„Wo Egoschweine
erst alleine
und dann zusammen,
nur an sich denkend,
sich zu einem Wir
verlier‘n.
Und jedes Wir
sind viele Ichs,
und viele Ichs
wollen dann
die Wagenburg
formieren.“
(Kettcar: Wagenburg. 2017.)
So
langsam
beschleicht mich der Verdacht,
dass es vor allem
meine, unsere Generation ist,
die sich gerade am stärksten
entsolidarisiert.
Natürlich nicht wir hier!
Aber ihr wisst schon:
Die anderen.
Die, denen die älteren und schwächeren
fremd geworden sind,
die, die meinen,
sie wären ihren Kindern,
Kollegen,
Workspace Homies,
Angestellten,
Kunden,
Patienten,
Vorgesetzten,
Klienten
noch überlegen,
und die noch
im „Saft ihres Lebens“ stehen.
Die, die ihre Eltern,
oder gar Großeltern
vielleicht noch ein paar Mal
im Jahr
sehen und umarmen,
und die dieses Jahr
„wegen Corona“
lieber zu Weihnachten
nicht nach Hause fahren,
die „arbeiten müssen“
oder „trotz Corona“
lieber „Urlaub“ machen würden.
Und die eben jetzt mal
„selber Familie“ haben.
Yes, I‘m talking to you,
Millenials!
Wir gehören nämlich
auch noch zu der gleichen
Generation wie diese Arschl*cher,
die da gerade ihre Kinder
auf Demos schleppen,
um sie,
aber eigentlich ja sich selbst,
als Opfer
irgendeiner abstrusen Diktatur
zu inszenieren.
Wie losgelöst von der
Wirklichkeit und Gegenwart
kann man sein?
Was,
außer einer manifesten Egozentrik,
ist die Ursache für so etwas?
Dieses verdammte
kapitalistische System,
natürlich.
Und der Stress.
Die verdrängte Zukunftsangst.
Dieses unverschuldete Glück,
im sichersten sozialen Netz der Welt
niemals weniger haben zu dürfen,
als eine warme Wohnung,
ausreichend Nahrung,
Kleidung,
Unterhaltung,
Heilmittel,
und jede Art
von selbstgewähltem Lebenssinn.
Wer in solchen Zeiten nicht bereit ist,
etwas von seinem Glück einzuschränken,
um all jenen zu helfen,
denen das nicht so einfach gelingen kann,
sondern lieber seine Kinder
und Anne Frank missbraucht,
weil die da oben
irgendwas schlimmes im Schilde führen,
der braucht sich über
Entsolidarisierung
auch nicht mehr wundern.
Klar, das war jetzt ein extremes Beispiel,
aber es war ja auch
der Gutmenschenaufreger der Woche…
Aber mal ehrlich,
wie viele Querdenkerversteher
kennt denn jeder von uns?
Menschen, die irgendwie
immer beide Seiten verstehen wollen,
die lieber keine Haltung
als die falsche haben,
und darin den Ausdruck absoluter
persönlicher Freiheit sehen.
Menschen, die sich
auch einen Christian Lindner
als Wirtschaftsminister
ganz gut vorstellen könnten.
Und, boom,
ein Entsolidarisierungsschub
nach dem anderen.
Die Millenials sind
in Milliarden Teile zersplittert,
denn Solidarität ist für uns
im besten Falle etwas,
von dem wir
in Magazinen und Zeitschriften
mal etwas gelesen haben,
und/oder das wir ja
schon beruflich praktizieren,
wenn wir uns nicht gerade
davon erholen müssen.
Das wir durch öffentliches Engagement,
durch offengelegte Spenden,
Socialising,
Massendemonstrationen
oder Teilnahme an Onlinediskussionen
zum Ausdruck bringen.
Aber doch nichts,
das wir außerhalb
unserer Wagenburg (aka Bubble)
wirklich leben.
