„Als es angesagt gewesen wäre,
innezuhalten und zu beobachten,
beschleunigte sich unser Leben,
und als wir langfristige Perspektiven
hätten formulieren müssen,
sahen wir nur noch unsere unmittelbare Gegenwart,
waren gefangen im ewigen Jetzt
der immerfort sich aktualisierenden Feeds
unserer sozialen Netzwerke.“
(Naomi Klein: Klimazeiten im Konflikt mit dem ewigen Jetzt. 2014.)
Die ganze Woche über musste ich
dem Schreibdrang mehr als einige Male widerstehen;
dementsprechend wächst sich die neue Folge
wahrscheinlich ziemlich aus,
aber Zeit kostet ja nichts.
Nicht unerwähnt bleiben kann und muss zu Beginn
der irre Erfolg einer Netflix-Serie,
die in Babelsberg (Brandenburg) produziert wurde.
Und die dabei ist, ihren Weg
von der Couch in die Medienwissenschaften zu finden.
DARK hatte schon Maßstäbe gesetzt,
als alle noch über das misslungene Ende
von Game of Thrones diskutiert haben;
und hat selbst ein deutlich überzeugenderes.
Nach Beginn der vorletzten Folge
(sinnigerweise betitelt mit „Zwischen der Zeit“)
hat man dann sogar endlich
„Schrödingers Katze“ verstanden:
Die Zeit liegt zwischen Leben und Tod,
zwischen Anfang und Ende,
zwischen zu früh und zu spät.
Janus (der römische Gott,
von dem sich die bereits
erwähnte Janusköpfigkeit ableitet)
gefällt dieser Trick!
Die Zeit ist Jetzt.
(Momo gefällt das genauso gut.)
Jetzt ist hierzulande
aber vor allem erst mal eins:
Kulturkrieg.
Während sich der gefühlte Rest der Welt
schon wieder und/oder immer noch
ganz andere Sorgen machen muss
(Zu spät reagiert?! Zu früh gelockert?!),
dürfen wir endlich wieder Bilder
von besoffenen Almans am Ballermann sehen,
und alles was den Schlagzeilen dazu einfällt:
Die hatten keine Masken auf!
Als ob das noch eine Rolle spielen würde,
wenn sogar Sachsen bei der Maskenpflicht bleibt…
In der Schweiz kann man sich derweil
bequem vom Arzt und/oder Heilpraktiker
seines Vertrauens von eben dieser befreien lassen.
Also kann‘s uns (nördlich der Alpen) doch gut gehen.
Solange Impfgegner und Maskengegner
noch Zeit haben,
das Grundgesetz spazieren zu tragen,
ist so ein Kulturkrieg doch noch auszuhalten
und alle mal besser als ein richtiger,
und sei es nur gegen eine kreuzgefährliche
und immer unberechenbarere Krankheit.
Dann müssten ja wieder Lockdowns verhängt werden
(wie genau jetzt wieder
im Iran, in Melbourne, Israel, Serbien und Japan)
und das Toilettenpapier wird wieder knapp.
Oder eben nicht,
obwohl die Zahlen immer gruseliger werden
(wie genau jetzt
in den Südstaaten der USA, Brasilien, Indien, Indonesien).
Normalisierung nennt sich das
und ist die hinterhältige große Schwester
von „mit dem Virus leben“.
Die Prognosen für die USA stimmten bis jetzt
(vor zwei Monaten wurden für Ende Juli
150.000 Covid-19 Tote erwartet – Stand heute: 134.000).
Bis zur Präsidentschaftswahl (Anfang November)
werden von den selben Leuten 200.000 Tote vorhergesagt.
Und der #Frisurensohn?
Tritt aus der WHO aus
und weigert sich,
in der Öffentlichkeit Masken zu tragen.
Und das bei täglich neuen Rekordinfektionszahlen
(zum Vergleich:
Auf Deutschland umgerechnet wäre das so,
als ob hier jeden Tag
ca. 14.500 Neuinfektionen nachgewiesen würden;
zum vorläufigen Höhepunkt,
Ende März, waren es 7.000)
Egal, Hauptsache „die Wirtschaft“ läuft weiter.
Kulturkrieg eben.
Die Opfer dieses Krieges
verschwinden einfach aus den Nachrichten,
und das obwohl es
bereits über 560.000 weltweit sind.
Aber hey, es ist ja nicht so,
als ob es nicht noch andere
schlimme Sachen geben würde.
Und die werden schließlich besser,
auch wegen „der Wirtschaft“.
Hunger zum Beispiel, oder Armut.
Seit den letzten 20er Jahren,
und erst recht seit den letzten 80ern
(dem endgültigen Durchbruch des modernen Kapitalismus)
ist die Zahl der Hungertoten beständig gefallen.
Und auch die Anzahl der Menschen,
die in extremer Armut leben,
ist unter eine Milliarde gefallen.
Aber: Hunger und Armut sind wieder da.
Sagt jedenfalls die UN.
Und sie nehmen zu.
Und mit ihnen natürlicherweise
auch alle anderen Übel.
Vor zwei Jahren
konnte der berühmte Steven Pinker noch schreiben:
„Heute leben wir länger,
gesünder, sicherer, glücklicher, friedlicher
und wohlhabender denn je,
und nicht nur in der westlichen Welt.
Der Grund: die Aufklärung und ihr Wertesystem.“
(Steven Pinker: Aufklärung Jetzt. 2018.)
Im Moment ist davon nicht mehr die Rede,
die fetten Jahre sind mal wieder endgültig vorbei.
Zum Ende noch ein Buch
(gerne auch als Empfehlung zu verstehen):
2017 erschien der äußerst dystopische Roman
„American War“.
In den 80ern dieses Jahrhunderts
durchleiden die Südstaaten der USA
die Folgen eines Bürgerkrieges,
den sie selber angezettelt haben,
weil sie nicht auf den fortdauernden Verbrauch
von fossilen Brennstoffen verzichten wollten.
(Auch hier ging also ein Kulturkrieg voraus.)
Die Folgen waren Isolation,
Verelendung, Naturkatastrophen,
Armut, Hunger,
Krankheit und Tod.
Ist aber nur Fiktion,
und außerdem noch lange hin,
schließlich sind die nächsten 80er
noch länger hin
als die vergangenen her sind.
Willkommen zwischen der Zeit.
„If it can be broke
then it can be fixed,
if it can be fused
then it can be split
It’s all under control
If it can be lost
then it can be won,
if it can be touched
then it can be turned.
All you need is time.“
(Bloc Party: Pioneers. 2005.)
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