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High Hopes (S4:Ep9)

von | 2021 | 13. Januar | Die Serie, Staffel 4 - The times they are a changing

„In den finsteren Zeiten,
wird da auch gesungen werden?
Da wird auch gesungen werden.
Von den finsteren Zeiten.“

(Bertolt Brecht. 1938.)

So,
2021 also.
Kaum 2 Wochen alt,
und schon wieder reif
für die Tonne.
So zumindest die einhellige Meinung
hier im Internet.
Viel mehr als Hoffnung bleibt vorerst nicht,
denn berechtigte Zuversicht
ist auf Ostern verschoben (frühestens).
Zu hoffen gibt es aber
gerade dann besonders viel,
wenn die Nacht am dunkelsten ist,
sagt man zumindest so.
Doch selbst, wenn das Sonnenlicht
den Schnee zum Glitzern bringt,
und alles noch heller erscheint,
macht sich doch so langsam
auch bei den Berufsoptimisten
Hoffnungslosigkeit breit.

In einem solchen Zustand
den Faden einer Chronik wiederaufzunehmen,
ist genauso schwer,
wie ich mir das immer vorgestellt hatte.
Weswegen ich auch heute
mit dem Versprechen brechen muss,
nur noch einmal die Woche zu schreiben,
sorry, not sorry.
Und nichts würde ich lieber tun,
als einen hoffnungsvollen Einstieg zu finden.
Oder wenigstens einen Gag,
der nicht sofort wieder verdächtig ist,
unpassende Heiterkeit zu verbreiten.
(Versuch:
Was bekommt man,
wenn man 2021 bei wish bestellt?
Richtig, 2020,
nur in schlechterer Quali.)
Ja, klar ist zumindest die Pandemie
irgendwann wieder vorbei.

Aber jetzt stehen nun mal
die härtesten sechs bis acht
bis zehn Wochen an,
und die letzten drei waren
schon heftiger als alle anderen davor.
Berlin, zum Beispiel,
hat momentan eine 7-Tagesinzidenz
von über 200,
Tendenz weiter steigend,
ein Drittel aller Intensivbetten
ist mit Covid-19 Patienten belegt.
Im Kanzleramt wird
am Dienstag schon gemutmaßt,
der Lockdown gehe mindestens bis Ostern,
die Presse sticht das durch,
damit sich alle schon mal
dran gewöhnen können,
bevor es dann bald verkündet wird.
Damit sämtliche Bürgerbewegungen
oder Einzelpersonen
das Internet mit
Empörung,
Enttäuschung,
(V)Erklärung,
Durchhalteparolen,
oder stumpfer Pöbelei und Hass
überziehen können,
während in den Krankenhäusern
der Krisenmodus Normalzustand ist.

Oh, Moment, London ruft gerade an.
„Was, bei ihnen ist es noch viel schlimmer?
Das Chaos, das viele vorausgesagt hatten,
ist tatsächlich eingetreten?
Wirklich?
Der Brexit war eine Scheißidee?
Ehrlich?
Entschuldigen sie meinen Zynismus,
er ist genauso arrogant wie wohltuend.“

Für die Chronik:
Das Gesundheitssystem in London
ist zu diesem Zeitpunkt
bereits am Zusammenbrechen,
die britische Hauptstadt
hat eine 7-Tagesinzidenz von
über 1.000,
ups, nein, sorry, ich höre gerade,
das muss 10.000 (sic!) heißen.
Nicht nur auf den Intensivstationen
sind die Umstände entsprechend hoffnungslos:
Tausende Patienten werden vorzeitig
in leerstehende Hotels entlassen.

Seit einigen Tagen
ist der Katastrophenfall ausgerufen.

Ich könnte jetzt ewig so weitermachen,
und das noch wochenlang,
mit immer höheren Zahlen.
Oder ich könnte,
ganz hoffnungsvoll,
erst dann wieder über Zahlen schreiben,
wenn die wirklich deutlich runtergehen.
„Corona“ zumindest hier
für ein paar Wochen ausblenden,
denn unseren Alltag bestimmt die Pandemie
auf die eine oder andere Art sowieso;
sei es als ernstes Dauerrisiko
oder als „Diktatur“.
Bleiben wir kurz bei letzterer,
das Thema eignet sich
nämlich hervorragend
zur Angstbewältigung.

Und das anscheinend unabhängig davon,
ob man sich (eher) im „Widerstand“ verortet,
oder, wie ich, als „treuer Systemling“
(aka links-grün versiffter,
antifasympathisantischer
und halbwegs aufgeklärter Normalo)
beschimpft wird.
Die einen wähnen sich
der wirklichen Wahrheit auf der Spur,
und versuchen so,
mit der wahren Wirklichkeit klarzukommen.
Truther werden die allgemein genannt.
Menschen, für die die Wahrheit
eher so eine Art Glaubenssache ist.
Im Grunde hoffen die ja auch nur.
Nämlich, dass das alles gar nicht so schlimm ist,
weil es eben nur eine riesen Verschwörung ist.
Man müsse einfach nur alle Verschwörer
irgendwie loswerden,
dann wäre wieder alles gut.
Und dazu lassen die sich ne Menge einfallen,
richtig geiles, revolutionäres Zeug:
Für irgendwann nach Silvester
wurde der trutherische „D-Day 2.0“ angekündigt,
der (Wieder-)Einmarsch in die Normalität.
Blöd war nur,
dass dieses Staatsfernsehen (i.e. #zdfmagazin)
den „Querdenkern“ kurz vorher noch mal
Licht ans Rad gemacht hat.

