„Was soll ich nun in den nächsten Tagen der Beschäftigungslosigkeit beginnen?
Halt! Ich will unter die Propheten gehen, natürlich unter die größeren Propheten! – Das Erste ist, ich gründe … eine Zeitschrift und nenne sie: Die Leuchte? Nein! Der Kerzenstumpf? Nein! Die Fackel? Ja! – Ah! Alle Größen der Weltliteratur jucken mir in den Fingern! Man sollte meinen, Goethes plus Shakespeares Ingenium sei in der Natur eines östlichen Winkeladvokaten reinkarniert. Ich will den Stadtklatsch zu einem kosmischen Ereignis machen und die kosmischen Ereignisse zu einem Stadtklatsch. Ich will mit Kalauer und Pathos so trefflich jonglieren, daß jeder, der bei der einen Zeile konstatiert, ich sei ein spaßiger Denunziant und Fürzefänger, bei der nächsten zugeben muß, daß ich doch der leibhaftige Jesaja bin.“
(Franz Werfel: Spiegelmensch. 1920.)
Der Brillenträger hatte es vorausgesehen: Im Briefkasten war natürlich nur die Zeitung, die er am Samstag nicht hochgeholt hatte. Diese Prophezeiung war auch nicht all zu schwer gewesen.
„Na? Valentinskarte bekommen?“ Die Film- und Spielexperten warteten bereits seit einigen Minuten vor der Haustür, als der Brillenträger endlich öffnete und die Frage nur mit einem gespielt traurigen Kopfschütteln beantwortete. Eng an den Körper ihrer Mutter gebunden erkannte er die sechs Wochen alte Tochter der Film- und Spielexperten, die offensichtlich wach war und bereits die Augen zukniff; die Schneemassen der letzten Woche begannen gerade erst zu tauen und die Sonne strahlte am wolkenlosen Himmel.
„Ja, wir hatten auch überlegt, ihr so ne kleine Sonnenbrille zu kaufen, aber na ja, Optiker und so, ne?“
Sie begrüßten sich mit Ghettofäustlingen. „Ich muss nur noch den Schlitten holen, zwei Minuten.“ Der Brillenträger verschwand nach hinten über den Hof und tauchte zwei Minuten später im anderen Hauseingang wieder auf. „Wir gehen hier rum. Der Schuhhof is ne einzige Eisbahn.“
„Alles gut, wir kommen.“ Der Spielexperte zog einen Hörnerschlitten hinter sich her, auf den die Filmexpertin nach nur ein paar Schritten aufstieg.
Auf dem Markt wich das Weiß allmählich dem glatten Pflaster, aber die Rathaustreppe war noch zur Hälfte dick verharscht. Der fast drei Meter hohe Schneehaufen, für einige Tage der berühmteste Rodelberg der Stadt, war bereits Mitte der Woche abtransportiert worden. „Biste den mal runtergefahren?“
„Was? Natürlich nicht. Du etwa?“
„Nee, aber Bock hätt ich schon gehabt.“
„Alter, guck mal aufn Tacho! Wir sind schon länger keine 15 mehr.“
Die Filmexpertin zeigte zur Rathaustreppe: „Jungs, schaut doch mal da. Die sieht doch gar nicht so gefährlich aus. Ich mach auch kein Foto.“
„Ach, wenn schon, denn schon. Das Rathaus zweckentfremden steht eh noch auf meiner Liste. Was ist mit dir?“
Die Filmexpertin schaute auf das wärmende Bündel vor ihr, zeigte mit der ganzen Hand darauf und fragte: „Hallo? Das hier ist ein Baby? Und das pack ich jetzt nich extra aus. Macht ihr mal.“ Als die beiden ihre Schlitten die Stufen hochtrugen, holte sie unauffällig ihr Telefon aus der Jackentasche.
„Mensch, mensch, mensch. Is ja wirklich wie früher. Komisch, wie die Leute das jedes Mal sagen, wenn so viel Schnee liegt.“
„Das heißt ja aber, dass alle mindestens einmal in ihrer Kindheit so einen Winter erlebt haben. Also was den Schnee angeht, meine ich. Und – die Kinder von heute können das dann später auch sagen, is doch schön.“
„Na! Nich dass du da was falsches prophezeist! Wer weiß, vielleicht isser das ja wirklich, der letzte richtige Winter.“
Der Brillenträger musste dem Spielexperten zustimmen: „Na gut. Dann also Hammwarte, oder?“
„Meinste? Is bestimmt total voll.“
„Quatsch, es ist neun. Und Sonntag.“
„Stimmt.“ Sie sahen zur Filmexpertin.