Für außerhalb dieser
sind Achtsamkeit,
Mitleid und Anteilnahme
alles was uns noch
für die anderen
geblieben ist.
Jeder ist sich eben doch
selbst der nächste,
und uns allen
sind ein Stück weit
die Hände gebunden,
beziehungsweise kleben sie
an Tastaturen
oder schwarzen Spiegeln.
Zu einseitig,
ich weiß.
Aber hey,
ihr wisst ja:
Das hier sind schließlich
#DieDoppeltenZwanziger,
und auf der anderen
Seite des Spiegels
ist alles
nur halb so schlimm.
So
sieht sie dann also aus,
die Solidarität
in der neuen Normalität.
Während die einen in der Isolation,
durch Einsicht und Verzicht
versuchen, die Welt zu retten,
oder wenigstens zu verstehen,
rotten sich die anderen
in den entleerten Innenstädten
aus den unterschiedlichsten
Gründen zusammen
und können sich nicht verstehen.
Der Samstag in Leipzig
war sicher nicht der Mittwoch in Berlin,
aber immerhin mit dem richtigeren Ergebnis:
7:0 für die „Antifa“.
Es gibt viele schauerliche Videos
im Internet in diesen Tagen,
in den einen beklagen sich Schwurbler,
dass die ganze Stadt voller Antifa ist,
und wollen immer noch nicht kapieren
warum das so ist.
In anderen gibt der Pressesprecher
der sächsischen Polizei
dem „Volkslehrer“ ein Interview,
hier wären alle friedlich.
In noch anderen sieht man
Schwurbler und Nazis
doppelt eingekesselt von Polizei
und der Antifa, bestehend aus
nicht quer-, sondern nur denkenden.
Den Hauptpreis hat aber,
ohne Gegenstimmen,
eine junge Frau in Hannover gewonnen,
die wohl aus Kassel stammt.
Sogar Heiko Maas war ihr Auftritt
einen deutlichen Kommentar wert.
Ganz ehrlich,
mir tut die ernsthaft leid.
Gehen wir mal vom besten Fall aus:
Sie glaubt wirklich,
sich mit Sophie Scholl
vergleichen zu können.
Die war auch im Widerstand,
hat Flugblätter verteilt,
auf einem (dem 5.)
stand, z.B.:
„Freiheit der Rede,
Freiheit des Bekenntnisses,
Schutz des einzelnen Bürgers
vor der Willkür
verbrecherischer
Gewaltstaaten.“
– Kontext spielt für einen Vergleich
nur eine Rolle,
wenn man ihn kennt
und verstanden hat.
Rein formal hat sie Recht,
und sie geht sogar noch weiter:
Sie organisiert Demos,
hält öffentliche Reden,
meldet mit ihrem Namen
politische Veranstaltungen an.
Alles Dinge, zu denen Sophie Scholl
gar nicht erst gekommen ist,
aber bei Gelegenheit
sicher auch so etwas gesagt hätte:
„Glaubt nicht
der nationalsozialistischen Propaganda,
die Euch den Bolschewistenschreck
in die Glieder gejagt hat!
Glaubt nicht,
dass Deutschlands Heil
mit dem Sieg des Nationalsozialismus
auf Gedeih und Verderben verbunden sei.“
(ebenfalls aus dem 5. Fugblatt)
Und als der Ordner ihr dann mal kurz
den entsprechenden Kontext
geliefert hat,
da ist ihr für einen Moment
zum ersten Mal klar geworden,
was sie da gerade gesagt hat.
Denn anders ist ihr Abgang
nicht mehr zu erklären.
Die ganze Pose
ist mit einem Mal
ineinander gefallen.
Was macht die junge Frau aus Kassel
denn jetzt?
Sie wollte doch nur
für eine gerechte Sache kämpfen,
gegen einen bevormundenden Staat,
friedlich, nur mit Worten,
wie Sophie Scholl.
