So,
vor exakt einem Jahr
hat dieser Text hier
seinen Anfang genommen.
Als unfertiges Wortspiel.
Als flacher Seitenhieb
auf die hohen Erwartungen
an das neue Jahrzehnt.
Ins Internet reingehustet
von einem Provinzlehrer,
der, wie alle Provinzlehrer,
an philisterhaftem Besser-
wissertum leidet.
Den sein eigener Pessimismus
schon viel zu lange nervt.
Dieser allerdings wurde
in den letzten Jahren
immer mehr zum Realismus,
leider.
Denn dolle
waren die Aussichten ja nicht:
Klimakatastrophe,
Trumpismus,
zunehmender Zerfall
der gesellschaftlichen Verhältnisse,
die intellektuelle Linke
in einer zunehmend aussichtslosen Krise,
der Turbokapitalismus
wie immer kurz vorm Kollaps,
die AfD immer noch da,
Hardcorenazis wieder salonfähig gemacht.
Vor 20 Jahren wäre das alles
gut und gerne
als annehmbare Dystopie
durchgegangen.
Ein bisschen drüber vielleicht,
aber immer noch realistisch genug.
Tja, und dann kam 2020:
Jahr-
hundert-
pan-
de-
mie.
Aber keine Sorge,
das hier wird jetzt
kein weiterer Jahresrückblick,
ihr wart alle selbst dabei.
Für so was haben wir
in den Doppel20ern
keine Zeit,
da haben wir alle besseres zu tun.
Stillstand wird schnell langweilig,
die Neue Normalität
will schnellstmöglich
überwunden werden.
Davon könnten wir alle
viele Lieder singen,
wenn es denn nicht
„verboten“ wäre.
Aber auch wenn die Infektionskurven
wieder steigen werden:
Die Immunisierungskurven
holen jetzt auf,
das Licht am Ende des Tunnels
wird langsam aber sicher heller.
Ein historisches Superwahljahr beginnt,
die USA kehren vielleicht
wieder in die Realität zurück.
Also,
los und weiter geht‘s.
Der Impfstoff ist da!
Natürlich zuerst
in Sachsen Anhalt.
Natürlich über das Impfzentrum
hier in Quedlinburg geliefert
und in Halberstadt verabreicht:
Die erste geimpfte Deutsche
heißt: Edith Kwoizalla
und ist 101 Jahre alt.
Der Landkreis Harz
wartet nicht bis nach Weihnachten.
Warum auch?
Wer hier nicht flext, der wird rasiert!
Hier wird am zweiten Weihnachtstag
noch vor dem Abendbrot gesagt:
„Reicht aber och ma wieder hin denn.
Und der Winter
brauch jetz och nich mehr zu komm,
lieber gleich Frühling.“
(O-Ton: Mein Nachbar)
Eben!
Warum nicht schon mal
so richtig mit der Vorfreude beginnen!?
Dann beginnen die neuen
„Roaring 20s“
eben ein oder zwei Jahre später.
Dafür geht‘s aber dann richtig rund.
Der Entwicklungssprung
kann den der Goldenen Zwanziger
nur toppen,
alles steht bereit:
Eine nahezu durchdigitalisierte Welt,
Fusionsreaktoren funktionieren
nicht mehr nur theoretisch,
und auf die Gegenaufklärung
folgt logischerweise eine
Neue Aufklärung.
Auf‘s Querdenken das Nachdenken,
und vielleicht sogar eine Renaissance
des Humanismus.
Nur der Müllhaufen,
den wir allein in den letzten paar Jahren
angehäuft haben,
der ist echt deprimierend groß.
In vier Tagen ist dann
zumindest bei Hempels unterm Sofa
mal Staub gewischt worden:
Der Brexit wird tatsächlich vollzogen,
es herrschen wieder klarere Verhältnisse.
Sollte man meinen.
Hier mal nur eine Kostprobe
der Nachrichten aus dem UK
in der vergangenen Woche:
In der Schweiz werden 10.000 Briten gesucht,
die kurz nach Bekanntwerden
der neuen Virusvariante
anscheinend unbekannt eingereist waren.
