Raketenbeschuss komplett zerstört, Bewohner*innen sterben. Wowtschansk wird umstellt. Schoigu bekommt ein neues Amt, sein Nachfolger ist der Vize-Regierungschef Andrej Beloussow und wird auch gleich noch „Minister für Kriegswirtschaft“. Montag: Die Überreste von Wowtschansk werden eingenommen. SPD-Fraktionschef Mützenich ist klar gegen eine Verteidigung des ukrainischen Luftraums durch die Nato. In/Über Rumänien trainieren Nato-Fallschirmjäger („Swift Response“). Im russischen Oskol sowie im Umspannwerk Jelezkaja schlagen ukrainische Raketen ein. Dienstag: Der gegenseitige Beschuss von Belgorod und Charkiw hält an. Die Front ist so hart umkämpft wie selten. Anthony Blinken besucht Kiew: „Eine starke, erfolgreiche, blühende und freie Ukraine ist die beste Möglichkeit, um Putin zurechtzuweisen.“ Am Abend jamt er dann in einer Bar mit einer Band und singt beim Refrain von „Rockin’ in a free world“ mit, während landesweit der Strom kontrolliert abgeschaltet wird. Mittwoch: Über Sewastopol wird ein massiver ukrainischer Angriff (ATACMS-Raketen) abgewehrt. Die ukrainischen Truppen bei Charkiw ziehen sich zurück. Selenskyj sagt seine nahen Auslandsreisen ab. Die russische Armee „erobert“ drei weitere Dörfer, darunter auch Robotyne im Süden, was die Ukraine als Falschmeldung bezeichnet. Am späten Abend vermeldet Selenskyj eine Stabilisierung der Lage bei Charkiw. Donnerstag: Putin trifft in Peking ein und wird dort als „alter Freund“ begrüßt. Kupjansk steht erneut unter Beschuss. Selenskyj besucht Charkiw und wirft Russland erneut Kriegsverbrechen in Wowtschansk („menschliche Schutzschilde“) vor. Freitag: In Donezk sterben Zivilsten nach ukrainischem Raketenbeschuss. Drohnen greifen erneut eine Ölraffinerie in Krasnodar an, auch Sewastopol und Belgorod werden erneut getroffen. Selenskykj und Putin halten eine Feuerpause während der Olympischen Spiele für unwahrscheinlich. Letzterer behauptet auch: Charkiw soll nicht eingenommen werden. In Odessa sterben Menschen nach russischem Raketenbeschuss. Selenskyj ruft zum Stromsparen auf. Samstag: Selenskyj erkennt in der Offensive auf Charkiw eine „erste Welle“. Zwei SPD(!)-Abgeordnete (Weingarten und Schwarz) fordern den Schutz des westukrainischen Luftraums durch die Nato. Inzwischen sind mehr als 10.000 Menschen aus Charkiw evakuiert. Starizja wird „befreit“. Es schlägt erneut in der Innenstadt von Charkiw ein.

– Putin „greift“ nach Georgien („russisches Gesetz“)

Fico
(Slowakei, „russlandfreundlicher Linkspopulist“)
auf offener Straße niedergeschossen
(politisches Attentat der „Opposition“?)

Wilders findet noch drei andere Faschoparteien für eine Regierung

– Abschiebungen jetzt direkt an den EU-Außengrenzen
(Lager als Begriff weiter normalisiert)

– St. Pauli ist aufgestiegen, Alerta!

– FDP will jetzt auch noch die „Haushaltswende“
– Scholz pocht auf 15€ Mindestlohn

– Der Fixer (M. Cohen) sagt gegen Trump alles aus,
worüber es schon seit Jahren zig Bücher gibt

Saarland im Ausnahmezustand (Überflutungen, Erdrutsche, evakuierte Altenheime)
– Schlammlawinen in Sumatra
– 1000e Evakuierungen in Kanada (Waldbrände)
– „Letzte Generation“ blockiert die Flughafen München

– 450.000 sind wieder aus Rafah geflohen, wohin auch immer
Sinwar unter Chan Yunis: Israel muss immer noch ausgelöscht werden!

– „good night white flora“ (5 min Aktion)
– EU fordert sofortiges Ende der Rafah-Offensive
– in Amsterdam werden Konzerte des Jerusalem String Quartet abgesagt,
wg. pro-palästinensischer Proteste

netflix steigt in richtige (neben WWE) Sportübertragungen ein (NFL zu Weihnachten)
– 22 years later „28 days and 28 weeks later“ gesehen… damn!