Aber im Gegensatz zu dieser
steht die junge Frau aus Kassel,
seit gestern Nachmittag
ununterbrochen am Internetpranger.
Mal angenommen,
sie ist keine Marionette,
und übermorgen kommt raus,
dass sie Verbindungen zu Nordkreuz
oder einer verirrten Waldorfschule hat,
was macht #janaauskassel
denn morgen?
Zur Arbeit gehen?
In die Berufsschule?
In ein Onlineseminar?
Zu ihren Eltern?
In den Untergrund?
– Sie jetzt öffentlich bloßzustellen,
in einem medial vor Jahren noch
unvorstellbarem Ausmaß,
kommt einer Exkommunikation gleich,
was die abgeschlossene Form
der Entsolidarisierung ist,
bevor sich die Feindseeligkeit einstellt,
aus der dann Hass und Gewalt
werden können.
Die Möglichkeiten
sich zu entsolidarisieren
haben heute keine Grenzen mehr.
Die Möglichkeiten,
zu resozialisieren,
dagegen bekommen jeden Tag
neue Grenzen.
Wisst ihr noch,
als wir Mitleid
mit Menschen hatten,
die mehr oder weniger unverschuldet
in Sekten geraten waren?
Vielleicht sollten wir
mit allen Querdenkern
und Querdenkerverstehern
(nicht mit Nazis)
so umgehen,
als glaubten wir daran,
dass sie noch die Chance bekommen
auszusteigen,
denn sonst haben sie die
ganz sicher nicht.
Ihnen eine Bühne zu bieten,
ist dabei allerdings keine gute Idee.
Was nun also tun?
Ist ja auch noch gerade Pandemie.
Etwa über das diesjährige
Böllerverbot diskutieren?
Wie sollen wir in dieser
entkoppelten, dynamischen Situation
denn auch nur irgendwas
entscheiden können,
mit dem alle
einverstanden sind?
Auftritt Markus Söder,
Boomer in Spitzenform:
„Heute haben wir gemahnt,
nächste Woche müssen
wir dann
entscheiden.“
Nächste Woche,
damit ist dann
der kommende Mittwoch gemeint.
Der Tag, an dem verkündet wird,
wie es bis Weihnachten weitergeht,
nämlich so ziemlich genauso wie jetzt,
mit Zusatzoptionen.
Der Status Quo,
solange die Intensivstationen
durchhalten.
Was für ein irrer
Organisationsaufwand
das werden wird,
zumal der Flickenteppich
in voller Blüte steht.
Die ganze Weltkarte
leuchtet in unterschiedlichsten
Rot-, Orange-, Gelb- und Grüntönen.
Nirgends ist es wirklich sicher.
Deshalb greift der Kanzler in Österreich
auch zum erstbesten Hinweis:
„Treffen sie niemanden!“
Dass das unmöglich ist,
oder eben die
totale Entsolidarisierung wäre,
weiß auch der,
wirken würde es allerdings;
mit Kontext hat Sebastian Kurz
aber eben auch so seine Schwierigkeiten.
Und vielleicht ist ja dieser Flickenteppich
das einzig wirksame Mittel,
zumindest bis zum Impfstoff.
Die wenigen Länder,
denen es gelungen ist,
die zweite Welle
erfolgreich zu brechen,
sind so verfahren:
frühe, radikale Lockdowns
in Hotspots.
Haben die sich erholt,
gibt es zwar andere Hotspots,
aber dann kann hier wieder gelockert werden.
Nach Israel
verfolgt diesen Plan
morgen auch der Iran
und sehr bald auch der UK.
Australien und Neuseeland
sind damit auch relativ erfolgreich
(weswegen „Iso“ dort
das Wort des Jahres ist),
jedenfalls erfolgreicher als die Schweiz,
die jetzt einfach ihren Risikogruppen rät,
schon mal eine Patientenverfügung
zu unterschreiben;
ziemlich sicher
die hässlichste Form
der Entsolidarisierung.