Ob die einfach nichts mitbekommen haben
und einfach ihren gewohnten Winterurlaub
durchziehen wollen,
oder ob das schon der Exodus
des britischen Kapitals ist,
bleibt abzuwarten.
Auf der Insel kommt es vor den Feiertagen
zu echten Hamsterkäufen.
Sogar ein Hilfsflug aus Deutschland
mit 80 Tonnen frischen Lebensmitteln
erreicht das Königreich.
Während die Nightingale Hospitals
im ganzen Land unbesetzt bleiben müssen,
also nur Bühnenbild bleiben,
legen die EU und der UK
endlich einen Deal
unter den Weihnachtsbaum,
der aber noch lange nicht
in Sack und Tüten ist.
An den Grenzübergängen verbringen
tausende Transportfahrer
das Weihnachtsfest im Superstau
und können ihre Familien
unfreiwillig nur auf
kleinen Bildschirmen sehen.
Auch der Rest
sitzt im landesweiten Lockdown
und kann den Abschied
nur tatenlos betrachten.
Die „Roaring 20s“ beginnen einsam.
Zeit also,
die Fragmentierung der Wirklichkeit
mal wieder näher
vor den angeknacksten,
schwarzen Spiegel zu halten.
Ironischerweise zeigt sich diese Zersplitterung
gerade nicht nur auf Bildschirmen.
Das (relativ) neue Boom-Medium des Moments
sind unbestritten Podcasts.
Jeder hört sie.
Jeder für sich.
Nebenbei oder zum Einschlafen.
Man muss in keine Gesichter schauen,
nichts lesen, nicht weiterscrollen.
Und weiß trotzdem,
was Fakt ist.
Bei allem.
Meinungen werden nicht mehr gebildet,
sie sind konsumier-
und kommentierbarer Content.
Abertausende kleine Frauen und Männer
sprechen in Millionen Ohren,
stundenlang.
Jeder hat seine ganz persönlichen Hörsäle,
seine eigenen Stammtische,
seine privaten Salons,
lässt sich alles erklären,
für jeden Horizont
gibt es Fluten von Information.
Die entsprechenden Hintergründe
liefern uns dann
ungezählte Karten und Statistiken,
auf und in denen alles
bis aufs kleinste zerlegt und festgehalten ist.
Das scrollt sich nebenbei so weg,
während bei „Fest und Flauschig“
über den Unterschied
von Virologie und Epidemiologie
sinniert werden könnte,
was man aber nicht weiß,
man kann ja schließlich nicht alles hören.
Die Professoren an den Unis
können sich schon mal frisch machen.
Im nächsten normalen Semester
sitzen nur noch universalgelehrte
Absolventen der Spotify-
und Blinkster-Institute
in den frisch desinfizierten Bankreihen.
Und die interessieren sich nicht mehr
für Schnee von gestern.
Für die sind Wetterkarten
anachronistischer Ballast,
die sind es schon gewöhnt,
Pandemiekarten zu studieren.
Die sind voll bis oben
mit sogar überflüssigem Wissen.
Für die ist das Humboldt-Forum
eine No-Go Area
und Drostens Podcast
das Wort zum Sonntag.
Für die ist die Gretchenfrage
nicht mehr irgendwas mit Religion,
sondern wie man es mit dem Impfen halte,
oder mit der Müllvermeidung.
Die tragen Atemschutz statt Regenschirm
(wozu gibt es sonst Hoodies?).
Die wissen,
wie lächerlich klein
die ersten Chargen der Vakzine sind,
wie lang der Weg zur Normalität noch ist.
Die stimmen sogar wieder dem Papst zu,
wenn der um eine gerechte Verteilung bittet;
es ist selten ein gutes Zeichen ist,
wenn der Papst um etwas bitten muss.
Und die erkennen,
wie heuchlerisch das Verhalten der Hersteller ist,
die jetzt eben doch auf Patentrechte pochen,
anstatt die Formel einfach freizugeben.