Caitlin mit 10 TO im Debutspiel, wenn rookies noch rookies sind (Reise gegen Ionescu)

AfD-Urteil vom OLG Münster:
„ethnischer Volksbegriff“,
anscheinend, denn: Berufung zurückgewiesen,
– BVerG Leipzig bereitet schon mal den Saal vor,
– Trixi: „Unrechtsurteil!“
– Kevin K. trollt die rechten X-er mit „Rechtssexualität“
Höcke zu 13.000 Geldstrafe verurteilt, keine Bewährungstrafe
(Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen),
fühlt sich als „politisch Verfolgter“ (vom braunen Spickzettel abgelesen),
hätte auch drei Jahre abgehen können…
Krah zündet auf TikTok die nächste Eskalationsstufe:
„die deutsche Kirche ist gottlos!“
Kubitschek verkündet die Auflösung des IfS in Schnellroda,
kommt damit einem drohenden Vereinsverbot zuvor,
zwei neue Unternehmen: „Metapolitik“ und „Menschenpark“
– Immunität bei gleich zwei Faschos aufgehoben
(Bystron und Gnauck, Bundesvorsitzender der JA, schon seit 2021 Extremist),
bei Bystron enthält sich die AfD-Fraktion…

 

Der Brillenträger bedauerte es genau eine Sekunde lang, dass er mal wieder einfach keine Lust hatte, dem Wirrwarr der Gegenwart irgendeinen Sinn abzuringen; nur den Teil über die Faschos, den hätte er ganz gerne ausformuliert, zu gut war es, dass die Talfahrt anscheinend vorerst anhielt. Seine Lieblingsstory der Woche war übrigens diese: Björn Höcke kommt sich nach seiner Verurteilung mal wieder super schlau vor, indem er folgende Worte in den Äther schickt: „Sehr geehrte Frau Hummels (Ex-Fußballerfrau, Influencerin), ich werde sie leider bei Staatsanwalt Brenzler in Halle anzeigen müssen (auch sie hatte in einem Instapost die verbotene Parole verwendet). Nicht weil ich etwas gegen sie habe, aber um die Absurdität des Urteils gegen mich zur Kenntlichkeit zu entstellen.“ Die Absurdität zur Kenntlichkeit entstellen, darüber hätte sogar Heidegger nicht lachen können. Und so einer behauptete von sich selbst, ein National-Romantiker zu sein, der auf seinem Balkon im Eichsfeld wahrscheinlich Novalis rezitiert, bevor er Gramsci weiter missbraucht. So war sie, die Dialektik der Romantik. Es blieb nicht beim Sellout der romantischen Idee vom notwendigen Glauben an die Übernatürlichkeit, nicht bei der Vermarktung des Zweifels am Fortschritt, und auch nicht mal bei harmloser Esoterik. Heilkräuter waren zum Doping für Übermenschen geworden. Und Caspar David Friedrichs Gemälde wurden zum Sommerhighlight für das Kleinbildungsbürgertum hochgejazzt: Pirna, Greifswald, Berlin, Dresden, Frankfurt, Weimar, keine Kulturstätte, die sich nicht mit der Sehnsucht nach Einsamkeit schmückte.
Der Brillenträger setzte seine Suche nach dem Spielplan der Grünen Bühne fort. Aber nach nur wenigen Sekunden stellte er fest: Es gab gar keinen Spielplan. Die Wiedereröffnung war lautlos ins nächste Jahr verlegt worden. Stattdessen gab es nur eine schlichte Ankündigung: „Aber im nächsten Jahr werden wir die wohl schönste Naturbühne Europas dann wieder eröffnen. Die Termine unseres neuen Musicals „WALPURGA – DAS MUSICAL“ stehen bereits fest.“ Eine Rock-Oper auf dem Brocken war also nicht mehr genug. Kurz gab er sich dem Gedanken hin, dass, wenn es erst nächstes Jahr losgehen sollte, er vielleicht noch Gelegenheit hätte, die Grüne Bühne vor dem Terror der profitablen Beliebigkeit zu retten. Eine verfasste eine ernstgemeinte Wunschliste des Enkels eines ehemaligen Chefs der Bühne: Das Rundfunk Tanzorchester Ehrenfeld! Wanda! Ein Gastspiel des Burgtheaters (Die letzten Tage der Menschheit)! Paula Hartmann! Martin Sonneborn und Sibylle Berg, oder Claus von Wagner! Die traditionelle Eigenproduktion des Nordharzer Städtebund Theaters: Im weissen Rössl! Electra! Und dann freute er sich über den Gedanken, dass so vielleicht auf diesen nächsten letzten guten Sommer, doch ein nächster letzter folgen könnte; wozu sonst war die Romantik denn gut? Oder die Rockmusik?

Der Sommerregenhimmel hatte sich am Ende der Woche wieder in ein blaues Dach mit vanillefarbenen Wolken verwandelt. Die Tagestemperaturen sollten in den kommenden Monaten nur noch selten unter zwanzig Grad Celcius fallen. Und zumindest im Klietz würde es bald rund gehen. Die Kleinsten durften nämlich als erstes das neue/alte Sommerbad in Quedlinburg einweihen. Die Gen Alpha ging voran. Nur wohin, das wusste niemand mehr.

 

„We got a kinder, gentler machine gun hand.
We got department stores and toilet paper.
Got Styrofoam boxes for the ozone layer.
Got a man of the people, says keep hope alive.
Got fuel to burn, got roads to drive.

(Neil Young. 1991)

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