„Euch ist klar, dass ich gezogen werde? Und wir jederzeit, unwidersprochen und auf mein Kommando umkehren, wenn wir hier“, sie zeigte jetzt mit beiden Händen auf sich und ihre Tochter, „das für angebracht halten?“
Auf dem Weg durch die Straßen hinter dem Markt versuchten sie, sich an die Namen der Schlitten ihrer Kindheit zu erinnern, aber niemand war sich wirklich sicher. Auch die Namen der Rodelstrecken klangen nicht immer richtig: Todesschanze? Todesrampe?Todesbahn! S-Kurve oder Tausendmeterbahn? Das kam darauf an, wen man fragte, und wie oft sie die Strecken gefahren waren, wenn sie sich denn überhaupt jemals getraut hatten. Erstere hatte der Brillenträger erst in seinem zweiten Winter gemeistert, nachdem er zwei Jahre zuvor zu viele sich hatte fast verletzen sehen. Rodeln war eine Mutprobe mit gestaffelten Schwierigkeitsgraden, jedes Jahr ein bisschen gefährlicher: Angefangen auf dem Idiotenhügel oben in Friedrichsbrunn, über die kleine Abfahrt durch Bäume auf dem Hexentanzplatz, bis zur besagten Todesbahn am Tannenkopf in Thale, oder eben zur Quedlinburger Hammwarte, die bekanntlich riskanter ist als sie aussieht. Man wächst nun mal mit seinen Aufgaben.
Als sie den Gröpern erreichten, stieg die Filmexpertin vom Schlitten ab. „Den kleinen Berg schaffen wir schon. Ihr braucht ja noch ne Pause, bevor …“
„Wie gütig. Schade nur, dass wir zu groß sind, uns die Schlitten auf die Schultern zu setzen.“
„Hast du das auch gemacht, ja? Ich dachte immer, entweder sind die anderen zu doof, oder sie ziehen halt gerne.“
„Ja ja, aber auch du hast das nicht mehr gemacht, nachdem du das dritte mal damit hingefallen bist, oder?“
„Erst nach dem fünften Mal. Late Bloomer und so.“
Der Wegelebener Weg war kaum beräumt und offensichtlich auch schon als Rodelstrecke benutzt worden, die Winterferien gingen gerade erst zu Ende. Als sie die letzten Häuser hinter sich gelassen hatte, bogen sie rechts ab. „Wisst ihr, der Ziegelhohlweg zieht sich immer so.“
„Habe ich da etwa das Wort ziehen gehört? Na los, steig auf. Wir wechseln uns wieder ab.“
Entgegen ihrer Erwartungen war es bereits ziemlich voll. Alle Arten von Kind und Kegel waren auf dem Weg nach oben. Die alleinerziehende Mutter mit ihren zwei Jungs. Die Patchworkfamilie mit drei. Geschiedene mit einem von zweien oder dreien. Ehepaare mit einem oder mehr. Großeltern und Enkel. Allen sah man die Woche ohne Homeschooling an. Die unfreiwillige Konfrontationsfamilientherapie schienen die meisten immer noch ganz gut zu vertragen. Aber auch der Brillenträger versuchte, die Gedanken an morgen noch etwas aufzuschieben. Wenn die Diskussionen wieder losgingen. Wer zuerst? Wann? Wie viele? Wenn die Unsicherheit wieder da wäre. Die Unsicherheit der ersten Elterngeneration des jetzt schon heimlich so genannten Pandemischen Jahrzehnts. Er sah zu den Film- und Spielexperten: Und die ersten „Corona-Babys“, die sich an diese Zeit hoffentlich schon bald nicht mehr erinnern würden. Die erst viel später lernen würden, mit welchen und wie vielen Ängsten ihre Eltern zu kämpfen hatten, und das am besten, ohne sich etwas anmerken zu lassen, denn Angst war immer schon der denkbar schlechteste Erzieher.