Kurz, Menschen die nachdenken,
die eben nicht nur konsumieren
oder nachplappern.
Die die Schnauze gestrichen voll haben
von Desinformation,
gelenkter Meinung
und Diskursverschiebung.
Die wieder Bock auf klare Aussagen haben.
Die heulend mitverfolgen müssen,
wie eine sinnvolle Maßnahme nach der anderen
bis zur Unmöglichkeit verschleppt wird.
Sei es die Umsetzung der Energiewende
oder der Beschluss von Finanzhilfen,
oder die Durchsetzung sinnvoller Hygienekonzepte.
Wenn auf der anderen Seite
wie selbstverständlich
Kriegsverbrecher begnadigt
und Hinrichtungen vorangetrieben werden,
und zwar im ehemaligen (und künftigen)
Vorzeigeland der modernen Demokratie,
den USA,
was bitte sollen die denn
dann noch ernst nehmen?
Aber bis es soweit ist,
müssen die und wir
uns noch weiter darin üben,
den neuen Survivalskill zu beherrschen,
den es anscheinend braucht:
Geduld.
Um eben nicht anzufangen,
nur noch quer zu lesen,
quer zu hören,
quer zu denken,
sondern sich Zeit zu nehmen,
nach zu denken.
Und um unsere Zeit nicht
mit Stadtspaziergängen zu verschwenden,
an deren Ende dann Bullshit
auf überdimensionierten Bühnen verbreitet wird.
Man sollte mal anfangen,
die Teilnehmerzahl
auf solchen „Demonstrationen“
mit den Hörerzahlen
von Podcasts zu vergleichen.
Das Bild der öffentlichen Meinung
würde sich schlagartig anders darstellen.
Denn solange es die Bilder
der Altgestrigen sind,
die die Öffentlichkeit dominieren,
kann sich der Bundespräsident
hundert mal einreden,
dass das Virus uns nicht auseinandertreibt.
Hoffnung gibt nur,
dass die schweigende Mehrheit
eben nicht still zustimmt,
sondern sich stumm
auf die Zeit danach vorbereitet.
Die Durchhalteparolen
sind immer nur
einen Swipe entfernt.
Und überhaupt: Demonstrationen.
Was machen wir denn als Zivilgesellschaft noch,
wenn wir auch mal was fordern wollen,
Verteilungsgerechtigkeit,
zum Beispiel.
Was machen wir nach einem Jahr,
in dem nur die Unbelehrbaren
noch auf die Straßen gezogen sind,
und das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit
derart ad absurdum geführt wurde?
In dem die Klugen dringeblieben sind,
oder nur mal kurz
eine kleine Gegendemonstration besucht haben.
Hier im Internet
scheinen die Bildungsresistenten
ja auch bloß die Übermacht zu stellen:
Unzählige Schafe,
die was von Aufwachen blöken.
Und die sich nicht etwa
daran stören,
dass in den alpinen Skigebieten
die Pisten schon wieder geschlossen werden,
weil einfach zu viele Vergnügungsjunkies
wenigstens den sportlichen Aspekt
des Winterurlaubs nicht missen möchten,
wenn ihnen schon der Exzess
an den Abenden verwehrt bleibt,
sondern die sich darüber aufregen,
dass jetzt doch die CO2-Steuer kommt
und sich ihr Diesel
langsam nicht mehr rechnet.
Eine Antwort darauf gibt es nicht.
Es gibt Hundertausende.
Und hier ist meine,
so abgedroschen
und wenig überraschend
wie wahr:
Bildung.
Also Hilfe zur Selbsthilfe.
Kein stumpfes Reinpauken von Fakten,
die morgen schon wieder Vergangenheit sind.
Sondern viel mehr,
frei nach Adorno:
Erziehung zur Solidarität,
also vor allem Selbsterziehung.
Für meine Profession
würde das, zum Beispiel
die Einführung eines
neuen Aus- und Weiter-
bildungszweigs bedeuten, nämlich:
Krisenpädagogik.
