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Man braucht nur eine Insel (S2:Ep14)

von | 2020 | 27. Juli | Die Serie, Staffel 2 - We didn't start the fire

Endlich wieder Urlaub!
Endlich wieder Zeit,
um Nachrichten zu lesen.
In der Abgeschiedenheit
der Lieblingsostseeinsel
kommen einem sogar vermeintliche
(Teil-)Warmabrisse im Harz (Mirage in Ballenstedt)
wie ferne Nebelkerzen vor,
deren Rauchschwaden
hier nicht zu sehen sind.
Sie wirken genauso nah
oder fern
wie das Tränengas
im Nordwesten der USA (Portland, Seattle);
Bilder, die vor einiger Zeit
noch viel mehr Menschen
an Bürgerkrieg hätten denken lassen.
Ein Bürgerkrieg,
bei dem auf Tränengas
mit Laubbläsern reagiert wird (true story).
Der Hauch von 1871 in „the Chaz“
(Autonomiezone in Seattle)
scheint schnell zu verrauchen,
denn eigentlich geht es auch dabei
nur wieder um wahlpolitische Ablenkung
(Ende der Woche werden in den Staaten
die prognostizierten 150.000 Covid-19 Toten
locker gezählt sein).
Immerhin haben die Protestanten dort
eine Amazon-Steuer erstritten;
mühsam ernährt sich das Eichhörnchen.

Aber noch sind auch dort alle bemüht,
an einer Normalität festzuhalten,
die es schon nicht mehr gibt.
Dass nicht der US-Präsident,
sondern der führende Virologe des Landes
den ersten Pitch der neuen Baseballsaison
meterweit vorbeigeworfen hat,
spricht mehr als hundert Hefte Sports Illustrated.
Hierzulande denken die ersten Bundesligavereine
bereits laut über die Besucherzahlobergrenzen
für die Stadien in der kommenden Saison nach.
Und auch das Verjähren von möglichen Straftaten
im Zusammenhang mit der Loveparadetragödie vor 10 Jahren
ist nur ein weiteres Indiz dafür,
dass Massenkultur nur noch im Internet stattfindet.

Online-Medien,
Online-Ausstellungen,
Online-Konzerte,
Online-Parteitage.

Dieser Sommer scheint immer mehr zum letzten,
schon nicht mehr normalen Sommer zu werden.
Die Rezession wird demnächst verkündet,
in keinem Land gehen die Infektionszahlen zurück,
im Gegenteil:
Israel, Iran, Spanien, China, Australien,
ach, überall mehren sich die Lockdowns erneut,
die Zweite Welle hat noch gar nicht angefangen,
und die finstersten Prognosen
von vor fast einem halben Jahr
nehmen langsam Gestalt an.
Und auch wenn die #Frisurensöhne dieser Welt
ein Einsehen vergaukeln,
Masken jetzt für Trump patriotisch sind
und Boris Johnson mit gutem Beispiel
gegen Fettleibigkeit kämpft,
bleiben die guten Ideen
weiterhin auf Seite 3 und folgenden.
Milliardäre fordern, höher besteuert zu werden,
die 4-Tage Woche wird wieder diskutiert,
das bedingungslose Grundeinkommen sowieso.
Auf Seite 1 dann aber der Wolfgangssee.
Nichts mehr mit dem Glück,
das vor der Tür steht,
der nächste Hotspot ist das Weiße Rössl.
Und Christian Lindner hat wieder was zum Lindnern.

Da ist man auf Hiddensee
schon immer weiter gewesen:
Massentourismus gibt es hier nur in Vitte,
an den Stränden ist man nackt,
die Hunde liegen schläfrig neben dem Windfang
und für E-Roller braucht man
eine Sondergenehmigung.

„Man braucht nur eine Insel
Allein im weiten Meer.
Man braucht
Nur einen Menschen,
Den aber braucht man sehr.“

(Mascha Kaléko, 1933.)

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