„Ok, die letzten Meter schaffen wir wieder. Danke fürs Ziehen. Ich komm später bestimmt nochmal drauf zurück. Und jetzt stellt euch mal an.“
Der Spielexperte und der Brillenträger hatten den Altersschnitt der hier aktiven Rodler in diesem Moment dramatisch nach oben getrieben. Einige von den älteren um sie herum tuschelten, als sich der Brillenträger seinen Schlitten zurechtlegte. Der Spielexperte neigte sich zu ihm: „Ich glaub einer von denen hat grad Boomer zu uns gesagt.“
„Lass dich nicht provozieren. Hier ist noch niemand 40. Die haben keine Ahnung, was sie labern. Wir sind hier klar die Vorbilder. Das wissen die nur noch nich.“
„Genau. Geh doch hin und sag ihnen, dass sie erst mal in unser Alter kommen sollen, dann wissen sie wirklich was Mut ist. Mit 15 kann jeder waghalsig sein.“
„Ach nee, lass ma. Schreib du das lieber irgendwie schlau ins Internet rein, und drück die Daumen, dass es keiner von denen liest. Bereit?“
„Ja, warte …“ Der Spielexperte gab dem Brillenträger einen plötzlichen Stoß und schwang sich gleich darauf selbst auf seinen Schlitten.
„Gleichzeitig? Alter, das machen nich mal die Junken!“
„Eben!“
Am unteren Ende der Piste kam dann, was kommen musste. An die kleine Rampe hatte keiner von ihnen mehr gedacht, und die erwischten sie auch noch gleichzeitig. Circa einen Meter über dem Boden klatschten sie sich noch kurz ab, bevor sie, einer peinlicher als der andere, mit dem Gesicht über die Eisbahn rutschten. Der Applaus von oben klang fast schon ernstgemeint. Mit unverhohlenem Stolz und schmerzenden Handgelenken und Ellenbogen stapften sie den Hang wieder nach oben.
„Und? Jetzt du?“ Zur Antwort nahm die Filmexpertin dem Spielexperten den Schlitten ab und setzte sich vorsichtig darauf. „Ich habe gerade gehört, dass wir schnell nach Hause wollen. Sehr schnell.“ Sie banden die Schlitten aneinander und wanderten zurück in die Stadt.
Kurz hinter dem Mathildenbrunnen tat sich der Brillenträger schwer, seinen Schlitten wieder loszubinden, seine Hände waren zu kalt, der Knoten zu fest. Erst nach einigen Minuten gelang es ihm. „Wir würden dir ja noch Kaffee anbieten, aber, na ja.“
„Alles gut, ich hör schon mal langsam auf, ab Mittwoch wird eh gefastet. Und auf die Kopfschmerzen kann ich gerne verzichten.“
„Ah, der Herr hat dazugelernt. Wollen wir die Woche noch mal?“
„Ernsthaft? Aber dann im Dunkeln! Es muss schließlich ne Herausforderung bleiben.“
„Ähm ja, oder halt nächsten Winter dann wieder.“ Sie verabschiedeten sich lachend und der Brillenträger setzte sich seinen Schlitten auf die rechte Schulter.
Vor der Haustür angekommen klopfte er den letzten Schnee vom Holm. Dabei fand sein Blick ein kleines, von Rost überzogenes Metallschild an der linken hinteren Kufe. Er konnte den Namen nur noch erahnen, dann aber setzte seine Erinnerung ein. Wie passend. Dass ihm das damals noch nicht aufgefallen war, bestätigte nur ein weiteres Mal, dass die guten Allegorien mit der Zeit immer bedeutungsvoller werden.
Deswegen war er auch wenig überrascht, nein, er hatte es beinahe vorhergesehen, als er neben der Zeitung im Briefkasten jetzt noch eine frische Rosenknospe fand. Ganz sicher war sich nicht, aber offensichtlich wusste jemand, wie man bittersüße Melancholie auch ohne Worte schreibt.
„Let the bedsheet soak up my tears.
And watch the only way out
disappear.
Don‘t tell me why.
Kiss me goodbye.
For neither ever, or never.
Goodbye.“
(Sascha Ring & Anja F. Plascha. 2011.)
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