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Der doppelte Brillenträger (S2:Midseason Review)

von | 2020 | 20. Juni | Die Kurzgeschichten, Die Serie, Quedlinburger Kurzgeschichten, Staffel 2 - We didn't start the fire

Perspektiven sind schon so ne Sache. Jeder hat eine, kann nur eine haben, nämlich seine eigene. Erstmal. Denn der Begriff „Empathie“ machte gerade wieder groß die Runde. Man müsste wieder mehr miteinander reden; oder wenigstens übereinander. Die Perspektive des anderen mal übernehmen, nachvollziehen, verstehen.
Und so saßen sich der Brillenträger und ein weiterer Brillenträger auf dem Markt im Café gegenüber. Na ja, fast. Denn eigentlich schauten beide gebannt auf das nun schon bald zwei Stunden andauernde Schauspiel vor dem Rathaus.
Diesmal gab es sogar Livemusik („Ich spiel noch nich‘ so gut Gitarre, aber es kommt ja auf den Text an!“), ganz viel rhythmisches Mitgeklatsche und irgendwas mit „Patrioten“ zum Ende der Schlussrede, wie gesagt, nach über zwei Stunden (davon eine knappe halbe Stunde „Spaziergang“).
Das Gespräch zwischen den Brillenträgern war vielschichtig, kurzweilig und mitunter sehr persönlich. Das kommt davon, wenn man sich fast sein ganzes Leben lang schon kennt und sich inzwischen drei mal im Jahr für ein paar Stunden sieht. Für die Leute an den Nebentischen boten die beiden sicher ein ebenso interessantes Schauspiel, das hofften zumindest die Brillenträger insgeheim. Während neben dem Roland die letzten nach-denklichen Gitarrenklänge verstummten, waren sie gerade dabei herauszufinden, aus welcher Serie oder Film sie den Schauspieler am Nebentisch kannten. Irgendwas öffentlich-rechtliches, ZDF? (Später stellte sich heraus: NDR.).
„Stell Dir mal vor, das hier wäre eine Black Mirror Folge, würde gar nicht auffallen, so strange ist das alles hier, oder?“
„Black Mirror?“
Der Brillenträger konnte seine rechte Braue nicht daran hindern, nach oben zu schnellen. „Die Serie? Jede Folge was anderes, aber immer das gleiche? Nämlich dystopische (Albträume), die aber eigentlich …“
„Ja, nee, kenn‘ ich nich‘. Aber merk ich mir. Wie noch mal?“
„Ich schick dir nen Link. Also, stell dir das mal vor: Vor 20 Jahren sitzen zwei Typen hier auf dem Markt und überlegen sich ein cooles Konzept, für ne sozialkritische, mal lustige, mal erschreckende, kathartische Serie.“
„Cool.“
„Ja ja, jedenfalls überlegen die natürlich, wie das alles hier in, sagen wir mal, zwanzig Jahren sein könnte. Alle würden so kleine Computer mit sich rumtragen, wo sie ständig draufschauen, gleichzeitig mit Leuten kommunizieren, die das gleiche gerade ganz woanders machen, und nebenbei Zeitungen lesen, ihre Gesundheitsdaten überprüfen oder Fotos von sich selbst machen.“
„Ja, und diese Minicomputer müssten alle so stylisch aussehen, wie zum Beispiel … warte, ganz metaphorisch: Wie kleine, schwarze Spiegel!“
„Ok, alles klar, du hast es kapiert. 2000 war ja zum Sommerbeginn eher normal. Ich glaub Olympia in Sydney stand an. Die Typen überlegen also, wie die Welt zwanzig Jahre später beschaffen ist. Und was fällt Ihnen als erstes ein? Buschbrände in Australien. Damit fängt das neue Jahrzehnt an. So richtig schlimme. So verheerend, dass Nachrichtenagenturen von „apokalyptisch“ berichten. Millionen von Tieren sterben in den Flammen, oder werden vorsorglich erschossen.“
„Ja, würde passen. Wenn man 2000 schon über den Klimawandel Bescheid wusste, wäre das gar kein so unrealistisches Zukunftsszenario gewesen.“
„Ok, und dann denken sie über so Führungspersönlichkeiten nach. Was wäre richtig krass? Eine Bundeskanzlerin? Seit fast 20 Jahren im Amt?