Nur ein paar Tage später hat
Vorquerdenker Michael Ballweg
den vorzeitigen Rückzug verkündet,
und von der totalen Infrastrukturblockade
sind lediglich ein paar Autokorso-Runden
auf ein paar Autobahnkreuzen geblieben.
Nicht mal der Verkehrsfunk
hatte einen Grund darüber zu berichten.
Auch der empörte Besuch
beim sächsischen Ministerpräsidenten
(ca. 30 Leute)
wird wahrscheinlich als
Sturm auf das Grüne Gewölbe
in die Truther-Geschichte eingehen.
Und die wird bekanntlich
im Internet geschrieben.
Frei nach dem Motto:
„Seht ihr!
Vor diesem Lockdown
haben wir schon im Sommer gewarnt!
Alles wird wahr!
Impfpflicht,
Ausgangssperren,
Überwachung.“
Und das sind noch die seriösen,
die ignorieren den wirklichen Grund
für sämtliche Maßnahmen nur.
Richtig pervers
sind die ganzen Hategrinser,
denen gar nichts anderes mehr einfällt,
als jede Meldung über die Pandemie
mit Lachsmileys zu kommentieren,
und für die, wie immer,
alles nur ein großer Witz ist,
den man erst dann verstanden hat,
wenn man drüber lacht.

Wir Nicht-Truther
versuchen es dagegen
mit unbeirrbarer Hoffnung
und vernünftig-schlichter Akzeptanz,
die allerdings immer mehr
zu einem Euphemismus
für Gewöhnung und Fatalismus wird,
angesichts des Ausmaßes der Krise.
Letztes Jahr um diese Zeit
hab ich ganz tapfer
was von Aushalten als Tugend
geschrieben.

Worte, deren Erfüllung
ich mir so schwer nicht vorgestellt hatte,
und da war von Pandemie
erst in den aller hintersten Ecken
der Labore die Rede.
Eine Hoffnung war damals,
zum Beispiel,
dass nächstes Jahr um diese Zeit
(also heute),
wenigstens dieser Quatsch
mit den Truthern durch sein wird.
Wenn alle Hoffnungen sich erfüllt haben,
und der Messias der Thruther
ganz ordentlich abgewählt ist.
Dann, ja dann,
würde eine Welle der Resozialisierung
um die Welt gehen,
alle Trumpkopien,
von Orban, über Bolsonaro und Johnson,
weiter zu Merz und Hildmann,
und bis hin zu Erdogan.
Einer nach dem anderen
müsste die Weltbühne verlassen,
und alles würde wieder gut.
So war der Plan.
Jetzt, eine Woche vor dem Moment,
da ein neuer US-Präsident vereidigt wird,
ist aber erst mal wieder
schwarze Nacht.
Nimmt man die Bilder und Nachrichten ernst,
ist die Gefahr eines wirklichen Bürgerkriegs
seit 1865 nie höher gewesen.
Jeden Tag kann es losgehen,
im Internet wird für alle 50 Staaten
zum Sturm auf Regierungsgebäude aufgerufen.
Die Frage ist nicht ob,
sondern nur noch wo es knallen wird.
Mit seiner Rede vor dem Kapitol
hat der Frisurensohn
die Büchse der Pandora endlich geöffnet,
und da hilft es auch nichts mehr,
wenn alle social media Plattformen
das Spiel nicht mehr mitspielen
oder ehemals Getreue sich viel zu spät
gegen ihn wenden.
Das Fußvolk ist bereit und willig.
Für die ist auch das zweite Impeachment
nicht etwa die logische Konsequenz,
sondern eben nur ein weiterer Beweis
für die Hexenjagd auf ihren Erlöser.
Facebook, Twitter, Youtube, Google, Apple
(also das Internet)
schalten ihn ab?
Zensur!
Die Deutsche Bank
will keine Geschäfte mehr mit ihm machen?
Boykott!
Der Kongress beantragt die Amtsenthebung?
Meuterei!
Polizei und Militär gehen
schon mal drei Schritte zurück?
Verrat!
Die eigene Partei distanziert sich
(way too little, way too late)?
Hochverrat!
Tja, auch ne „Wahrheit“,
aber eben nicht die Wirklichkeit.

Aber:
In einer Woche, also vielleicht,
wenn das Wochenende
doch keinen nächsten Bürgerkrieg bringt,
sondern nur Bilder und Geschichten
einer Wiederholung als Farce,
wenn der Trutherismus
endlich an sein Ende kommt,
und die Wirklichkeit wieder zu sich selbst,
dann macht auch
das Hoffen
wieder Sinn.

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