Bei Tesla in Kalifornien
nur unwesentlich hübscher:
Einfach gegen den Lockdown klagen,
das Wort Gewerkschaft gar nicht kennen,
weiter Autos bauen lassen.
In Griechenland müssen
Privatkliniken zur Solidarität
gezwungen werden,
die ihre Intensivbetten
bis jetzt verweigert hatten.
In Sachsen wird nach
freiwilligen Helfern
in den Pflegeheimen gesucht,
und Sachsen-Anhalt
legt gerade noch so
einen Pandemieplan vor.
Darauf dann Platz für
viele weitere flackernde Karten,
rot, gelb, dunkelrot, grün, wieder rot, …
eine dynamische Situation halt.
Aber zumindest ein Lippenbekenntnis
auf dem G20-Gipfel gab es ja:
Putin spricht als erster
von einer „Humanitären Verteilung“
der Impfstoffe.
Also auch an Impfgegner,
wenn sie wollen.
Mensch, denkt man sich,
das erinnert einen ja fast
an die späten Achtziger,
als zum Beispiel
die wichtigste Streikbewegung,
die mitverantwortlich
für die Friedliche Revolution war,
und übersetzt „Solidarität“ hieß,
ihren Ursprung in Polen hatte,
und das erste Land,
das die Grenzen geöffnet hatte,
Ungarn war.
Ach Europa,
wie gut müssten wir doch
für eine solche Krise geschaffen sein.
Patienten in andere Länder verlegen?
Kein Problem.
Impfstoffe schnell von A nach B bringen?
Kein Problem.
Bilaterale Verhandlungen
über alles führen können?
Kein Problem.
Gemeinsam und solidarisch
Lösungen finden?
Kein Problem.
Wären da nicht
Polen und Ungarn.
Wer bis hierher mitgelesen hat,
dem werden die bitteren Treppenwitze
der folgenden Meldung
unschwer auffallen:
„Zbigniew Zioboro,
Anführer der am rechten Flügel
der Regierungskoalition
angesiedelten Partei
Solidarisches Polen
und als Justizminister
einer der Hauptverantwortlichen dafür,
dass der Streit mit Brüssel
überhaupt entstanden ist,
agitiert inzwischen offen dafür,
dass ein EU-Austritt Polens
gar nicht so schlimm wäre.“ (jw)
Das Pochen auf Rechtsstaatlichkeit
von Seiten der EU
gegenüber Polen und Ungarn
ist es übrigens,
was beide Länder
an der europäischen Solidarität
stört.
Sechs Wochen vor dem Abschied des UK
stellen sich also die nächsten Kandidaten
in die erste Reihe,
schon nicht mehr ganz so verdeckt
nationalsozialistisch.
So
ein Rausschmeißer
kommt immer zum falschen Zeitpunkt,
ihr habt schon viel zu lange
auf den schwarzen Spiegel geschaut
(sorry, not sorry).
Aber noch lange nicht
so lange wie Ken Jebsen,
nämlich viel zu lange.
Und damit ist jetzt Schluß:
Youtube schaltet den Waldorfschul-
abbrecher auf stumm.
Endlich einer weniger,
von dem man sogar Kollegen,
Verwandte,
Bekannte,
Freunde,
Kunden,
Klienten,
Vorgesetzte,
Patienten
hat reden hören müssen;
die hasserfüllte Stimme
der Entsolidarisierung.
Jetzt können wir alle wieder
ein bisschen entspannter
miteinander umgehen.
Und vielleicht gibt es ja
in diesem Jahr auch
und sogar in Quedlinburg
keine Schwurblerspaziergänge mehr.
Immerhin putzt sich der Markt
weihnachtlich heraus,
der Baum steht jedenfalls.
Und sollten dort auch Menschen
im Kreis drumherum
gegen die Zwangssolidarität meditieren,
bitte nicht mit Häme,
sondern ohne tolerieren!
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