Ein offen bekennender Faschist in Brasilien? In Russland immer noch oder schon wieder Putin? In der Türkei auch nichts besseres. Und in den USA dann was richtig derbes!“
„Jup, zum Beispiel den damals dort schon sehr „beliebten“ Moderator einer Castingshow, in der es darum ging, möglichst spektakulär und niederträchtig Menschen zu demütigen.“
„Genau. Aber: Das ist ja alles nur das Setting.“
„Sujet!“
„Whatever. Weil jetzt überlegen sie, was das Ereignis sein könnte, das alles in Bewegung bringt. Und was liegt näher, als etwas, das alles verändert. Beziehungsweise, das die Perspektive auf alles ändert, irgendwas, das jeden betrifft. Und möglichst unsichtbar muss es sein, so dass niemand je sicher sein kann, dass es ihn selbst nicht auch betrifft.“
„Ein universeller Feind, gegen den sich die ganze Menschheit verbünden kann!“
„Wieder richtig. Obwohl: Black Mirror soll ja dystopisch sein. Also muss es gleichzeitig auch eine Riesengefahr sein.“
„Jup. Aliens oder eben Pandemie, ganz klar. Haben die sich super ausgedacht, die Typen. Diese Serie hätte kein Sender der Welt produziert. Viel zu übertrieben. Guckt keiner.“
Die beiden Brillenträger schauten kurz zum Rathaus. Ein anderer Barde, der auch auf einem Mittelaltermarkt richtig gewesen wäre, brachte gerade das letzte Lied zu Ende. Und der Kellner brachte das zweite Bier.
„Meinste wirklich? Krass, dass man das damals viel zu übertrieben gefunden hätte. Überleg mal, was noch alles unvorstellbar gewesen war. Alleine die letzte Woche: Das Köpfen oder Abreißen von Kolumbusstatuen weltweit ist inzwischen normal. In Seattle gibt es eine Autonome Zone, ganz normal. Ein Satiriker sitzt im Europaparlament und twittert: Gütersloh ist das deutsche Wuhan. Normal. Der Chaos Computer Club findet eine staatliche App in Ordnung. Ganz Normal. Der Begriff „Rasse“ soll aus dem Grundgesetz gestrichen werden.“
„Ganz selbstverständlich.“
„Aber gleichzeitig treffen sich Menschen regelmäßig auf Marktplätzen, um (latent) antisemitische Tings abzuhalten. Fällt gar nicht auf. Die Infektionszahlen der Pandemie steigen weiter steil an. Interessiert nicht weiter. Fußballmeisterschaften werden in leeren Stadien gewonnen. Wo sonst? Und Donald Trump ist wirklich immer noch der US-Präsident und hält heute eine Rede in einer geschlossenen Arena, inmitten von 20.000 Menschen.“
Beide schwiegen und tranken von ihrem Bier.
„Aber weißt du, diese Typen, vielleicht hätten die sich dann auch überlegt, einfach keine Dystopie zu schreiben. Sie fangen zwar so an, klar, muss ja erst mal spannend sein, und ein paar Zuschauererwartungen erfüllen. Aber dann bauen sie den Twist ein, und alles dreht sich ins Utopische. Ein Impfstoff wird so schnell wie nie zuvor gefunden, weil alle zusammenarbeiten und die krasse Technik haben. Menschen, die sich Geschwurbele auf Marktplätzen angehört haben, wachen endlich auf. Schlachtbetriebe werden verboten. Der Tourismus schrumpft sich gesund. Und die USA werden ein bisschen sozialistischer. Was dann eine kulturelle Kettenreaktion auslöst (es sind schließlich die USA) und alle Menschen werden Schwestern.“
Der Brillenträger schaute in sein Glas. „Hm. Kauft auch keiner die Serie. Die Zuschauer finden halb leer eben interessanter als halb voll.“
„Richtig. Halb voll heben die sich für das richtige Leben auf.“
„Besser is!“
Sie protesten sich ein letztes Mal zu, tranken aus, bezahlten und zogen den Abschied in den Gassen des Marktes noch ein bisschen in die Länge. Die Perspektiven waren so toll zum Fotografieren.

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