Wenn wir eins gelernt haben,
dann dass wir viel zu schlecht
auf echte Krisen reagieren,
auch und sogar
wenn wir sie kommen sehen.
Über das Chaos an den Schulen
in diesem Jahr
werden noch genug Bücher geschrieben,
wenn wieder Gras über die Unfähigkeit
gewachsen ist.
In denen steht dann hoffentlich auch,
wie wichtig es ist,
Wissen mit sozialen Kompetenzen
und humanistischen Werten
zu verknüpfen.
Damit wir in Zukunft nicht sofort
unser Mitgefühl und unsere Solidarität vermissen,
wenn der Schuh mal wieder drückt.
Damit wir keine sinnlosen Debatten mehr
über Impfprivilegien führen müssen,
wenn klar sein sollte,
dass Gerechtigkeit eben
keine Sonderrechte vorsieht.
Und damit keine verblendeten Arschlöcher
mehr auf die Idee kommen,
der Menschheit etwas gutes zu tun,
indem sie versuchen,
Minderheiten zu terrorisieren.
Und damit die Strafverfahren
gegen solche Asis
nicht mehr Jahre brauchen,
auch wenn am Ende
gerechte Urteile gefällt werden.
Am Beispiel des inzwischen
vermutlich gefassten „Gröpern-Mörders“
werden wir mitverfolgen können,
wie schnell uns das gelingt.
Über den Herbst
war der Mord
auf offener Straße
schon lange wieder
kein Thema mehr,
die meisten Vermutungen hatten sich zerstreut.
Nur das Antiquariat in der Blasiistraße
kam nicht aus der Gerüchteküche raus.
Und steckt jetzt umso mehr mit drin,
also wenn man den Gerüchten glaubt.
Was Drogen so anrichten können…
So, genug abgeschwiffen,
die letzte Folge vor der Staffelpause
muss auch mal ein Ende haben,
nicht dass mir hier noch einer
Oberlehrertum unterstellt.
So stilecht wie möglich
soll eine kleine Fabel
das Jahr und die Folge abrunden:
An diesem Wochenende
wurde ich gleich doppelt
zum unfreiwilligen Opfer
eines Promipodcasts,
nämlich ganz klassisch im Radio.
MDR-Kultur sendete an beiden Tagen
ein viel zu ausführliches Interview
mit dem Aspekte-Moderator
und inzwischen auch Buchautoren
Jo Schück; und nein,
es liegt kein Verwandtschaftsverhältnis vor.
Sogar laut seinem Interviewpartner
versteigt sich der selbsternannte
Sozialpsychologe Schück
zu der These,
es solle ein
Freundschaftsministerium geben.
Die Feststellungen,
die ihn zu dieser
bekloppten Erkenntnis geführt haben,
und die in seinem Buch
nachzulesen sein sollen,
klingen im Radio
so selbstverständlich,
dass ich zwei mal
nach nur wenigen Minuten
wieder ausgeschaltet habe.
Freundschaft ist also existenziell?
Und sogar noch wichtiger als Liebe?
Sag bloß! Jo.
Als ob das nicht das gleiche ist.
Podcasts über Bücher
aus dem letzten Frühling,
die auf unglaublich
publikumsfreundlichen 250 Seiten
Binsenweisheiten für 15 Euro
zu Markte tragen,
sind wohl kaum ein Beitrag zur Solidarität,
sondern nur überflüssige Belehrung.
Und davon haben wir mehr als genug.
Deswegen:
Podcasts, Schmodcasts!
Das ist was für wenig telegene
Besserwisser, die nur zu faul sind,
mal ein bisschen mehr zu schreiben.
Es geht immer noch exklusiver,
nicht wahr?
Denn das hier waren bis heute
zwar noch keine 2020 Seiten,
dafür aber fast exakt 222,
für ganze 0 Euro.
Je mehr ihr davon gelesen habt,
desto größer ist mein Dank.
Klickt wieder rein,
im nächsten Jahr,
ich würd‘ mich freuen.
Bis dahin bleibt gesund
und mistet den Lehrplan
auf euren Playlisten mal aus.
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